# taz.de -- „Song of the Earth“ von Dirty Projectors: Waldbrände vorm Fenster und Gustav Mahler im Ohr
       
       > Die US-Band Dirty Projectors befasst sich mit der Klimakrise. Und mit
       > Mahlers Zyklus „Das Lied von der Erde“. Über beiden Werken liegt die
       > Vergänglichkeit.
       
 (IMG) Bild: Widerständiges Potenzial des Kollektivs: die Dirty Projectors. Mittendrin in Grün ihr Mastermind David Longstreth
       
       Begriffe, um unsere gegenwärtige Zeit in Worte zu fassen, gibt es viele.
       Termini wie Anthropozän, Spätkapitalismus oder Informationszeitalter,
       analytische oder diskursive Konzepte wie das des Postfaktischen. Welches
       davon sich schlussendlich durchsetzen wird, das entscheidet sich wohl erst
       in der Zukunft.
       
       Gut möglich, dass man dann noch einmal eine andere Richtung einschlagen und
       unsere Gegenwart auch in ihrer begrifflichen Beschreibung auf die der
       Klimakrise herunterbrechen wird. Vielleicht noch eingeteilt in eine
       Vorher-Phase, in der die weltweite Katastrophe noch hätte verhindert
       werden können, und in eine danach.
       
       Vorausgesetzt, dass zu der Zeit, zu der das begriffliche Urteil fällt,
       nicht bereits alles an kulturellen Errungenschaften, an Musik, Kunst und
       Büchern in Flammen aufgegangen ist, wird man sich im Speziellen jene
       Erzeugnisse ansehen, in denen schon lange, bevor alles unaufhaltsam wurde,
       vor den Folgen des Klimawandels gewarnt worden ist.
       
       ## Bedrohung wird zum Normalzustand
       
       Die zentrale Frage wird dann wohl lauten: „Was zur Hölle haben die damals
       eigentlich damit gemacht? Gelesen wahrscheinlich nicht.“ Und dann müsste
       man erklären, dass die Bedrohung durch die Klimakrise in ihrer Allgegenwart
       zu einem Normalzustand wurde. Eine dunkle Gewitterwolke, die sich partiell
       entlädt und mit der man sich so arrangiert hat.
       
       Das Ausmaß dessen, was da kommen könnte, wird einem wohl nur bewusst, wenn
       man selbst davon betroffen ist. So erging es dem
       Dirty-Projectors-Mastermind und Sänger David Longstreth. Wegen der
       Waldbrände im Jahr 2020 in Kalifornien verließen er und seine damals
       schwangere Frau ihren Wohnort in Los Angeles. Ein Katastrophenereignis, das
       Spuren bei ihm hinterlassen hat.
       
       Nun, fünf Jahre und einige Feuersbrünste später, erscheint mit „Song of the
       Earth“ ein neues Album der Dirty Projectors. Wenige Monate nachdem in
       Kalifornien durch Waldbrände abermals eine Fläche von mehr als 150
       Quadratkilometern und mehr als 10.000 Häuser zerstört wurden.
       
       ## Waldbrände in Kalifornien
       
       „Looking at my garden through a window / Looking at my garden through a
       window / I awoke to smoke / And I choked / A little“, heißt es im dritten
       Song dieses Albums. Mehr als wahrscheinlich, dass der Komponist sich hier
       auf die Erfahrung der Brände vor seiner Haustür bezieht. „It is worse, much
       worse, than you think / The slowness of global warming is a fairy-tale“,
       lauten die ersten Zeilen des Songs „Uninhabitable Earth, Paragraph One“.
       
       [1][Longstreth zitiert hier aus dem Buch „The Uninhabitable Earth: Life
       After Warming“ des US-Journalisten David Wallace-Wells, erschienen 2019].
       Die Prämisse des Autors: Wie schlimm das Leben mit der Klimakatastrophe
       wird, können wir uns gar nicht vorstellen. Auch weil viel zu wenig darüber
       gesprochen wird. Man könnte nun meinen, dass eine solch eindringliche
       Botschaft, übersetzt in Musik, mit einer gewissen Wut kommuniziert wird.
       
       [2][Allerdings handelt es sich in der Vertonung um ein Werk von David
       Longstreth, und damit sind Erwartungen fehl am Platz]. Die ersten Zeilen
       des Buchs werden im Song mit verfremdeter Stimme vorgetragen und klingen
       fast so, als hätte man sie von einer KI-Stimme einlesen lassen. Nach einer
       Weile setzt die Musik ein, langsam und zart, gefolgt von der Stimme von
       David Longstreth, die zu ihrer natürlichen Wärme zurückkehrt und die
       weiteren [3][Zeilen so eindringlich und ruhig wiedergibt, dass sie einem
       auch nach dem Ende des Songs im Kopf bleibe]n.
       
       Doch ist „Song of the Earth“ keine Ansammlung von Liedern zum nahenden
       Untergang der Menschheit. Betrachtet wird hier alles gleichzeitig. Natur,
       ihre Schönheit, der Mensch darin sowie Vergänglichkeit und Flüchtigkeit.
       Aber der Blick der Betrachtung wird gelenkt durch das, was drohen könnte.
       Eine Bestandsaufnahme, die eine Verlustliste werden könnte.
       
       ## „Das Lied von der Erde“
       
       Dass im Titel des Albums bewusst von einem Song und nicht von mehreren die
       Rede ist – sind es doch eigentlich 24 an der Zahl –, liegt an dem
       Liederzyklus, auf den sich Longstreth zum einen im Titel, aber auch im
       Inhalt bezieht: Gustav Mahlers 1908 komponierter Zyklus „Das Lied von der
       Erde“, der aus sechs Teilen besteht. Der österreichische Künstler selbst
       nahm als Textgrundlage Gedichte aus dem Band „Die chinesische Flöte“ des
       Dichters Hans Bethge, die allerdings nur indirekt aus seiner Feder
       stammten.
       
