# taz.de -- Tagebuch aus der Ukraine: Ukrainer, die nach Westen gehen
       
       > Gerade junge Menschen haben Angst vor ihrer Einberufung. Schon Schüler
       > suchen ihr Glück, indem sie ihr Land verlassen und in die EU einreisen.
       
 (IMG) Bild: Angst und der Gedanke ans Weggehen: junge Menschen bei der Beerdigung eines ukrainischen Soldaten, November 2025
       
       Frag niemals eine Frau, wie alt sie ist. Frag niemals einen Mann, wie viel
       er verdient. Frag niemals einen Ukrainer im wehrpflichtigen Alter, wie er
       in die [1][Europäische Union] gekommen ist.“ Dieser nicht allzu raffinierte
       Witz, der in ukrainischen Internetforen kursiert, illustriert recht gut
       eine aktuelle Diskussion: Sie handelt von denen, die die Ukraine verlassen
       haben, und von denen, die geblieben sind.
       
       Neu ist die Tendenz, dass junge Menschen, die noch zur Schule gehen, das
       Land verlassen. Zunächst hat das Bildungsministerium in Kyjiw dieses
       Phänomen geleugnet. Doch obwohl ich selbst schon lange nicht mehr zur
       Schule gehe und keine Kinder habe, war es nicht schwer herauszufinden, dass
       dies tatsächlich stimmt: Etliche junge Menschen versuchen, die [2][Ukraine]
       zu verlassen, bevor sie volljährig sind.
       
       Recht spät hat der Staat nach einer Lösung gesucht und einen Versuch
       unternommen. Am 28. August dieses Jahres beschloss die ukrainische
       Regierung, dass junge Menschen im Alter von 18 bis 22 Jahren ins Ausland
       reisen dürfen. Mit der Aussicht, als volljährige Person das Land legal
       verlassen zu können, sollen sie dazu bewegt werden, Schule und Universität
       in der Ukraine zu absolvieren.
       
       [3][Wolodymyr Selenskyj], der ukrainische Präsident, zeigte sich dabei
       optimistisch, dass diese Entscheidung seiner Regierung keinen Einfluss auf
       die [4][Verteidigungsfähigkeit] des Landes haben werde.
       
       ## Angst vor Krieg und Mobilisierung
       
       Aber wie sieht es in Wirklichkeit aus? Ich habe viele Freunde und Bekannte,
       die ihre Brüder im Krieg verloren haben. Die Angst ist verbreitet.
       Menschen, die noch nicht von der Mobilisierung bedroht sind, wollen die
       Chance auf ein besseres Leben nutzen. Es kam sogar so weit, dass junge
       Menschen bereit waren, Bestechungsgelder zu zahlen, um nicht eingezogen zu
       werden. Im kleinen Kreis sagen viele, dass sie hinsichtlich eines baldigen
       Kriegsendes pessimistisch sind. Das erklärt die denkbar deutlichste
       Abstimmung: die mit den Füßen in Richtung der westlichen Grenze.
       
       Zuerst waren alle die gegangen, die konnten und die die Kraft dazu hatten.
       Niemand wusste, wo sich die russischen Truppen befinden würden, und es war
       schwer, sich die Entwicklung der Lage vorzustellen. Später stabilisierte
       sich die Situation. Die Ausreise wurde überlegter und besser vorbereitet.
       Das hielt aber nicht lange vor.
       
       Bald nämlich ging es um die [5][illegale Ausreise] von Männern. Angesichts
       der Tatsache, dass die Ukraine damit begann, ihre westlichen Grenzen
       stärker zu bewachen, wurde es tatsächlich schwierig, das Land zu verlassen.
       Manchmal scheint es, dass die Ausreise ins Ausland zugleich ein Privileg,
       eine Selbstverständlichkeit, eine Chance und unsere gemeinsame Tragödie
       ist.
       
       Die Wirtschaft beklagt sich über die Auswanderung junger Menschen. Ob
       Kellner oder Kurier, viele Arbeitskräfte sehen zu, dass sie das Land schon
       verlassen haben, bevor ihnen die Möglichkeit genommen wird, die Grenze frei
       zu passieren.
       
       Was man gegen die Ausreisebewegung tun kann, wissen weder die Bevölkerung
       noch die Regierung. Vielleicht ist die Sorge um die demografische Zukunft
       eines der letzten Dinge, die in der Ukraine noch verbindend wirken können.
       
       Bis dahin verlassen die Menschen weiterhin das Land.
       
       [6][Vasili Makarenko] ist freier Autor aus Kyjiw und war Teilnehmer eines
       Osteuropa-Workshops der [7][taz Panter Stiftung]. 
       
       Aus dem Russischen von [8][Tigran Petrosyan]. 
       
       Durch Spenden an die [9][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
       kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
       „Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
       
       21 Nov 2025
       
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