# taz.de -- Familiendrama „Sentimental Value“: Die nicht zur Welt finden
> Regisseur Joachim Trier erzählt in seinem Spielfilm „Sentimental Value“
> alles mehrschichtig. Im Zentrum stehen Menschen, die einander nicht
> lieben können.
(IMG) Bild: Will nicht im Film des Vaters spielen: Nora Borg (Renate Reinsve) in „Sentimental Value“
Familiendramen, auch die schweren, erzählen sich eher leicht. Man muss
wenig erklären, jeder hat eine Familie, und mancher, der keine hatte oder
hat, wünscht sich eine. Andere wollen sie loswerden. Weil das oft
tonnenschwere Konstrukt Kleinfamilie nur sehr selten Geborgenheit ohne Enge
und ungeklärte Verstrickungen bieten kann.
So geht es Nora (Renate Reinsve) in Joachim Triers „Sentimental Value“, die
von ihrem notorisch abwesenden Vater Gustav (Stellan Skarsgård), einem
norwegischen Autorenfilmer, dazu gedrängt wird, in seinem neuen Film die
Hauptrolle zu spielen. Neu heißt, es ist der erste seit 15 Jahren, Gustav
Borg hat seine besten Tage hinter sich. Der Großkünstlerhabitus allerdings
ist geblieben. Im Café erklärt er seiner recht erfolgreich am Theater
arbeitenden Tochter erst einmal ausführlich, inwiefern der Film der Bühne
überlegen ist.
Gustav ist abgehauen, als Nora und ihre Schwester (Inga Ibsdotter Lilleaas)
noch Kinder waren, Ehe kaputt. Um seiner Arbeit nachzugehen und
erfolgreicher Künstler zu werden. Nach dem Tod der Mutter will Gustav im
Haus seiner verstorbenen Ex-Frau sein letztes, ein autobiografisches Werk
drehen.
## Der Vater und seine Töchter
Mit seiner Tochter als Star, die eine Figur spielt, die wiederum an Gustavs
Mutter angelehnt ist, die sich umgebracht hat, 15 Jahre nachdem sie während
der Besatzung Norwegens von den Nazis gefoltert worden war. Nora verweigert
sich, ihre Schwester wiederum durfte als Kind in einem NS-Drama ihres
Vaters eine tragende Rolle spielen und hat diese Zeit in bester Erinnerung.
Endlich hatte er sich damals für sie interessiert, nach Drehschluss war er
wieder weg.
Das ist in etwa die Ausgangslage, von der aus der Regisseur Joachim Trier
ein Familiendrama entfaltet, das zentrale Motive des Genres durchspielt wie
in einer Art Partitur: Entfremdung, Schwesternkonkurrenz, Traumata und der
ewige Wunsch, geliebt zu werden, auch wenn das Elternteil mit seinem
Verhalten eigentlich recht deutlich macht, dass das Interesse an den
eigenen Kindern ein überschaubares ist. Und vor allem dort sich meldet, wo
es sich mit Eigennutz verbinden lässt. In diesem Fall der Nutzbarmachung
der Töchter für die eigene Kunst.
Trotzdem präsentiert [1][„Sentimental Value“, der dieses Jahr in Cannes den
Großen Preis der Jury erhielt], keine Ansammlung von Neurotikerinnen, die
einfach unter einem narzisstischen Arschloch leiden. Es ist komplexer,
wobei Kompliziertheit und Mehrschichtigkeit nicht so sehr vom nicht eben
subtil verfahrenden Skript aus Eingang in den Film finden, sondern von den
Schauspielerinnen und Schauspielern sozusagen zusätzlich eingespeist
werden.
Ein Ensemble, das bis in die kleinste Nebenrolle mit den Figuren immer
wieder qua Mimik und Körperausdruck mehr anstellt, als das Skript
eigentlich vorsieht.
## Die Nebenrollen mit Leben gefüllt
Oder noch mal anders: Joachim Trier verlässt sich zu Recht darauf, dass
seine Leute die paar nicht so zwingenden Aspekte seiner Geschichte mit mehr
Leben füllen, als der Text an sich hat (Renate Reinsve und Anders Danielsen
Lie, der in „Sentimental Value“ die Affäre von Ingrid spielt, haben bereits
in „Oslo, 31. August“ und im ebenfalls [2][in Cannes ausgezeichneten „Der
schlimmste Mensch der Welt“] für Trier zusammen vor der Kamera gestanden).
Die schnell klischierte Figur der Tochter mit Bindungsproblemen, die am
Ende nur die Geborgenheit finden will, die sie in ihrer Herkunftsfamilie
nicht bekommen hat, wird in der Verkörperung von Reinsve zu einem Menschen,
in dem viele Impulse unablässig streiten. Und der zugleich autonom und
abhängig und also in diesem Sinne eine durch und durch ambivalente
Erscheinung ist.
Stellan Skarsgård wiederum spielt den egozentrischen Filmemacher weder als
unverstandenen traumatisierten Schmerzensmann noch als eitles,
alkoholkrankes Großkünstlerarschloch, sondern ebenfalls als eine einzige
Überlagerung, in der auch Liebenswertes und Zartes Platz hat.
