# taz.de -- Neuköllner Mythos: Uh, du bist so Sonnenallee
> Sie ist eine Straße der Projektionen, sie ist immer das, von dem du
> denkst, dass sie es nicht ist: die Sonnenallee. Eine Betrachtung in Wort
> und Bild.
Die Sonnenallee in Berlin-Neukölln ist für viele zu einer Art Symbolstraße
geworden. Nicht wenige – auch der Verfasser dieses Artikels – haben der
Allee ein Buch gewidmet, viele sprechen über sie und auch im fernen München
und im Münsterland weiß man, was man hier zu erwarten hat.
[1][Aber ist die Sonnenallee so, wie man sie sich vorstellt?] Wer sind die
Menschen, die dort leben, was machen sie? Ist die Straße mit touristischen
Ravern und Zugezogenen aus dem Süden „überfremdet“? Wieso erkennt Opa Bolle
seine Straße nicht mehr? Und lebt Opa Bolle noch, oder ist er nur eine
Erfindung der Medien und der Politik? Oder, anders: Was ist die
Sonnenallee?
Rückblende ins 19. Jahrhundert. Die „Straße 84“, wie sie damals heißt, ist
in dem Städtchen Rixdorf eine Straße mit armer, bäuerlich geprägter
Bevölkerung. Doch schon 1893, als sie, [2][die damals vom Hermannplatz]
abzweigt und nur 300 Meter lang ist, in Kaiser-Friedrich-Straße umbenannt
wird, beginnt ihr Aufstieg.
In Rixdorf ist „Musike“, die Stadt vor Berlin prosperiert wirtschaftlich
und wird für die vergnügungssüchtigen Berliner*innen ein beliebtes
Ausflugsziel. Was eben gerade erst erbaut worden ist, wird schon wieder
abgerissen, um durch noch größere Häuser ersetzt zu werden. Auch an Länge
nimmt die Straße zu, 1905 reicht sie schon bis zur Ringbahn und bekommt
1912 einen eigenen Bahnhof.
Zwei Jahre später wird die Brücke über den Neuköllner Schifffahrtskanal
eingeweiht – doch der Abschnitt, der schließlich bis an den Treptower
Baumschulenweg reichen sollte, heißt bald Sonnenallee und nicht
Kaiser-Friedrich-Straße. Viele Fabriken sind in der Gründerzeit und vor dem
Ersten Weltkrieg angesiedelt worden, viele Handwerkerfamilien sind sehr
reich geworden, nach dem verlorenen Krieg jedoch und in den Jahren der
Inflation schmelzen die Vermögen drastisch zusammen, daher wird das 1932
eröffnete Arbeitsamt Süd-Ost (unweit der heutigen A100) zum Ausgangspunkt
vieler Auseinandersetzungen ums wenige Geld.
Rixdorf heißt jetzt Neukölln und wird 1920 nach Berlin eingemeindet, der
Stadtteil bekommt – nachdem er zuvor einen schlechten Ruf als
Amüsierviertel hatte – nun den Ruf, ein Bezirk der Proletarier, der
Arbeitslosen, der „Roten“ zu sein. Schon vor den Nazis wird rassistisch
über „Fremde“ geurteilt, besonders die Migration aus dem slawischen Raum
wurde von Konservativen, aber auch von Sozialdemokrat*innen
misstrauisch beäugt.
## Braunauer Straße
Es gibt sogar bereits Abschiebelager. Denn schon in der Weimarer Republik
werden Arme und Sozialhilfeempfänger*innen vor allem als
Ordnungsproblem betrachtet – es gelte, diese zu disziplinieren, glaubt etwa
der sozialdemokratische Innenminister Wolfgang Heine Anfang der Zwanziger
Jahre. Obschon es kaum Arbeitsplätze gibt, gilt als faul, wer keinen hat.
Wir kennen die weitere Geschichte – die Nazis werden gewählt und „ergreifen
die Macht“, disziplinieren und verurteilen, verhaften und verjagen,
beschlagnahmen – und bereiten alsbald einen Krieg vor.
