# taz.de -- Femizid an Hatun Sürücü: Der verlorene Sohn meldet sich bei Youtube
> Can Sürücü, Sohn der vor 20 Jahren von ihrem Bruder ermordeten Hatun
> Aynur Sürücü, erzählt erstmals seine Geschichte. Dafür bekommt er viel
> Zuspruch.
(IMG) Bild: Can Sürücü erzählt von seinem Leben nach dem Mord an seiner Mutter
„Ich bin Can Sürücü“, sagt der junge Mann in einem Video. Und allein mit
diesem Satz, allein mit seinem Namen, hat er schon einen großen Teil seiner
Geschichte erzählt. Denn der Mittzwanziger, der sich nun gemeinsam mit
einem Freund auf YouTube und Tiktok zu Wort gemeldet hat, ist der Sohn von
Hatun Aynur Sürücü, die 2005 von ihrem jüngsten Bruder getötet worden war.
[1][Sie hatte sich aus Zwängen ihrer Familie befreit und ihr Leben selbst
nach ihren Vorstellungen gestaltet]. Der Bruder erschoss sie an einer
Bushaltestelle vor ihrem Wohnhaus in Tempelhof. Ein Femizid, gedeckt von
der Familie, vorgeblich im Namen der Ehre.
Can Sürücü war fünf Jahre alt, er stand kurz vor seinem 6. Geburtstag als
er seine Mutter verlor. Das Jugendamt brachte ihn bei Adoptiveltern unter.
Der Familie Sürücü war jeder Kontakt untersagt, und auch Freund*innen
seiner Mutter wussten nicht, wo Can unter neuem Namen lebte. Und nun, gut
20 Jahre später, kommt er zurück nach Berlin. Er steht wieder an den Orten,
an denen er als Kind gespielt hat. Und er erzählt seinen ganz eigenen Teil
der Geschichte, den Teil, den bisher niemand kannte.
„Ich zeige euch meine Gegend, wo ich mit meiner Mutter gelebt habe“, sagt
Can Sürücü in einem seiner Videos. Er steht in einer Grünfläche, im
Hintergrund sind Wohnblocks zu erkennen, und er zeigt auf eines der Häuser,
dort habe ein Freund gelebt, der ihm aus dem Fenster zurief, wenn er ihn im
Park sah. „Ich wollte das Video einfach mal hier beginnen, weil ich dachte,
das ist ein guter Platz, wo wir anfangen können“, sagt er. „Das war so die
Ecke, wo ich als Kind groß geworden bin.“
## Kindheit in Tempelhof
Sürücü zeigt den Spielplatz neben dem Park, den Kindergarten auf der
anderen Straßenseite, rund um den Bärenpark in Tempelhof, wo er mit seiner
Mutter lebte.
Er erzählt, dass er hier Freunde gefunden und seine Liebe zu Anime entdeckt
hat. Einmal habe ihm ein Junge sein neues Skateboard geklaut. Seine Mutter
habe es zurückgeholt. „Das war so ein richtiger Heldenmoment“, sagt er.
Die Geschichte von dem Skateboard und von seiner Kindheit erzählt Sürücü
auch auf dem Kanal des [2][Youtubers Said Ibrahim]. Wie es ihm nach der Tat
erging erzählt er Ende September erstmals als Gast [3][im YouTube-Format
Besuchszeit].
Und er erzählt von seinem Leben nach dem Mord seiner Mutter. „Diese Nacht
wird mich mein ganzes Leben verfolgen“, sagt er. Wie er schon im Bett lag.
Wie die Mutter gesagt habe, sie gehe nur kurz runter, wie er sie noch aus
dem Fenster mit dem Onkel habe weggehen sehen. Wie dann später die Polizei
in die Wohnung gestürmt sei, wie zwei unbekannte Frauen ihn mitgenommen
hätten. Auf die Frage, wo seine Mutter sei, habe er in der Nacht und auch
in der Zeit danach erstmal keine Antwort bekommen. „Sie kommt bald wieder“,
hätten Leute zu ihm gesagt. Er kam zu einer Adoptivfamilie nach Reutlingen.
Die Familie seiner Mutter habe versucht, das Sorgerecht für ihn zu
bekommen. Aber das hätten die Behörden verhindert. Zum Glück, wie Sürücü
auch sagt. „Purer Hass“, das sei das Gefühl, das er für die Familie heute
empfinde. Erst als er 14 Jahre alt war, hätten ihm die Adoptiveltern seine
Geschichte offenbart. Und er habe daraufhin erstmal einen Absturz mit
Drogen und Depressionen erlebt.
Hatun Aynur Sürücü, in Berlin geboren und aufgewachsen, war von ihrer
kurdischen Familie in Istanbul in eine Ehe mit einem Mann gezwungen worden.