## Verarbeitung der Seelen in der Kunst
Das eigentliche Interesse des Films, also die Konstellation, auf die unser
Blick gelenkt wird, sind aber auch nicht die Seelenzustände der Figuren an
sich. Also auch, damit geht es los, und damit hört es auf. Aber der
Prozess, den „Sentimental Value“ auf eine ungemein anrührende Weise erzählt
und beschreibt, liegt sozusagen in der Überführung und Verarbeitung der
Seelen in der Kunst.
Nahezu alles, was der Film erzählt, wird mehrschichtig erzählt: Als
unmittelbares Geschehen (die Mutter ist auf einen Hocker gestiegen und hat
sich erhängt) und als Geschehen vor der Kamera (der Hocker ist von Ikea,
das Bild wird dann am Ende trotzdem funktionieren, was immer das heißt).
Die Schauspielerin Nora agiert ihr Tochtertrauma auf der Bühne aus,
extremes Lampenfieber, ausgerechnet kurz vor der Premiere einer modernen
Interpretation von Tschechows „Die Möwe“. Überhaupt sind die
intertextuellen Verweise in „Sentimental Value“ zahlreich. Nora heißt
bestimmt nicht zufällig Nora, Ibsens „Nora, ein Puppenheim“ ist eine
zentrale Referenz.
## Verflechtung von Leben und Kunst
Auf einer sehr unmittelbaren und auch sehr berührenden Ebene ist
„Sentimental Value“ ein Film über Menschen, denen es nicht gelingt,
einander so zu lieben, wie sie es bräuchten. Wenn Joachim Trier die hier
immer als eine latent verzweifelte gedachte Verflechtung von Leben und
Kunst in den Blick nimmt, wird es nicht nur berührend, sondern auch
aufschlussreich.
Die Film- und Bühnenbilder, durch die Figuren sich bewegen, sind vieles:
Kompensationsmöglichkeiten, eine Gelegenheit, sich in seiner Beschädigung
zu zeigen und sie auszuagieren, aber auch ein Medium der Liebe, die
unmittelbar nicht erfahren werden kann.
Das hat etwas strukturell Narzisstisches. Bewundert und begehrt und vom
Vater geliebt werden zu wollen, gehen bei Nora durcheinander. Gustav
wiederum ist ein Paradenarziss. Trier hat sich schon häufiger um Figuren
bemüht, die in großen Gefühlen, negativ wie positiv, gefangen sind und in
ihrem verantwortungsfreien Um-sich-selbst-Kreisen (und bestenfalls noch um
die eigene Familie und ihre Stellvertreter) nicht zur Welt und schon gar
nicht zum Glück finden.
[3][Der Filmtheoretiker Lars Henrik Gass hat in seinem Buch „Objektverlust.
Film in der narzisstischen Gesellschaft“] Triers Film „Der schlimmste
Mensch der Welt“ als Paradebeispiel eines zurzeit das Arthouse-Universum,
so Gass, dominierenden narzisstischen Kinos kritisiert. „Die Entwicklung
einer Person, ihre Begegnung mit einer unbekannten Welt wurde ersetzt durch
eine Ich-Zone, der Bezug zur Welt durch eine Abfolge von visuellen
Ereignissen, die nicht mehr auf gesellschaftliche Verhältnisse verweisen,
sondern auf den Geschmackshorizont und die Lebenswelt der Zielgruppe eines
Films.“
## Weltlosigkeit und Selbstfixiertheit
Die Frage, ob Joachim Trier in seinen Filmen diesen Zustand der
Weltlosigkeit bei gleichzeitiger Selbstfixiertheit reproduziert oder als
Leidensquelle in den Blick nimmt, lässt sich nur schwer entscheiden.
„Sentimental Value“ jedenfalls deutet, mehr noch als „Der schlimmste Mensch
der Welt“, auf Letzteres hin.
Die Lebenswelt, um die es hier geht, wird als eine, die gerade stirbt,
gezeigt und mit ambivalenter Melancholie (bei gleichzeitiger Erleichterung
nämlich) erfasst: Die Welt eines bildungsbürgerlichen Kinos, das anhand der
Seelenschau von männlichen Künstlersubjekten innere und äußere
Wirklichkeiten in den Blick nehmen und zur Anschauung bringen konnte.
Der Kameramann von damals, den Gustav ausgräbt, kann nur noch auf Krücken
gehen. Und ob sein von Netflix finanziertes Spätwerk überhaupt in den Kinos
laufen wird und nicht auf der Streaming-Halde versackt, bleibt unklar.
In diesem Abgesang gelingt „Sentimental Value“ immer wieder ein berührender
Blick auf seine Figuren, die einander nicht lieben können und deren Welt –
das bürgerliche Theater, der Autorenfilm – eine vergangene ist. Joachim
Trier zeigt sie als eine, die ihren Subjekten unheimlich viel abverlangt
und aufgebürdet hat. An Komplexen, an Schuld, an unausgesprochenen und
unbearbeiteten Konflikten, die ihren verschobenen neurotischen Ausdruck in
Filmbildern oder auf Bühnen finden.
1 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Benjamin Moldenhauer
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