       Vielmehr handelte es sich um Werke chinesischer Dichter, die später ins
       Französische und dann ins Deutsche übersetzt wurden und sich mit
       Vergänglichkeit, Jugend, Natur und Abschied auseinandersetzen. Themen, die
       auch Mahler in der Entstehungsphase von „Das Lied von der Erde“
       beschäftigten. Die Uraufführung 1911 in München erlebte er selbst nicht
       mehr. Er starb wenige Monate zuvor.
       
       110 Jahre später, im Jahr 2021 und damit mitten in der Coronapandemie,
       bringen David Longstreth und seine Dirty Projectors dann zum ersten Mal
       ihren von Mahler inspirierten „Song of the Earth in Crisis“ auf die Bühne.
       Nicht in München, sondern in der [4][Elbphilharmonie in Hamburg.] Das
       Konzert findet in enger Zusammenarbeit mit dem in Berlin ansässigen
       Orchesterkollektiv Stargaze statt, das auch an „Song of the Earth“
       mitgewirkt hat.
       
       „Seit der Uraufführung von Gustav Mahlers ‚Lied von der Erde‘ hat sich
       unser Verhältnis zur Erde dramatisch verändert. Es schien also an der Zeit,
       diese Idee neu zu formulieren“, sagte Longstreth zur Uraufführung.
       
       ## Im Schlaf der Natur nah sein
       
       Umformulieren. [5][Das beschreibt die Herangehensweise des US-Künstlers
       sehr akkurat]. Denn Stimmung und auch Themen bleiben nah an der
       Inspirationsquelle. „Blue of Dreaming“ lautet der Titel von Song Nummer 23
       auf „Song of the Earth“. „So let’s dream of / The green of forests / That’s
       the green of being / And the blue of oceans / Cause that’s the blue of
       dreaming“ sind die letzten Zeilen darin. Die Bewusstseinsebene des
       Wachseins verlassen, um im Schlaf der Natur und ihren Farben nah zu sein.
       
       In der Komposition weniger pompös orchestriert als bei Mahler, schafft es
       Longstreth vor allem über den Einsatz der Streicher und ein flirrendes
       Summen der Stimmen, die Hörerin in diesen Zustand mitzunehmen.
       
       Auch Mahler bewegt sich in „Der Trunkene im Frühling“, dem fünften Satz
       seines Zyklus, zwischen Traum und Realität. Hier allerdings sind die
       Grenzen fließender, die Realität fühlt sich nach Traum an. „Was hör ich
       beim Erwachen? Horch! / Ein Vogel singt im Baum. / Ich frag’ ihn, ob schon
       Frühling sei, / Mir ist als wie im Traum.“ Über beiden Werken liegt die
       Vergänglichkeit. Bei Mahler seine eigene, bei Longstreth die der Erde, wie
       wir sie kennen. Beide begegnen ihr, indem sie sich an Vergangenem bedienen.
       
       ## Blick in die Zukunft
       
       Longstreths Blick schweift allerdings weiter voraus in die Zukunft – wobei
       das natürlich davon abhängt, wann mit der großen Katastrophe zu rechnen
       ist. Würde man David Wallace-Wells fragen, dann wahrscheinlich früher, als
       wir denken. David Longstreth begegnet dem nahenden Unheil allerdings nicht
       allein.
       
       Dreimal fordert er in den Songtexten des neuen Albums: „Cooperate!“ Und das
       hat er in allen erdenklichen Richtungen getan, um das neue
       Dirty-Projectors-Album zu veröffentlichen.
       
       „It takes a village“, lautet ein US-amerikanisches Sprichwort. Es braucht
       ein Dorf – eigentlich, um ein Kind zu erziehen, doch blickt man auf alle
       Beteiligungen an „Song of the Earth“, dann eben auch, um solch eine Werk
       auf die Beine zu stellen. Denn die Musik lebt nicht nur vom Genius des
       Frontmanns allein, sondern von Referenzen und von der kollektiven
       Zusammenarbeit mit Band und Orchester.
       
       ## Gegen Kulturpessimismus
       
       Gerade wird viel davon gesprochen, dass die Ära der Bands zu Ende geht, und
       bei aller Hinwendung zur KI-Musik, zu den Algorithmen der Streamingdienste
       und zu Tiktok-Hits scheint ein bisschen Kulturpessimismus sowieso
       angebracht, aber vielleicht verkennt man dabei das Potenzial des
       Kollektivs, das sich den ökonomischen Gegebenheiten besser anpassen und
       widerständig bleiben kann.
       
       Auch Vinyl ist äußerst widerständig. Zwischen 500 und 1.000 Jahre dauert
       es, bis sich das Material zu zersetzen beginnt. Sollte zumindest eine
       Pressung von „Song of the Earth“ die Zeit bis dahin überdauern und nicht
       Waldbränden, Tornados oder Überschwemmungen zum Opfer gefallen sein, dann
       bleibt zu hoffen, dass sich auch noch ein Plattenspieler findet, um dieses
       Album aufzulegen. Ja, der Klimawandel ist menschengemacht, aber wenigstens
       auch die Musik.
       
       7 Apr 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /!5632241&s=David+Wallace+Wells&SuchRahmen=Print/
 (DIR) [2] /YouTube-Tutorial-von-US-Band/!5681230
 (DIR) [3] /Berlin-Konzert-der-Dirty-Projectors/!5528494
 (DIR) [4] /Dirty-Projectors-Konzert-in-Hamburg/!5791005
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       ## AUTOREN
       
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