# taz.de -- Die Kunst der Woche: Davor, dahinter und immer weiter
       
       > Drei Arte-Povera-Künstler suchen bei Konrad Fischer nach Bildern für die
       > Unendlichkeit. Bei Stallmann reiht Alizée Gazeau eine Herde Pferdesattel
       > auf.
       
 (IMG) Bild: Blick in die Ausstellung „Arte Povera“ mit der Arbeit „Albero grande solitario“ (1995) von Mario Merz im Vordergrund
       
       1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21… Das Prinzip hinter der Fibonacci-Zahlenfolge ist
       ganz einfach: Jede Ziffer ist die Summe der beiden vorangegangenen.
       Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci beschrieb damit im Jahr 1202 das
       Anwachsen einer Kaninchenpopulation. Anwenden lässt sie sich nicht nur auf
       viele Arten der progressiven Zunahme, sondern auch auf den Goldenen
       Schnitt, jenes perfekte Verhältnis bestimmter Maße oder Größen zueinander,
       das sich in der Natur wiederfindet und das die Kunst nachahmt.
       
       Im Werk von Mario Merz (1925–2003) nahm die Fibonacci-Reihe einen zentralen
       Platz ein, sie wurde zur Signatur seiner Kunst, als Ausdruck der denkenden
       Natur. Die Zahlen fügte er beispielsweise aus leuchtendem Neon in seine
       Arbeiten ein. So etwa auf einem unbetitelten Sprühfarbenbild des
       italienischen Künstlers aus dem Jahr 1982 und einer Collage aus 1998, die
       beide gerade in der [1][Galerie Konrad Fischer] in einer Gruppenausstellung
       zu sehen ist.
       
       Ihr Titel lautet so, wie der italienische Kunsthistoriker Germano Celant im
       Jahr 1967 jene Kunst benannte, die sich aus „armen“ Materialien wie Erde,
       Stein, Stahl oder Holz schöpft und für die Merz als einer der
       Hauptvertreter gilt: Arte Povera. Konrad Fischer zeigte Merz damals bereits
       kurze Zeit später, 1970 erstmals in seinen Räumlichkeiten in Düsseldorf.
       Seitdem immer wieder, auch weitere Vertreter wie Giovanni Anselmo
       (1934-2023) und Giuseppe Penone (*1947), deren Arbeiten jetzt wieder mit
       denen von Merz zusammenkommen.
       
       Rund um ein Iglo aus Stahl, Glas, Stein und Reisig von Mario Merz – noch so
       eine wiederkehrende Form des Künstlers – scharen sie sich. Zwei herrliche
       Skulpturen von Giuseppe Penone aus dessen Serie „Avvolgere la terra“ sind
       dabei, dem einfachen Formen mit der Hand gewidmet. Und ein aus
       Carrara-Marmor nachgebildeter Baumstamm, ebenfalls von Penone. Wie die
       Quintessenz all dessen wirkt Giovanni Anselmos Arbeit „Infinito“ – ein
       Diaprojektor, der eben jenes Wort auf das projiziert, was sich ihm
       entgegenstellt. Das Denken, das Wachsen, die Natur – alles unendlich.
       
       Es scheint etwas in der Luft zu liegen. In Paris entwickelte sich jüngst
       eine große Arte-Povera-Schau im Privatmuseum Bourse de Commerce zum
       riesigen Publikumserfolg. Bis zu dreitausend Besucher*innen sollen
       täglich dorthin pilgern. Vom Umfang mithalten kann die Galerieschau zwar
       freilich nicht, aber dafür gibt es dort genug Platz und Ruhe die Arbeiten
       von allen Seiten zu betrachten.
       
       ## Das Innere nach vorn
       
       Auch was Alizée Gazeau macht, hat durchaus gewisse Ähnlichkeiten mit der
       Praxis der Arte-Povera-Künstler. Wie diese arbeitet sie mit Alltäglichem,
       mit Gebrauchsmaterial, mit Fundstücken. Als Malerin hält sie Schatten und
       Spuren etwa von Fischernetzen fest. Die Objekte, denen sie ihre neue
       Ausstellung bei [2][Stallmann] gewidmet hat, fielen ihr im Jahr 2020 auf –
       und lassen sie seitdem nicht mehr los: Pferdesattel aus Leder.
       
       In der Galerie hängt eine ganze Herde davon in Reihe an den Wänden: „I'm
       Herdsman of a Flock“ („Ich bin Hüter einer Herde“) heißt die Schau,
       entlehnt hat sie den Satz aus einem Gedicht von Fernando Pessoa. Gazeau
       zeigt sie so, wie man sie nie ansieht, mit dem Inneren nach vorne. Auf
       diese Weise verwandelt sie die Sattel in monochrome Skulpturen, in denen
       man alles Mögliche sehen kann: Käfer und Schmetterlinge, einen Uterus,
       verwachsene, organische Objekte.
       
       Im direkten Vergleich nebeneinander werden dann auch Unterschiede zwischen
       ihnen sichtbar, größere und kleinere gibt es, schwärzere und braunere, aber
       auch der Gebrauch hat Spuren hinterlassen, Abnutzungen durch die
       Reiter*innen wie die Pferde. Fast scheint es, als würden sie ohne einen
       Körper, der sie benutzt, selbst zu einem werden, indem sich vielleicht
       sogar so etwas wie eine Persönlichkeit sichtbar wird. Wilder wirken manche,
       andere zahmer.
       
       17 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.konradfischergalerie.de/
 (DIR) [2] https://www.stallmann.club/im-herdsman-of-a-flock
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Beate Scheder
       
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