# taz.de -- YouTube-Tutorial von US-Band: Steht die Gitarre kopf?
       
       > Dave Longstreth ist Mastermind der US-Band Dirty Projectors und gibt Fans
       > Gitarrenunterricht bei Youtube. Dabei präsentiert er eine neue EP.
       
 (IMG) Bild: Ein Strauß voll Melodien: Dave Longstreth
       
       „Over, over, over, Overlord.“ Corona ist noch lange nicht over. Der zweite
       Quarantänemonat hat erst begonnen. Die Arbeit an uns selbst geht weiter im
       realexperimentellen Postkonsumismus. Zum Glück ist eine Gitarre im Haus.
       „How can you try not to help me? Help me!“ singt Dave Longstreth von Dirty
       Projectors und hält uns seine Klampfe vor die Linse. In seinem ersten
       Live-Gitarren-Tutorial geht es voran. Nach annähernd 20 Minuten sind wir
       bei der Bridge von „Overlord“, dem Titelsong der neuen EP „Windows Open“
       der Dirty Projectors, angelangt.
       
       Stolze 135 Follower haben sich live im Fenster des virtuellen
       Klassenzimmers [1][auf dem Youtube-Kanal der US-Band] eingefunden. „Bring
       the magic!“ ruft ihm ein Fan in der Kommentarleiste zu. Magie braucht
       Technik und Technik braucht Vermittlung und alles drei muss man üben, üben,
       üben.
       
       Gar nicht so einfach für den autodidaktischen Didaktiker Longstreth, das,
       was die Finger sonst wie von alleine auf dem Griffbrett aufführen, in Worte
       zu fassen. Alles stockt. Vor allem die Übertragungsqualität der
       Übungsstunde mit einem der einflussreichsten Komponisten und
       Musikproduzenten des frühen 21. Jahrhunderts stockt.
       
       „It’s weird that the internet got slower, when the virus came along.“ Kein
       Satz, kein Akkord unseres Lehrmeisters, der nicht von digitalen Glitches
       oder einem rotierenden Ladesymbol zerhackstückt wäre. Erschwerend kommt
       hinzu: Steht die Gitarre Kopf? Longstreth ist Linkshänder.
       
       ## Langsames Internet
       
       Mit „Windows Open“ hat Longstreth in enger Zusammenarbeit mit
       Ensemblemitglied Maia Friedmann seine Dirty Projectors wieder zu der Formel
       zurückgeholt, die er für die Interpretation von Black Flags „Gimme, Gimme,
       Gimme“ auf dem Album „Rise Above“ (2007) erfand und später für seinen
       Signatursong „Stillness is the Move“ beim Album „Bitte Orca“ (2009)
       perfektionierte: Ein gemischtes Quintett tiefenentspannter Indigo-Children
       (Millennials) singt und spielt trickreiche Arrangements in
       Geschwindigkeiten und Tonlagen, die alles im Kopf der Hörer:innen auf links
       drehen und das in einer verliebten Addition aus Hochleistungsakrobatik und
       Laisser-faire, aus Qual und Erlösung.
       
       Perfekt für den progressiven Produzenten-Pop der Postnullerjahre, denn in
       Folge standen zunächst Björk und Solange, später Kanye West Schlange und
       suchten die Kooperation mit dem Yale-Dropout. Dem Internetmagazin Pitchfork
       hat Longstreth einst verraten, dass sein ästhetisches Schlüsselerlebnis die
       Lektüre von John Miller Chernoffs „African Rhythm and African Sensibility“
       gewesen sei. Das Buch aus dem Jahr 1980 – die Kurzformel scheint zu sein,
       je besser die Beziehung einer Gruppe, desto schöner ihre Musik – kommt auf
       meine Corona-Leseliste. An Zeit ist ja gerade kein Mangel, denn frühestens
       in anderthalb bis zwei Jahren werden wir uns selbst aus der Isolation
       entlassen dürfen, sagt Bill „Microsoft“ Gates.
       
       Zurück zur Musikstunde. Wie hält Dave es mit dem Picking? „Na ja, wenn ein
       Akkord danach fragt, in einem Arpeggio aufgelöst zu werden?“ Tapfer sitzt
       Dave Longstreth an einem Montagvormittag in seinem fensterlosen Heimstudio
       in Los Angeles und merkt vielleicht gerade, dass er sich noch nie Gedanken
       über Zupfmuster gemacht hat.
       
       Youtube ist schon lange meine Musikschule. Meine Lieblingslehrer sind
       Manish Pingle, ein indischer Slideguitarspieler in Mumbai oder die
       weißbärtige, von Facebook inzwischen mehrfach geblockte Mucker-Legende
       Leland Sklar und sein aufregend hässlicher Bass: fünfsaitig mit
       Fächergriffbrett, auf den er einen fetten „Resist“-Bumpersticker aufgeklebt
       hat und mit dem er mir zu meiner allergrößten Verzückung den Smashhit
       „Sussudio“ von Phil Collins vorführt.
       
       Der Architekt und Erfinder Buckminster Fuller prophezeite übrigens 1962 in
       „Education Automation“ das gegenwärtige Zeitalter des selbstbestimmten
       Lernens, Äonen vor allen anderen. Schulen, Akademien, Universitäten, packt
       mal ein. Roll over, Overlord.
       
       28 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=KOxzMHLYD8U
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Volker Zander
       
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