# taz.de -- 20 Jahre nach dem Mord: Hatun Aynur Sürücü unvergessen
> Can Sürücü erzählt, wie es ihm nach dem Mord an seiner Mutter ging. Dass
> er das öffentlich tut, zeigt, wie wichtig Erinnerung an Opfer von Gewalt
> ist.
(IMG) Bild: Mit einer Tanzperformance erinnert die Gruppe „Centre Talma“ an Hatun Aynur Sürücü bei einer Gedenkveranstaltung zum 20. Todestag
Selten melden sich Betroffene von Gewalt öffentlich zu Wort. Und so kennen
wir inzwischen zwar manchmal die Namen von Frauen, die von ihren Partnern
oder nahen Angehörigen umgebracht wurden. Auch bemühen sich Initiativen um
Aufmerksamkeit für ihre Geschichten und erinnern an sie. Doch was Gewalt
gegen Frauen auch mit den Kindern und Angehörigen macht, das erfährt die
Gesellschaft selten von diesen selbst. Generell ist das auch gut und
richtig so, um die Betroffenen zu schützen und auch, um ihnen den Weg
zumindest zu ebnen in ein Weiterleben ohne ständige Konfrontation mit dem
Trauma.
Deshalb ist es so berührend, dass [1][Can Sürücü aktuell in den sozialen
Medien von seinem Leben erzählt]. Er ist der Sohn der 2005 ermordeten Hatun
Aynur Sürücü. Ihr jüngster Bruder hatte die damals 23-Jährige unter einem
Vorwand eines Abends zu Hause abgeholt. In der Nähe ihrer Wohnung tötete er
die Schwester dann mit mehreren Schüssen. Der Familie hatte es nicht
gepasst, dass sie sich aus der erzwungenen Ehe befreit hatte und ein Leben
nach ihren eigenen Vorstellungen führte. Ihr Sohn Can war damals 5 Jahre
alt.
In Videos, die Can Sürürcü nun auf Youtube, Instagram und TikTok
veröffentlicht, läuft er durch Berlin und erinnert sich an seine Kindheit.
Und Tausende nehmen Anteil und sehen ihm dabei zu. Er besucht den
Spielplatz in Tempelhof, auf dem er als Kind gespielt hat, und er geht
sogar in die Wohnung, in der er damals mit seiner alleinerziehenden Mutter
lebte. Er steht am Fenster in der Wohnung am Bärenpark in Tempelhof, in die
die jetzige Bewohnerin ihn netterweise hereingelassen hat. So wie als
5-Jähriger in jener Nacht, in der seine Mutter sagte, ich gehe noch mal
kurz runter. Es war das letzte Mal, dass er sie sah.
Dass er sich nun zurückmeldet und seine eigene Geschichte erzählt, hat Can
Sürücü selbst entschieden. In den Videos begleitet ihn ein Freund in einer
Art Best-Buddy-Format. Der Freund fragt nach, sehr zurückhaltend, er gibt
Can den Raum, auch mal einfach einen Ort oder eine Erinnerung auf sich
wirken zu lassen. In anderen Videos stellt er Fragen aus der Community.
„Ramo und Cemo“ hängen außerdem auf der Plattform Twitch ab und beantworten
dort live auch einfach mal Fragen nach Parfümvorlieben. Follower*innen
überhäufen ihn mit ermutigenden Kommentaren. „Wir haben uns immer gefragt,
was aus dir geworden ist“, schreiben viele. Oft ist dort zu lesen: „Deine
Mutter war so eine starke Frau. Sie wäre so stolz auf dich.“
## Es braucht eine Gesellschaft, die zuhört
Und Can Sürücü erzählt. Er erzählt von seiner Mutter, von einem glücklichen
Leben als Kind. Er erzählt vom Aufwachsen in der Adoptionsfamilie, bei der
er ein gutes Zuhause fand. Aber auch vom Absturz, als er mit 14 die ganze
Geschichte erfuhr, und wie er sich aus eigener Kraft wieder daraus
herausarbeitete. Er erzählt von seinem Schmerz und der Trauer und was der
Verlust mit ihm auch heute noch macht. Das Jugendamt hatte Can Sürücü in
eine Adoptivfamilie gegeben, in Reutlingen, wie wir inzwischen von ihm
wissen. Dort wuchs er unter anderem Namen auf. Jeder Kontakt zur Familie
seiner Mutter oder auch zu ihren Freund*innen oder
Wegbegleiter*innen war untersagt – zu seinem Schutz.
Unterdessen haben [2][Initiativen, aber auch Politiker*innen und die
Verwaltung die Erinnerung] an Hatun Aynur Sürürcü 20 Jahre lang lebendig
gehalten. Jedes Jahr versammeln sich Menschen zu ihrem Todestag am
Gedenkstein in Tempelhof. Es gibt einen Preis für Projekte, die
Selbstbestimmung unterstützen, der ihren Namen trägt. Auch Schüler*innen
erfahren in Projekten von ihrer Geschichte, Kanäle in den sozialen Medien
und auch ein Film beschäftigen sich mit ihr.
Can Sürücü kann seine Geschichte nun auf seine Weise erzählen. Doch dazu
braucht es eine Gesellschaft, die zuhört. Dass er mit Zuneigung,
Anteilnahme und Liebe überhäuft wird, hat auch damit zu tun, dass sehr
viele Menschen Hatun Aynur Sürücü und ihre Geschichte immer noch kennen. Es
zeigt, dass Erinnerungskultur mehr ist als ein sperriges Schlagwort für
Projektanträge. Eine Gesellschaft, [3][die die Opfer von Gewalt erinnert,
die nicht zulässt, dass Gewalttaten vergessen werden], die schafft damit
ein Umfeld, in dem die Betroffenen Gehör finden. Und auch wenn das nichts
wieder gut macht, ist es dennoch immens wichtig.
Wichtig ist aber auch, dass diese Arbeit von allen gemeinsam geleistet
wird. Es ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, die sich mit jedem
Mord und jedem Femizid, jeder Gewalt gegen Frauen neu stellt. So, wie an
Hatun Aynur Sürücü erinnert wird, müsste die Gesellschaft an jede Frau
erinnern, die ermordet wurde, weil sie eine Frau ist. Denn es ist leicht,
direkt nach der Tat von extremer Gewalt empört zu sein. Doch der lange Atem
danach, das beständige Erinnern an diejenigen, die das Leid erfahren haben,
das ist es, was am Ende wieder zusammenführen kann und schützt.
6 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Uta Schleiermacher
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