# taz.de -- Gedenk-Bloggerin über NS-Täterschaft: „Leute ab 35 fühlen sich beim Thema Wehrmacht angegriffen“
> Susanne Siegert spricht auf Insta und Tiktok über NS-Geschichte. Sie
> fordert, zur eigenen Familie und Tatorten in der Nachbarschaft zu
> recherchieren.
(IMG) Bild: Nach der Befreiung: US-Militärangehörige vor Erdhütten im KZ-Außenlager Mühldorfer Hart am Inn, in denen 2.000 Häftlinge darbten
taz: Frau Siegert, warum glauben 68 Prozent der Deutschen von 17 bis 90,
dass ihre Vorfahren keine NS-Täter waren?
Susanne Siegert: Weil es nicht sehr angenehm ist, darüber zu sprechen, dass
der eigene Opa oder Uropa vielleicht an Kriegsverbrechen beteiligt war. Das
war schon direkt nach dem Krieg schwierig und wurde nie richtig
aufgearbeitet. Man hat eher mit den ehemals Verfolgten getrauert, als die
eigene Familiengeschichte zu hinterfragen. Da ist viel versäumt worden, und
es ist kein Wunder, dass sich die NS-Zeit für 16-Jährige wie eine
altertümliche Geschichte anfühlt.
taz: Ohne jeden persönlichen Bezug.
Siegert: Ja. Auch für mich war es neu, zu merken: Ich weiß viel über
[1][Anne Frank] und andere verfolgte Jüdinnen und Juden, habe lange zu
Tatorten in meiner Heimat recherchiert, aber erst relativ spät den Blick in
die eigene Familiengeschichte gewagt.
taz: Auch die heimatnahen Tatorte fanden Sie spät.
Siegert: Ja. Ich habe mich immer für das Thema interessiert, aber erst mit
30 angefangen, zum ehemaligen Lager Mühldorfer Hart in meiner Nachbarschaft
zu recherchieren, einem Außenlager des KZ Dachau. Im Schulunterricht hatte
das keine Rolle gespielt, und als ich erstmals dorthin kam, dachte ich:
„Erwischt!“ Ich war schon in den KZ-Gedenkstätten [2][Auschwitz],
Mauthausen, Dachau. Aber diesem Ort, 20 Kilometer von meinem Elternhaus
entfernt, hatte ich nie Beachtung geschenkt.
taz: Wie empfanden Sie den Ort?
Siegert: Dort war nichts so, wie ich mir ein ehemaliges KZ vorgestellt
hatte. Die klassischen Icons – das Eingangstor mit dem Schriftzug „Arbeit
macht frei“, Stacheldrahtzaun, Krematorien – all das fehlte. Das einstige
Lager [3][Mühldorfer Hart] liegt in einem Naherholungsgebiet im Wald, und
man sieht bloß ein paar Mulden im Boden, wo mal Stacheldrahtzaun-Pfosten
standen, Teile von Latrinen-Fundamenten. An einem so abstrakten Ort fällt
es schwer, an Massenvernichtung zu denken.
taz: Wie wird auf die Geschichte des Ortes hingewiesen?
Siegert: Es gibt wenig Einordnung. Die Beschriftungen fokussieren
technische Details – etwa, wie viele Tonnen Stahl verbaut wurden. Aber
diese Mulden im Boden, die etwas markieren, muss man sich selbst erarbeiten
oder durch eine der Führungen des Vereins, der den Ort betreibt.
taz: Wie haben Sie sich den Ort erschlossen?
Siegert: Ich habe angefangen zu recherchieren, habe Online-Archive entdeckt
und gemerkt, wie viele Dokumente, Prozessakten, Interviews mit Überlebenden
man schon durch die Eingabe von „Mühldorf“ findet. Dann habe ich
angefangen, bei Instagram und Tiktok darüber zu sprechen.
taz: Finden Sie, dass die Außenlager im Schulunterricht vernachlässigt
werden?
Siegert: Es werden sehr stark die großen, oft fernen Orte fokussiert. Dabei
hätte es auf mich als 15-, 16-Jährige schon Eindruck gemacht, wenn mein
Heimatort auf einem Dokument in einem Atemzug mit Auschwitz genannt worden
wäre, von wo Häftlingstransporte nach Mühldorf gingen.
taz: Wie reagiert die Instagram- und Tiktok-Community auf Ihre Videos?
Siegert: Menschen bei Tiktok, wo ich eine jüngere Zielgruppe anspreche,
haben weniger Berührungsängste, weil sie zum eigenen Uropa keine emotionale
Verbindung haben. Während sich Menschen ab 35, oft auch 60 plus, die ich
bei Instagram erreiche, beim Thema Wehrmacht eher angegriffen fühlen, weil
sie vielleicht noch Geschichten von ihren Großeltern gehört haben.
taz: Haben Sie schon Menschen zur Recherche animiert?
Siegert. Ja. Das ist das schönste Feedback, wenn Leute sagen, dass sie
anfangen, zu ihrer Familie zu forschen. Wenn es nicht beim „Like“ zum
Instagram-Post bleibt, sondern weitergeht.
17 Nov 2025
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