# taz.de -- Musikfestival in Marseille: Das Recht auf musikalische Freiheit
       
       > Feministischer Samba, karibische Coolness, sachtes Abrücken von der
       > Hegemonie angloamerikanischer Musik: Eindrücke vom Festival Babel in
       > Marseille.
       
 (IMG) Bild: Afropunk-Attitüde: Kin’gongolo Kiniata aus Kinshasa
       
       Wenn der Mistral die spärlichen Sonnenstrahlen vereist, bis die Ohren
       flackern, dann lacht Marseille. Bald schon flucht es über das nasskalte
       Wetter und den Wind, der durch die Straßen hinunter bis zum Meer pfeift,
       während man bergauf zur Bushaltestelle schlottert. I[1][mmerhin, im
       Kulturzentrum La Friche, in den Räumen der alten Gitanes-Zigarettenfabrik
       im Viertel Belle de Mai, ist das Festival Babel schon auf
       Betriebstemperatur].
       
       Beim Panel „Der Siegeszug non-anglophoner Musik. Geht eine Hegemonie zu
       Ende?“ wird lebhaft diskutiert und mit nüchternen Zahlen belegt, dass
       Englisch als Singsprache zwar nicht ausgedient hat, aber längst nicht mehr
       unangefochten die Poleposition behauptet. In den Streams der führenden
       Plattformen hat [2][lateinamerikanische Musik] mit 35 Prozent aller Songs
       zuletzt einen kometenhaften Aufstieg genommen. Auch Titel, die auf Hindi
       gesungen sind, erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Wobei, selbst
       Huguette Malamba, vom Dachverband Organisation de la Francophonie schränkt
       ein: HipHop und andere Popstile belegen wirkmächtig, dass Genres wichtiger
       sind als Singsprachen.
       
       Andererseits ist gerade das Babel-Programm leuchtendes Beispiel dafür, dass
       ein Kulturleben jenseits der angloamerikanischen Dominanz in den
       Kulturindustrien längst Realität ist und Verständigungsschwierigkeiten mit
       links gemeistert werden. Wie die estnische Singer-Songwriterin Mari Kalkun
       ihr Instrument Kantele (eine Zither) mit einem Looppedal verbindet und vor
       jedem Song erklärt, wie sie technisch den Konnex von der Zither zum
       digitalen Effekt herstellt und worüber sie singt, das kommt in seiner
       Nonchalance sehr sympathisch rüber.
       
       Angenehm war zudem, wie konstruktiv bei den Panels diskutiert wurde und
       dass die politischen Auswüchse von Trump und Co höchstens indirekt ein
       Thema waren. Das Babel-Festival sucht nach anderen Formen von Zusammenhalt
       und machte zugleich einen überzeugenden Brückenschlag zum Globalen Süden:
       Jubelstürme gab es etwa für die brasilianische Sängerin Bia Ferreira, die
       solo mit akustischer Gitarre und Beatboxing den Saal für sich einnahm. Ganz
       in Weiß, charismatisch, den [3][Samba] zupfend, aber auch auf den
       Gitarrenkörper klopfend, waren ihre Songs eingängig, manchmal ein bisschen
       zu einfältig. Das machten dann die Ansagen wett: „Ich bin die Pastorin der
       lesbischen Kirche“, sagte Ferreira etwa und wies daraufhin, dass in ihrer
       Heimat alle vier Stunden eine Frau ermordet wird.
       
       Anderntags ging es um Musikmachen als Grundrecht: Silja Fischer,
       Generalsekretärin des 1949 gegründeten internationalen Musikrates mit Sitz
       in Paris, erinnerte an die fünf „Musikrechte“, die ihre Organisation in
       einer Charta, ähnlich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,
       verankert hat. Darin festgelegt ist etwa das „Recht von Kindern und
       Erwachsenen, sich musikalisch-künstlerisch frei auszudrücken“. Vielleicht
       wäre so eine Präambel vor wenigen Jahren noch weggeschmunzelt worden. Mit
       Blick auf den auch im Westen grassierenden Autoritarismus wird ein
       blühendes Musikleben als Garant für basisdemokratischen Austausch
       inzwischen wertgeschätzt.
       