Kaiser-Friedrich-Straße und Sonnenallee werden 1938 zur Braunauer Straße
zusammengefasst, dem „Führer“ zu Ehren, der in [3][Braunau am Inn] geboren
wurde. Eine Braunauer Allee darf sie nicht werden, die will Hitler in
seiner Stadt Germania, zu der Berlin nach dem gewonnenen Weltkrieg
umgestaltet werden soll, an anderer Stelle sehen. Der geplante Krieg wird
begonnen – dass es bald Zwangsarbeiter*innenbehausungen und ein
Frauen-KZ an der Braunauer Straße gibt, versteht sich schon fast von
selbst.
Auch den Zweiten Weltkrieg verlieren die Deutschen. Die Stadt wird geteilt,
auch die – nach dem Krieg nun auf ganzer Länge in Sonnenallee umbenannte
Braunauer Straße. 400 Meter der fast fünf Kilometer langen Straße liegen in
Treptow, nach dem Mauerbau wird es dort einen Grenzübergang geben.
Während der Ostteil der Straße fast völlig durch Grenzanlagen geprägt ist –
lediglich eine Tankstelle an der Ecke ist für die Zivilbevölkerung
erreichbar –, bleibt es im Westen ruhig, fast beschaulich. Neukölln wird
ein sehr unspektakulärer Westberliner Bezirk, Arbeiter*innen und
Kleinbürger*innen prägen das Straßenbild, es gibt aus den Sechzigern
und Siebzigern kaum etwas zu berichten, in der Allee werkeln alle vor sich
hin; ab Ende der Achtziger wird einmal im Jahr das Straßenfest „Singende,
klingende Sonnenallee“ gefeiert, ansonsten hält sich auch die „Musike“ in
Grenzen.
Immerhin aber besingt Rio Reiser später, im Jahr 1990, die Straße. „Uh, du
bist so Sonnenallee“ heißt es im Refrain, und weiter: „Deine Mama hat ’n
Kaufhaus am Hermannplatz/Und macht da die ganz dicke Kasse/Und dein Alter
hat ’ne Kneipe in der Urbanstraße/Doch gehört mehr zur breiten Masse.“
In den Neunzigerjahren erfährt die Straße wieder mehr Aufmerksamkeit. Nun
werden in der Sonnenallee die „Anderen“ gefunden – Gastarbeiter*innen,
Geflüchtete und ihre Nachfahren, und die Shisha-Bars und Döner-Imbisse, die
in den Läden entstehen, in denen vorher Handwerksläden waren, geraten in
den Fokus.
## Neuköllner Arbeitsamtes als „größtes Europas“.
Dass nach dem nationalen Taumel der Wiedervereinigung und infolge der
völligen Selbstüberschätzung der gerade wieder zur Hauptstadt erhobenen
„Metropole Berlin“ als einer Art „zweitem New York“ Dutzende Shoppingmalls
entstehen, die den angestammten Handwerksbetrieben die Kundschaft rauben,
wird nicht gesehen.
Nein, plötzlich heißt es, die Fremden, die Undeutschen nehmen „uns“ was weg
– die Arbeitsplätze, die Parkplätze, die Würstchenbuden. Passend dazu
beginnt die merkwürdige und mit Tatsachen nicht beeinflussbare Verklärung
des oben erwähnten Neuköllner Arbeitsamtes als dem „größten Europas“.
Wieder werden Arme und Sozialhilfeempfänger*innen für jene, die in
der Ordnungspolitik ihr Heil suchen, zur Projektionsfläche. Und mit ihnen
die Sonnenallee, in der man sie sehr gut situieren kann. Das Straßenfest
wird nach Jahrzehnten verboten, der damalige Neuköllner Bürgermeister Heinz
Buschkowsky beschwert sich öffentlichkeitswirksam in Talkshows über die
Bewohner*innen seines Bezirks – die Sonnenallee trägt nun ein Stigma.
