# taz.de -- Weihnachtsessen in Frankreich: Wenn Apfelplantagen Weinbergen weichen
       
       > Die Normandie ist berühmt für Cidre, Calvados und Meeresfrüchte. Doch der
       > Klimawandel verändert Land und Meer.
       
 (IMG) Bild: An der Küste bei Granville in der Normandie: der Klimawandel verändert das Land und das Meer
       
       Franzosen und Französinnen essen gern, essen gut. Wunderbar
       verallgemeinernde Sätze, die, wie alle Klischees, einen wahren Kern haben –
       zumindest für diejenigen in Frankreich, die es sich leisten können.
       Besonders in Küstennähe mag man Fisch, und besonders beliebt sind
       Meeresfrüchte, ob Langusten oder Garnelen, Krabben oder Hummer, Seeigel,
       Schnecken, Austern oder Muscheln. Wer einmal in einem Restaurant wagemutig
       „Crudités de mer“ bestellt hat, anschließend vor einem Berg auf Eis
       thronender Meereskrustentiere saß und nicht wusste, mit welchem der
       gereichten filigranen Instrumente er oder sie ihnen zu Leibe rücken sollte,
       wird nicht widersprechen.
       
       Die Ware muss gut und frisch sein. Auch dafür wurden in den vergangenen
       Jahren Gütesiegel [1][und Fangquoten] eingeführt. Sie sind der Versuch, die
       regionale und nachhaltige Fischerei zu stärken und sich am Markt gegen
       Billigimporte aus Drittländern zu behaupten. In der Criée, der riesigen
       Fischauktionshalle der normannischen Hafenstadt Granville, wird
       ausschließlich mit lokalen Erzeugnissen gehandelt. Hier treffen sich
       täglich die Profis, Fischerei- und Zuchtbetriebe auf der einen, Großhändler
       und Restaurantbetreibende auf der anderen Seite.
       
       Einmal im Jahr, am ersten Oktoberwochenende, wenn die Saison der
       Jakobsmuscheln startet, wird die Criée de Granville für alle geöffnet. Die
       Veranstaltung nennt sich „Toute la mer sur un plateau“ (Das ganze Meer auf
       einem Teller), hier fließt der Cidre, werden Austern und Jakobsmuscheln vor
       Ort verköstigt oder in 10-Kilo-Säcken weggeschleppt. Mit dem vermeintlichen
       Chic einer Austernbar im Berliner KaDeWe hat das nichts zu tun; es ist ein
       Volksfest, bei dem am späten Nachmittag Familien auf langen Bänken leicht
       alkoholisiert zusammenrücken, vor sich leere Pappteller und Pappbecher, und
       überlegen, ob sie wirklich gegen den Wind draußen den Weg nach Hause
       antreten sollen. Allein zum diesjährigen Festival kamen 25.500
       Besucher:innen. 22 Tonnen Muscheln und Krustentiere wurden verkauft, davon
       16 Tonnen Jakobsmuscheln.
       
       Die Coquille Saint-Jacques, benannt nach den mittelalterlichen
       Jakobspilgern, die sie als Erkennungszeichen trugen, ist in Frankreich sehr
       beliebt, sehr begehrt. Sie hat festes, nussig schmeckendes Fleisch, das
       roh, kurz gebraten oder gratiniert genossen werden kann. In der
       Fischauktionshalle von Granville stehen am Festwochenende an langen
       Tischreihen Freiwillige bereit, die die großen Muscheln mit ihrer rötlichen
       Färbung öffnen. Man kann sie gleich essen oder mitnehmen. Zuhause wird das
       Muschelfleisch eingefroren und spätestens Weihnachten oder Silvester
       zubereitet.
       
       Die Normandie ist in Frankreich marktführend bei den Jakobsmuscheln, zwei
       Drittel des Verkaufs stammt von hier. Von Granville aus gehen über den
       Großhandel jedes Jahr 3.200 Tonnen Jakobsmuscheln in die ganze Republik. La
       Manche (Ärmel) heißt das Département, in dem Granville auf einem Felszipfel
       in den Ärmelkanal ragt. Hier stimmt für die Jakobsmuschel so ziemlich
       alles: Wassertemperatur, starker Gezeitenwechsel, sandiger Boden, hohes
       Planktonaufkommen. Bis zu 20 Jahre alt kann die Muschel werden und wie ein
       Baum Jahresringe ansetzen. Gefischt werden darf sie erst, wenn sie nach
       zwei bis drei Jahren eine bestimmte Größe erreicht hat. Der Fang ist streng
       reglementiert; von Mitte Mai bis Ende September soll sie sich in Ruhe
       fortpflanzen können.
       