       [4][Auch im Veranstaltungszentrum La Friche erhalten Kinder und Jugendliche
       aus den umliegenden Vierteln Musikunterricht, belegen Streetdance-Kurse und
       Graffitiworkshop]s. Und die werden auch während des Festivals angenommen,
       wie zu sehen ist.
       
       ## Entdeckung am Abend im Viertel Notre-Dame-du-Mont
       
       Ohnehin unterscheidet sich Marseille von anderen französischen Großstädten.
       Migrantisches Leben ist hier nicht in die Banlieu verdrängt, sondern findet
       mitten im Stadtzentrum statt, und zwar nicht unter Ignoranz der
       Mehrheitsgesellschaft. Jene auch konfliktbehaftete Vielfalt schwingt mit
       beim Duokonzert von Ablaye Cissoko und Cyrille Brotto. Der senegalesische
       Griot und der französische Akkordeonist halten im Saal der Musikschule Cité
       de la Musique überaus packende Zwiesprache: Cissoko, der Kora spielt und
       mit glockenheller Stimme singt, Brotto, der seine Musette betätigt. Während
       Brotto Drones sendet, indem er die Register dehnt, schippert Cissoko die
       21-saitige Kora wie ein Segelschiff durch dieses klangdynamisch höchst
       anspruchsvolle Terrain. Seine Kora verstimmt sich während des Spiels,
       Cissoko gleicht durch den Gesang elegant aus. Die Clustermelodien seiner
       Kora tun ein Übriges, um den jazzigen Charakter der Soirée zu betonen. Die
       traditionalistischen Klangwelten der westafrikanischen Griots blitzen auf
       wie ein Wetterleuchten am Horizont. Angenehm zudem, dass der
       minimalistische Sound von Brotto keinerlei Chansonklischees entspricht.
       
       Eine Entdeckung zu machen ist auch am Abend im Viertel Notre-Dame-du-Mont
       im Konzertsaal Espace Julien. Die sechsköpfige HipHop-Crew Expéka, deren
       Mitglieder aus Guadeloupe, Martinique und Frankreich kommen, interpretiert
       den Sound der französischen Überseegebiete als Band. Die beiden Rapperinnen
       Célia Wa und Casey (Cathy Palenne) haben das Publikum schnell im Sack: Mit
       energischen Ansagen und politischen Reimen. Célia Wa, die bereits mehrere
       Soloalben veröffentlicht hat, rappt und spielt Querflöte mit jazzy Touch.
       Dazu brettern Drummer, Perkussionist, Bassist und Keyboarder mit dem auf
       den französischen Antillen allgegenwärtigen Gwo-ka-Beat gelenkig durch die
       Arrangements. Ganz von Ferne erinnern Expéka an die New Yorker Stetsasonic,
       die sich auch als „HipHop-Band“ bezeichnete und Analoginstrumente in den
       digitalen Sound inkorporiert hatte.
       
       Ähnlich fühlen sich Expéka der oralen Rap-Tradition verpflichtet, garnieren
       Texte mit Lokalpolitik: Es geht um den prekären Status der französischen
       Überseegebiete, die nominell zur EU gehören, aber kein Teil des
       Schengen-Raums sind, und ihre Verwahrlosung: Sei es Müll, ausbleibende
       Maßnahmen zum Klimaschutz oder Alltagsgewalt. Der Diskriminierung von
       Frauen im französischsprachigen Rap wird mit Haltung gekontert: Casey hat
       eine große Schnauze, setzt sie aber nicht über Gebühr ein, sondern lässt
       zwischendurch Wa den Vortritt, damit diese den Funk mit karibischer
       Coolness performt.
       