Nicht unbedingt für ihre Bewohner*innen, wie Mathilde Tijen Hansen in ihren
Fotografien zeigt, sondern für die, die hier nicht wohnen müssen. Jens
Spahn kommt nach den Silvesterkrawallen 2022 – die in ganz Berlin
stattfanden – natürlich die Sonnenallee besuchen.
Er fährt aber nicht an den beschaulichen Venusplatz oder in die
High-Deck-Siedlung, wo wirklich Fahrzeuge brannten, sondern bleibt in der
Nähe des Hermannplatzes, um dort skeptisch in arabische Geschäfte zu
schauen. So sollte Deutschland besser nicht aussehen, scheint er zu
glauben. Und wenn sich heute Spahns Kanzler Merz am „Stadtbild“ stört, dann
dürfte eine Straße wie die Sonnenallee mitgemeint sein.
Auch viele autoritäre linke Gruppierungen haben sich ihr eigenes Bild von
der Sonnenallee gebastelt – es gibt geradezu einen Demotourismus in dieser
Straße, in der man dann wackere Proletarier*innen aus der wo auch
immer zu findenden Schwerindustrie, Fans der Hamas oder aber
Befürworter*innen einer ultraliberalen Drogenpolitik finden möchte.
Selbstverständlich wohnen auch solche Leute an der Sonnenallee.
Doch bei den Demos zeigt sich immer wieder, dass der Jubel, der von den
Arbeiter*innen, Migrant*innen oder Junkies erwartet wird, eher ausbleibt
– es wird nicht aus den Fenstern gewunken, es wird nicht vor den arabischen
Supermärkten getanzt. Selbst bei den Demos nach dem 7. Oktober 2023 blieb
der ganz große Zuspruch aus der Nachbarschaft, den sich die
Organisator*innen vermutlich erhofft hatten, aus. Dennoch blieb das
mediale Bild, dass die ganze Sonnenallee mitdemonstriert habe.
## Arbeitsamt und Autobahnbrücke, Estrel und Extremismus
Vielleicht sollte die autoritäre Linke mit den Leuten vor Ort reden und
weniger positiven Rassismus mitbringen. Vielleicht will „der Muslim“ gar
nicht, was eine Linke „ihm“ zuschreibt? Und vielleicht ist nicht jeder
dunkelhäutige Mensch dem Islam zugeneigt?
Und die Rechte sollte mal schauen, wie konservativ oder marktradikal viele
Händler*innen und Imbissbetreiber*innen eigentlich sind – was den
Autogeschmack angeht, unterscheiden sich viele
Sonnenalleebewohner*innen jedenfalls nicht von den
Anhänger*innen der FDP.
Und sicher ist die Sonnenallee auch Arbeitsamt, Autobahnbrücke,
Estrel-Hotel, ist Drogenelend und Extremismus, sie ist allerdings genauso
Kleingartenidylle und Latte-Macchiato-Spießigkeit, es gibt Queers und
Gentrifizierer*innen, Homophobe und Nazis, verspulte Raver*innen und
Menschen, die zumindest in Nacht ruhig schlafen wollen.
Dass die Straße so sehr Projektionsfläche geworden ist, ist ihr großes
Manko – doch wer die Sonnenallee vorurteilsfrei aufsucht, wird nicht das
Arbeiterparadies, das Islamistengebiet oder die Brutstätte gewalttätiger
Jugendlicher antreffen, als das die Sonnenallee immer wieder verschrien
oder verklärt wird, sondern eine ziemlich lange Straße in einer deutschen
Großstadt mit allen Problemen und allen Vorzügen, die eine solche zurzeit
hat. Ein bisschen mehr Singendes und Klingendes stünde all diesen Straßen
tatsächlich gut zu Gesicht.
23 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=bk4h7ory8XU
(DIR) [2] /Der-Platz-der-Berliner-Plaetze/!5959313
(DIR) [3] /Hitlers-Geburtsort-in-Braunau-am-Inn/!5693633
## AUTOREN
(DIR) Jörg Sundermeier
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