Sie befreite sich daraus, kam zurück nach Berlin, wo sie ihren Sohn allein
groß zog, in einer eigenen Wohnung lebte und eine Lehre als
Elektroinstallateurin absolvierte. Bis sie ihr jüngster Bruder am 7.
Februar 2005 mit drei Kopfschüssen aus einer Pistole tötete. An der
Bushaltestelle in der Nähe ihres Wohnhauses in Tempelhof erinnert heute ein
Gedenkstein an die junge Frau. Die Tat hatte damals bundesweit Entsetzen
ausgelöst und war als sogenannter „Ehrenmord“ diskutiert worden.
## Anerkennung und Liebe
Nun erzählt Can Sürücü von sich und seinem Leben in Videos, die er unter
dem Accountnamen [4][Ramo und Cemo] gemeinsam mit einem Freund auf Tiktok,
Instagram und YouTube veröffentlicht. Er zeigt, was die patriarchale
Gewalt, die seiner Mutter das Leben kostete, auch mit ihm gemacht hat. Und
er bekommt dafür sehr viel Anerkennung, Zuspruch und Liebe.
„Lieber Can, ich hab mich immer gefragt was aus dir geworden ist“, schreibt
eine Nutzerin. „Respekt, dass du darüber redest und deine Gedanken teilst
und an den Ort zurückgehst.“ Sie wünsche ihm viel Kraft und Stärke. „Wir
haben 20 Jahre auf dich gewartet“, „wir haben uns immer gefragt, was aus
dir geworden ist“, schreiben andere. „Man fühlt sich mit dir verbunden,
ohne dich je gesehen zu haben“, steht unter einem anderen Video. Noch im
vergangenen Februar hatte die Schwägerin von Hatun Aynur Sürücü gesagt,
dass sie Can gern von seiner Mutter erzählen würde. Sie hatte sich von der
Sürücü-Familie losgesagt.
Andere Youtuber versuchen nun anscheinend, mit auf das Thema aufzuspringen.
Der Kanal „Milchgesicht“ hat ein Telefoninterview mit dem verurteilten
Mörder veröffentlicht. Er lebt inzwischen in der Türkei. In dem Video
plaudern die Youtuber mit ihm wie mit einem ganz normalen Gesprächspartner,
etwa darüber, ob er die Strafe gerechtfertigt fand. Hatun Aynurs Bruder war
[5][damals zu 9 Jahren und sechs Monaten Haft] verurteilt worden.
## Grabstätte in Spandau
Das Grab von Hatun Aynur Sürücü befindet sich auf dem Landschaftsfriedhof
Gatow in Spandau. Zum 20. Todestag im Februar war unklar, wie es mit der
Grabstätte weitergehen wird, weil der Nutzungsvertrag für das Grab nach
dieser Zeitspanne abläuft. Der [6][Bezirk hatte beim Land angeregt, das
Grab in ein Ehrengrab] umzuwandeln. Dann hätte der Bezirk die Kosten für
die Pflege übernommen.
Das Land hingegen lehnte den Vorschlag ab. Der Senat argumentierte, dass
Ehrengräber Personen vorbehalten seien, die zu Lebzeiten „hervorragende
Leistungen mit engem Bezug zu Berlin erbracht oder sich durch ihr
überragendes Lebenswerk um die Stadt verdient gemacht“ hätten. Eine
abschließende Lösung für das Grab ist weiterhin noch nicht gefunden.
Das Schicksal von Hatun Aynur Sürücü aber bewegt weiterhin viele Menschen.
Jedes Jahr legen [7][Menschen an ihrem Todestag Blumen am Gedenkstein] ab.
Berlin hat eine Brücke nach ihr benannt. Schüler*innen beschäftigen sich
mit ihrer Geschichte, und [8][die Initiative Heroes spricht an Schulen mit
Jugendlichen über Männlichkeitskonzepte]. Auf Tiktok halten
Creator*innen die Erinnerung an sie hoch. Can Sürücü zeigt sich in
seinem Video davon überwältigt. „Ich habe auch gar nicht damit gerechnet,
dass es immer noch so viele Leute interessiert“, sagt er. „Ich bin echt
sprachlos, dass es immer noch so ein großes Thema ist.“
1 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] /20-Jahre-nach-dem-Sueruecue-Mord/!6063936
(DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=dPkyPSOiJ9Y
(DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=tF5rhzPGFO8
(DIR) [4] https://www.tiktok.com/@ramocemo99
(DIR) [5] /Freispruch-der-Sueruecue-Brueder/!5411212
(DIR) [6] https://www.tiktok.com/@ramocemo99
(DIR) [7] /Todestag-von-Hatun-Sueruecue/!5074052
(DIR) [8] /Gedenken-an-Hatun-Sueruecue/!5830584
## AUTOREN
(DIR) Uta Schleiermacher
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