# taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Was die anderen denken
       
       > Bei den Filmfestspielen werfen die Regisseurinnen Lynne Ramsay, Hafsia
       > Herzi und Chie Hayakawa sehr unterschiedliche Blicke auf die
       > Kleinfamilie.
       
 (IMG) Bild: Die Teenagerin Fuki in „Renoir“ fühlt sich von ihren Eltern buchstäblich verlassen
       
       Kinder bekommen ist schwierig. Kinder haben ist schwierig. Und Kind sein
       ist auch schwierig. Im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes kreisen
       gleich mehrere Filme um die Institution Familie, die sie aus sehr
       unterschiedlichen Perspektiven betrachten.
       
       Schon zum Auftakt hatte die [1][Regisseurin Mascha Schilinski mit „In die
       Sonne schauen“] die Töchter mehrerer Generationen einer Familie auf einem
       Bauernhof in einer vielschichtigen Collage zusammengeführt. Die
       Schauspielerin und Regisseurin Hafsia Herzi konzentriert sich in ihrer
       Literaturverfilmung „Die jüngste Tochter“ (La petite dernière) hingegen auf
       die titelgebende Protagonistin. Fatima, so ihr Name, macht gerade Abitur,
       ist eine gute Schülerin, aber sehr verschlossen. Sie betet regelmäßig zu
       Hause im Hidschab, ansonsten läuft sie in Bomberjacke und Baseballcap
       herum.
       
       Als ein schwuler Klassenkamerad sie vor ihren Freunden als lesbisch
       bezeichnet, kommt es zur Rangelei mit ihm, Fatima zerbricht demonstrativ
       seine Brille und beschimpft ihn als „Schwuchtel“. Danach hat sie einen
       Asthmaanfall, bricht in ihrem Kinderzimmer in Tränen aus. Als nächstes legt
       sich ein Profil auf einer Datingapp an, über die sie mit Frauen Kontakt
       aufnimmt.
       
       [2][„Die jüngste Tochter“ nach dem gleichnamigen Roman von Fatima Daas]
       erzählt vom halben Coming-out einer muslimischen jungen Frau, die sich
       schwertut, ihre Sexualität zu entdecken. Im Freundeskreis wie in ihrer
       Familie schweigt sie sich dazu aus, und auch als sie Frauen kennenlernt,
       bleiben einige Hindernisse. Nadia Melliti spielt Fatima mit versteinerter
       Miene, aus der sie hier und da ein Lächeln herausmeißelt. Von ihrer Figur
       erfährt man vor allem aus den Reaktionen anderer auf sie, Fatima selbst
       bleibt dadurch etwas blass. Und da auch der Konflikt mit der Familie bloß
       angedeutet ist, droht dem Film sein Kraftzentrum immer wieder abhanden zu
       kommen.
       
       In Lynne Ramsays „Die, My Love“ wird dafür aus allen Rohren gefeuert. Ein
       Paar zieht aufs Land, ringsum Wiesen und Felder, kaum Menschen, trotzdem
       wirkt für die Schriftstellerin Grace (Jennifer Lawrence) alles bedrohlich
       nah und laut. Sie wird schwanger, nach der Geburt schreit das Kind viel,
       Grace kann kaum schlafen – und dann schafft ihr Freund Jackson (Robert
       Pattinson) auch noch einen Hund an, der ständig bellt.
       
       Ramsay inszeniert das mit einer so penetranten wie unheimlichen Tonspur,
       fast alles um Grace herum ist Bedrohung, rasch wird klar, dass es ihr
       psychisch nicht gut geht. Das Verhalten von Jackson hilft dabei nicht, er
       scheint kaum empfänglich für ihre Nöte und wirkt selbst auch nicht ganz
       zurechnungsfähig. In dieser psychotischen Kleinfamilienhölle lauert ständig
       Gefahr, Erlösung ist nicht in Sicht. Beim Publikum dafür irgendwann
       Erschöpfung.
       
       Die japanische Regisseurin Chie Hayakawa schließlich erzählt in „Renoir“
       von einer Teenagerin, die sich von ihren Eltern buchstäblich verlassen
       sieht. Der Vater ist todkrank, die Mutter von der Aufgabe, ihren Beruf und
       das zerfallende Familienleben zu vereinbaren, überfordert. Ihre Tochter
       Fuki (Yui Suzuki) muss daher viel Zeit auf sich gestellt verbringen.
       
       Hayakawa erzählt von Einsamkeit zwischen nüchternem und magischem
       Realismus. Ihre Hauptfigur Fuki beginnt sich immer mehr für Telepathie zu
       interessieren, probiert alles Mögliche aus, von Kartentricks bis Hypnose.
       Dabei kreist „Renoir“ um die Frage, wie man zu den Gedanken und damit
       überhaupt zu anderen eine Verbindung aufbauen kann. Die freundlich-warmen
       Bilder sind trügerisch, denn Chie Hayakawa flicht in ihr
       Gesellschaftsporträt im Kleinen nicht nur Themen wie Sterben, sondern auch
       Kindesmissbrauch mit ein. Ein so zauberhafter wie verstörender Film.
       
       19 May 2025
       
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