       Doch [2][trägt der Klimawande]l nicht nur zur Erosion der felsigen, rund
       600 Kilometer langen normannischen Küste bei – der Meeresspiegel könnte bis
       zum Jahr 2100 um einen Meter steigen, die Bunkeranlagen des Zweiten
       Weltkriegs im Meer verschwinden, sagt ein Bericht des IPCC. Gefährdet sind
       auch die Fisch- und Muschelbestände, weil das Meer an Verschmutzung,
       Vergiftung, Versauerung und Versalzung leidet. Die Wassertemperatur ist im
       Zeitraum der letzten 40 Jahre durchschnittlich um etwa 1,5 Grad gestiegen.
       Dadurch entstehen mehr mikrobakterielle Erreger, sie machen die
       wasserfilternden Muscheln besonders krankheitsanfällig, so wie auch
       Algengifte.
       
       „Wir sind in einer Phase des Übergangs“, sagt Laurence Hégron-Macé vom
       [3][Forschungszentrum SMEL in Granville]. „Der Klimawandel gefährdet manche
       einheimischen Arten wie die Wellhornschnecke, andere wiederum kommen
       neuerdings aus dem Mittelmeer bis zu uns: Thunfisch, Tintenfisch,
       Seebarsche. Die Fischer werden sich anpassen müssen.“ Das tut auch die
       einheimische Seespinne, eine Riesenkrabbe mit langen Beinen, die als
       Delikatesse gilt. Durch die wärmere Wassertemperatur verweilt sie nun mehr
       Zeit im Jahr in Küstennähe und frisst sich durch die Bestände der
       normannischen Miesmuscheln und anderer Weich- und Schalentiere. Für die
       Muschelzüchter wird das zunehmend ein Problem, in manchen Jahren büßen sie
       an die 20 Prozent ihrer Produktion ein.
       
       Neuerdings wird die Seespinne wissenschaftlich getrackt. Laurence
       Hégron-Macé steht in Granville an einem Stand, wo sie über ein neues
       Projekt des SMEL informiert. Fischer können die Seespinnen abliefern,
       sobald sie ihnen ins Netz gehen, dann bekommen die Tiere einen GPS-Tracker
       verpasst und werden wieder ins Wasser gesetzt. Sollten sie sich später noch
       einmal fangen lassen, kann man so ihre Wanderrouten nachverfolgen.
       
       Auf den Verkaufstischen in Granville liegen mehrere der Prachtexemplare
       aus, noch lebend bewegen sie ihre Scheren. Zur Zubereitung werden sie wie
       Hummer ins kochende Wasser geschmissen. Zimperlich ist man nicht in der
       französischen Küche.
       
       Ob man in ein paar Jahrzehnten an den Festtagen zum Jahresende Seespinne
       verzehrt statt Jakobsmuscheln oder Schnecken? Oder stattdessen ein Boeuf
       Cidré vorzieht? Denn auch das kommt aus der Normandie. Mit ihrem feuchten,
       aber milden Klima ist sie die am stärksten landwirtschaftlich geprägte
       Region Frankreichs.
       
       Vor allem im Pays d’Auge im Departement Calvados stehen noch viele der
       alten normannischen Fachwerkhäuser mit ihren Eichenholzbalken und einer
       Lehm-Stroh-Füllung. Zwischen Hecken erstrecken sich riesige Apfelplantagen
       und Streublumenwiesen; die braun gesprenkelten Rinder ähneln farblich den
       Fachwerkhäusern. Hier werden die drei normannischen C produziert:
       [4][Camembert] (Rohmilchkäse), Cidre (Apfelwein) und Calvados
       (Apfelschnaps).
       
       Auch an Land sorgt der Klimawandel für Umwälzungen, er macht den
       Apfelbäumen zu schaffen, zugleich gibt es mittlerweile auch professionelle
       Weinbauern in der Normandie. Sébastien Fricker, der aus einer Winzerfamilie
       im Loire-Tal stammt, baut seit drei Jahren eigenen Wein an – Chenon und
       Chardonnay (weiß), Cabernet Franc und Cabernet Sauvignon (rot). Sein Land
       mit den sonnigen Hängen war früher eine Apfelplantage, der Boden ist lehm-
       und kalkhaltig und damit gut geeignet für den Weinanbau. „Im Süden
       Frankreichs ist es oft schon zu heiß“, sagt Fricker, während er die
       Weinlese seiner Leute koordiniert. „Der Wein hier wird fruchtiger,
       aromatischer.“ Ab nächstem Jahr will er mit dem Verkauf beginnen.
       
