# taz.de -- Roman „Schwindende Welt“: Und Sex zwischen Eheleuten ein Trennungsgrund
> In ihrem Roman „Schwindende Welt“ hat Sayaka Murata eine Zukunft
> erschaffen, die ohne Liebe und Leidenschaft auskommt. Die Hauptfigur
> zerbricht daran.
(IMG) Bild: Die japanische Autorin Sayaka Murata
Sex ist so ein Thema, über das alle sprechen, aber irgendwie doch nicht.
Das gilt für öffentliche Diskurse genauso wie zwischen Freund*innen und
in Partnerschaften – die nicht selten über die mangelnde Kommunikation über
die (verlorengegangene) Intimität zerbrechen.
Sayaka Murata spielt in ihrem neu auf deutsch erschienenen Buch
„Schwindende Welt“ mit diesem Tabu, spitzt es zu und dreht es um. Die
Hauptfigur, Amane, lebt in Japan in einer nicht genau definierten Zukunft
ein, zwei Generationen nach uns, Liebe ist ein aussterbendes Modell,
Kopulation für die Fortpflanzung obsolet und sexuelle Annäherung zwischen
Eheleuten ein Trennungsgrund. Amane steht zwischen den Welten – ihre Eltern
haben sie auf traditionelle Weise gezeugt, was sie nur ihren engsten
Freund*innen verrät – und sie selbst will zwar noch ein Kind mit einem
Ehemann, aber keinen Sex mit ihm und trägt in ihrem Prada-Täschchen Bilder
von 40 Liebhabern mit sich herum, die großenteils zur Mangawelt gehören.
In der Hoffnung auf einen Neuanfang rettet sie sich letztlich nach
„Experimenta“, eine Modellstadt à la Brave New World oder Walden Two, in
der Kinder kollektiv aufgezogen werden, Erwachsene alleine in
Ein-Zimmer-Apartments leben und man zum Masturbieren in sogenannte Clean
Rooms geht. Als Amane nicht schwanger wird, zunehmend an der
Gleichförmigkeit der Menschen in Experimenta zweifelt, ihr Mann und sie
sich auseinanderleben und dann auch noch ihre Mutter zu Besuch kommt, wird
aus der vermeintlichen Rettung ein innerlicher Schiffbruch.
„Schwindende Welt“ ist in Japan bereits 2015 erschienen – noch vor Muratas
Romanen „Die Ladenhüterin“ und „Das Seidenraupenzimmer“, [1][die sie
weltweit bekannt gemacht hatten.] In allen drei Romanen setzt sich die 1979
in Japan geborene Schriftstellerin mit gesellschaftlichen Normen
auseinander und dem sozialen Druck, eine Ehe einzugehen und Kinder zu
bekommen. Und es geht um die Stellung der Frau in der japanischen
Gesellschaft sowie um Sexualität.
## Kalte Welt
Während diese Themen in ihren späteren Werken subtiler behandelt werden,
geht es in „Schwindende Welt“ im Grunde um nichts anderes. In der ersten
Szene liegt Amane mit ihrem ersten Freund im Bett, später lernt sie auf
einem Dating-Event ihren zweiten Ehemann kennen. Über ihren Job erfährt man
nur, dass sie in einem Büro arbeitet, in dem es Morgenappelle gibt. Als sie
sich dort einmal mit Kolleginnen unterhält, geht es um Schwangerschaft und
das (veraltete) Modell der Ehe.
Das angestrebte gesellschaftliche Ideal im Japan der Zukunft, das Murata
geschaffen hat, kommt ohne Liebe, Sex und Leidenschaft aus. Es ist eine
kalte Welt, und das soll vielleicht auch der Sprachduktus symbolisieren,
der im Roman überwiegt: distanziert, nüchtern, lakonisch.
Was hingegen etwas unelegant wirkt, sind mehrere eingewobene Erklär-Parts.
Das funktioniert noch, wenn Murata einen Nachrichtensprecher die neuen
Entwicklungen in Experimenta vortragen lässt. Aber teils will man der
Autorin fett „show, don’t tell“ an den Rand schreiben. Beispielsweise dann,
wenn eine Arbeitskollegin zur anderen sagt, was die längst wissen muss:
„Kinderkrankentage gibt es bei uns ja nicht“ – was im Grunde nur dazu
dient, den Leser*innen die Firmenpolitik zu erläutern. Ähnlich ist es,
wenn eine Freundin zu Amane über Experimenta sagt: „Unsere Eltern leben
nicht mehr dort, und wir können nie mehr zurück.“
Lesenswert ist der Roman dennoch: Murata wirft aktuelle und relevante
Fragen über menschliche Verbindungen und Sexualität auf. So diskutieren
Freund*innen im Buch über Co-Elternschaft und den Sinn der
Zweierbeziehung genauso wie über die kapitalistische Verwertung von
Sexualität. Er stellt gesellschaftliche Normen zur Debatte und zeigt, dass
alles auch anders sein kann.
Bei Murata geht die „Schwindende Welt“ nach Amanes Umzug in einer Dystopie
auf. In Experimenta wird jeglicher Funken von Individualität aus den
Bewohner*innen der Modellstadt gelöscht. Alle Kinder haben die gleichen
Frisuren, Kleider und die gleiche Mimik. Alle Männer und Frauen werden
„Mutter“ genannt. Amane passt sich äußerlich vollkommen an, nimmt sich aber
dennoch, was sie – körperlich und emotional – braucht. Dazu gehört auch –
und so verstört der Roman auf den letzten Seiten doch noch auf die Art, wie
es die anderen Romane von Murata tun – sich ihre Art von Familie zu
erhalten und sich Sex zu nehmen, wann (und von wem) sie will.
16 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Johanna Treblin
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