# taz.de -- Schau mit Künstlerin Lenora de Barros: Der Bindestrich ist subversiv
       
       > Die brasilianische Künstlerin Lenora de Barros ist in einer Karlsruher
       > Schau zu sehen. Sie ist so spielerisch wie poetisch der Sprache auf der
       > Spur.
       
 (IMG) Bild: Die Zunge aus der Verbergung hervorholen: Lenora de Barros' „No País da Língua Grande, Dai Carne a Quem Quer Carne“, 1998/2006
       
       Die Aussage, „laut zu sehen“, erscheint widersinnig. Dabei ist die
       multisensorische Wahrnehmung bei allen Lebewesen der Normalfall. Vielleicht
       ist der Titel der Ausstellung im Badischen Kunstverein „To See Aloud“ auch
       nur ein Hinweis, die Werke der Künstlerin Lenora de Barros darin nicht nur
       anzusehen, sondern etwa auch auf das Klacken der Bälle auf dem Boden und
       der Tischtennisplatte zu hören.
       
       Der extra für die Schau angefertigte „Ping Poem Table“ ist für das Publikum
       freigegeben. Im Spiel entfaltet sich ein Klanggewitter, dem normalerweise
       niemand Aufmerksamkeit schenkt. Seit über fünfzig Jahren ist Lenora de
       Barros dem Potenzial von Buchstaben, Silben und Sätzen auf der Spur. Wie
       vielfältig und poetisch das sein kann, zeigt diese Karlsruher Ausstellung.
       
       Auf der Wand des Badischen Kunstvereins ist in großen Lettern ein kurzer
       Schriftzug auf Portugiesisch zu lesen. Übersetzt lautet er „Was eint –
       trennt“. Gemeint ist der Bindestrich, der Worte verbindet und Satzteile
       trennt. Jeder Tischtennisball ist mit einem Bindestrich bedruckt und wird
       damit zu einem mehrdeutigen, subversiven Objekt.
       
       Die 1953 in Brasilien geborene Künstlerin ist im Reich der Zeichen zu
       Hause. Die Arte Concreta florierte in den 1950er Jahren in São Paulo
       parallel zu ähnlichen Bestrebungen in Europa. Ziel war die Abschaffung des
       lyrischen Ichs und des traditionellen Versmaßes. Berühmt ist die
       brasilianische Dichter-Gruppe Noigandres.
       
       Lenora de Barros’ Vater war Künstler, ihre Mutter förderte ihr Interesse
       für Literatur. Sie studierte Linguistik und war bereits 1975
       Mitherausgeberin der Kunst- und Poesiepublikation „Poesia em greve“, Poesie
       im Streik. Dieser Titel muss als Kommentar zur politischen Lage damals
       verstanden werden, zur Einschränkung der Meinungsfreiheit während der
       Militärdiktatur in [1][Brasilien, die sich 1964 an die Macht geputscht
       hatte]. Nach dem Ende des Regimes 1985 erforschte Lenora de Barros die
       Sprache zunehmend performativ, erkundete die körperlichen Aspekte der
       Sprache.
       
       ## Zwischen Sprache und Zunge
       
       Dreh- und Angelpunkt ihres Werks ist die Doppelbedeutung des
       portugiesischen Wortes „Lingua“, das sowohl Sprache als auch Zunge heißt.
       Die Zunge liegt diskret verborgen in der Mundhöhle. In ihren
       Videoperformances untersucht die Künstlerin diesen Muskel am eigenen Leib
       und stellt seine Beweglichkeit zur Schau oder attackiert ihn. In der Arbeit
       „Calaboca (Shut up)“ ist die Künstlerin verstummt, während jemand ihr die
       Buchstaben des Wortes „Silencio“ in die Zunge hämmert. Diese groteske Szene
       entstand als Fotomontage, die in das Video eingebaut ist.
       
       In den 1960er und 70er Jahren entwickelte die brasilianische Avantgarde
       neue, subversive Wege, sich zu äußern. Das lässt sich vielfach am Werk von
       Lenora de Barros beobachten. Ein Beispiel für die Kontinuität ihres Werks
       ist das Gedicht „Mínimo Som Mínimo“, Minimaler Klang, aus ihrem 1983
       erschienenen Gedichtband „Onde se vé“, wo du siehst. Für die Ausstellung in
       Karlsruhe hat sie die Gedichte in den Raum übertragen. Nahtlos wiederholt,
       ließ sie die Zeile Gelb auf Weiß in kleiner Schrift als Wandtapete drucken.
       Ein minimaler Klang kann ziemlich viel Raum einnehmen.
       
       Lenora de Barros ist fasziniert von der Sprache der Hände. Das zeigen
       mehrere Arbeiten, etwa die Videoperformance „Tato do Olho“, Berührung des
       Auges. Mit den Händen die Augen berühren, wenn das Auge nicht mehr anders
       berührt werden kann.
       
       Anfang der 1990er verfasste Lenora de Barros über mehrere Jahre eine
       Kunstkolumne für eine Tageszeitung in São Paulo. Über ihre minimalistischen
       Kunstkritiken entspann sich ein Dialog mit Werken von [2][Yoko Ono],
       [3][Lygia Clark] oder [4][Cindy Sherman]. 2013 brachte sie die Texte unter
       dem Titel „Dame-Spiel“ als Künstlerbuch heraus. Für eine Videoperformance
       las sie aus den Texten und spielte mit sich selbst Dame. Der Erfinder der
       Konzeptkunst, Marcel Duchamp, spielte im Alter nur noch Schach. Für Lenora
       de Barros hingegen war das Damespiel nur eine Episode.
       
       26 Mar 2025
       
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