       Fürs Erste bleibt die Normandie jedoch bekannt für ihren Apfelwein und
       -schnaps. 2025 war ein gutes Apfeljahr. Auf dem Hof der Destillerie der
       Familie Groult hat bereits Mitte September die Ernte begonnen, sie zieht
       sich bis in den Dezember. Zur Straße liegt das Stammhaus des alten Hofs, wo
       Verkostung und Verkauf stattfinden. Weiter hinten erstrecken sich große
       Hallen und Tanks für die Verarbeitung und Lagerung. Draußen liegen im
       Oktober zentnerweise Früchte zum Sortieren und Pressen bereit, ein
       Mitarbeiter kehrt die kleinen Mostäpfel in eine Rinne, rote, gelbe, grüne.
       Sie sind gerbstoffhaltiger, weniger süß als Essäpfel. Für Calvados muss die
       Mischung stimmen: verarbeitet werden 20 Prozent süße, 10 Prozent saure und
       70 Prozent bittersüße Sorten.
       
       Der kleine Familienbetrieb besitzt an die 30 Hektar eigene Apfelplantagen
       mit mehr als 6.000 Bäumen. 35 Sorten werden hier angebaut und verarbeitet.
       Kühe beweiden zeitweise die Obstgärten und düngen so auf natürliche Weise
       den Boden, Fledermäuse gehen auf Jagd des schädlichen Apfelwicklers, Bienen
       aus eigenen Stöcken bestäuben die Blüten. Ein Biolabel haben und brauchen
       sie hier nicht, sagt Firmeninhaberin Estelle Groult. Schon seit frühester
       Kindheit roch es in ihrem Elternhaus intensiv nach Apfel, besonders wenn
       die Pressen arbeiteten. Der Trester (Pressrückstände) wird an die Tiere
       verfüttert.
       
       Die 49-Jährige leitet seit 2022 die Geschäfte und führt auch persönlich
       übers Gelände. „Die Pflege der Obstgärten bedeutet sehr viel Arbeit“,
       erzählt sie. „Wir warten, bis der Apfel vom Baum fällt.“ Cidre produziert
       man hier auch, aber nur für die Herstellung von Calvados. Für den Cidre
       wird der Saft der gemosteten Äpfel in großen Tanks ein Jahr lang natürlich
       fermentiert. Anschließend wird der Cidre in Messingkesseln über Holzfeuer
       destilliert – zweifach. Das ergibt den klassischen Apfelbrand (Eau de vie),
       der anschließend mindestens zwei Jahre in Eichenfässern zu Calvados reift.
       
       Die Familie Groult produziert in fünfter Generation Calvados, und jede
       Generation hat ihren eigenen Fasskeller angelegt. „Wir haben wirklich viel
       Calvados“, sagt Estelle Groult und schließt einen Keller nach dem anderen
       auf. Wobei unter „Keller“ scheunengroße und ungeheizte Gebäude zu verstehen
       sind, darin Fässer in langen Reihen. Die Lagerung in Eichenfässern ist
       wichtig für die geschmackliche Note des Calvados. Groults Großvater erwarb
       riesige Exemplare, die an die 13.000 Liter fassen. Sie seien damals schon
       alt gewesen, erzählt sie. Etwa 40 dieser Fässer gibt es noch heute, man
       braucht eine Leiter, um an ihnen hochzuklettern.
       
       Je älter das Holz, desto geschmacksintensiver ist der Alkohol. Sherry-,
       Portwein- oder Whisky-Fässer liefern jeweils andere Geschmacksnoten. Das
       Holz atmet, der Alkohol kann verdunsten: Das ist der berühmte Angels’
       share, „la part des anges“ auf Französisch. Auch werden die Fässer nie ganz
       geleert, sondern nach Bedarf aufgefüllt. So müssten sich rein rechnerisch
       in den älteren Fässern noch einige Tropfen jahrzehntealter Calvados
       befinden.
       
       Das Weingut bietet Führungen und auch Verkostungen an. „Einen Erlebnispark
       will ich hier nicht machen“, sagt Estelle Groult. Sie will den Betrieb
       nicht vergrößern, sondern die handwerkliche Tradition wahren und mit der
       Zeit gehen. Neu ist der Aperitifwein, eine Mischung aus Apfelsaft und
       gereiftem Calvados. „Autrement Pomme“ heißt er. Apfel anders.
       
       Meerestiere und Cidre oder Calvados gehen bei einem Festtagsessen
       hervorragend zusammen. Cidre lässt sich zu allem trinken, Calvados wird
       gern zur Verdauung vor dem Dessert gereicht. „Remplir le trou normand“ –
       das normannische Loch füllen – heißt es, bevor man weiter isst und trinkt.
       
       Transparenzhinweis: Diese Recherche wurde unterstützt von Normandie
       Tourismus.
       
       25 Dec 2025
       
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