       „Auf und neben der Bühne kann ich alles Mögliche, außer Kochen und Nähen“,
       erklärt Tiziana Calleja, Gründerin der Musikschule CentreStage im
       maltesischen La Valetta am nächsten Morgen: Beim Panel „Strategien der
       Inseln: Das Beispiel Mittelmeer“ wird schnell klar, dass den Eingeladenen
       das Netzwerken nicht in die Wiege gelegt wurde. Im Gegenteil, Calleja
       sowie die beiden Italienerinnen Barbara Vargiu (Gründerin des ersten
       sardischen Musikfestivals) und Federica Cappa (Leiterin der sizilianischen
       Musikkonferenz) berichten, wie kompliziert es war, an der Peripherie
       Strukturen zu etablieren und Kontakte ins Ausland zu knüpfen. Cappa, die in
       Mailand arbeitete, dem Zentrum der italienischen Musikindustrie, beschloss
       während der Pandemie 2020, ihr Knowhow zurück nach Sizilien zu bringen, von
       dem sie aus Gründen der Arbeitssuche einst in den Norden aufgebrochen war.
       Bald geht es auch um Wasser als Metapher für „Im Flusssein“, für die
       Überfahrt in Booten. Refugees, die übers Mittelmeer flüchten, werden von
       den Anwesenden nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung der eigenen
       Kultur wahrgenommen. Vargius Organisation Le Ragazze Terribili (in etwa:
       „Die schrecklichen Mädchen“) unterstützt ihrerseits Musikinitiativen im
       Libanon und in Tunesien.
       
       Abends beim Konzertmarathon, der letztmalig im ehemaligen
       Lagerhallenkomplex Docks du Sud stattfindet, sorgen Bnat Louz und Raskas
       aus Marokko für Gesprächsstoff. Bnat Louz ist ein marokkanisches
       Folkensemble, bestehend aus zwei Derwischen und einem neunköpfigen
       Frauenchor. Das Rumpeln kommt jedoch vom Elektronikduo Raskas aus
       Casablanca, das auf der Bühne unsichtbar bleibt. An der Rampe stehen die
       beiden Derwische und schwingen ihre Tamburine, die neun Frauen fassen sich
       an den Händen und singen mesmerisierende choralähnliche Melodien, dazu
       machen sie eine Art Polonaise und wackeln im Wiegeschritt um die Mikrofone.
       Allerdings tragen sie ein großes Tuch, das wie ein Schleier vor die
       Gesichter gepflanzt ist, und legen es beim Konzert auch nicht ab. Da kann
       das Aufeinanderprallen von Tradition und Moderne noch so ungestüm klingen,
       der Schleier sorgt bei Teilen des Publikums für Irritationen.
       
       Um einiges ekstatischer wird es bei der fünfköpfigen Band Kin’gongolo
       Kiniata aus Kinshasa. Einheitlich in Schwarz gekleidet, versprühen die fünf
       Afropunk-Attitüde. Nicht nur, wie sie auf ihre teils selbstgebauten
       Instrumente – Percussion aus Plastikflaschen und elektronisch verzerrte
       Fingerklaviere –, eindreschen, auch, wie einzelne Worte als Slogans
       gechantet werden. Es klingt rau und rotzig, das Publikum tanzt. Wurde in
       dieser Zeitung nicht vor Kurzem das baldige Ende des Bandzeitalters
       angekündigt? Die Kongolesen bescheiden diesen Befund negativ.
       
       Den Kehraus macht der Bretone Tangui Le Cras, der sich als Künstler Craze
       nennt, wie ein Comic-Held, und in einer Mönchskutte mit seinem Dudelsack
       mitten im Publikum aufschlägt, um in Laubbläser-Diktion und in Begleitung
       eines Stroboskops den Unfug mit der Druckluft seines Instruments wegpustet.
       Marseille lacht wieder, wenn auch gequält.
       
       Transparenzhinweis: Die Recherche zu diesem Text wurde vom Festival Babel
       unterstützt.
       
       27 Mar 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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