# taz.de -- Choreographin Gisèle Vienne in Museen: Im Saal der Schneewittchensärge
       
       > Langsames Anschleichen der Beunruhigung: Die Puppen der Regisseurin
       > Gisèle Vienne sind von der Bühne in zwei Berliner Museen gewandert.
       
 (IMG) Bild: Installationsansicht Gisèle Vienne „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“, Haus am Waldsee, 2024,
       
       Als Choreografin und Regisseurin konnte man Gisèlle Vienne schon
       kennenlernen in Deutschland. Zuletzt im Mai war ihr Stück [1][„Extra Life“
       beim Theatertreffen] in Berlin zu sehen. Es drehte sich um die Traumata
       eines Geschwisterpaares, die Erfahrung von Missbrauch und die
       Unmöglichkeit, darüber zu reden. Die Bühnensprache der
       französisch-österreichischen Künstlerin ist [2][seit gut zwei Jahrzehnten
       von einem extremen Umgang mit der Zeit] geprägt, von Dehnung und
       Verlangsamung, die der Rezeption immer eine große Anstrengung abverlangt.
       
       Jetzt tritt Gisèle Vienne mit gleich zwei Ausstellungen in Berlin als
       bildende Künstlerin auf, erstmals in Deutschland. Lebensgroße Puppen von
       Jugendlichen, die schon in den Bühnenstücken eine Rolle spielten, sind nun
       die Protagonisten stillgestellter, stummer Inszenierungen. Die Atmosphäre
       ist beklemmend, wie in ihren Stücken.
       
       Stille und Bewegungslosigkeit sorgen für ein langsames Anschleichen der
       Beunruhigung. Verharrt ein Betrachter vor den Tableaus, fügt er sich
       mühelos ins Bild – aber er kann gehen, die Puppen müssen bleiben. Ein
       Doppelgänger des Menschen, unheimlich in seiner Ähnlichkeit,
       mitleiderregend in seinem Ausgeliefertsein.
       
       Einem Saal voller Schneewitchensärge gleicht Viennes große Installation
       „Dolls in glass boxes“ (2003/2021) im Haus am Waldsee, in der die Puppen
       nebeneinander in Vitrinen auf dem Boden aufgebahrt – wie soll man anders
       sagen – sind. Ihre Augen sind zwar offen, sie sind nicht als Tote
       dargestellt, und doch erinnert das Szenario an einen Unfall- oder Tatort,
       gar ein Massaker.
       
       ## Jedes Kind einsam
       
       Im Obergeschoss gibt es 63 Fotoporträts von Puppen zu sehen, traurige
       Gesichter unter schwarzen oder silbergrauen Ponys, den Blick gesenkt, mit
       Spuren von Make-up und Spuren von Schlägen: Jedes Kind einsam, ein
       Außenseiter, möglicherweise von Gewalterfahrung und Ausgrenzung betroffen.
       Dazwischen ragt zweimal ein kleiner verfilzter Tierpuppenkopf knapp ins
       quadratische Format. Sie sind, das erkennt, wer Gisèle Viennes Film „Jerk“,
       den die Sophiensale in Berlin zeigten, gesehen hat, die Darsteller der
       Gehilfen eines Serienmörders. Ein makabres Spiel.
       
       Sowohl im Haus am Waldsee als auch im Kolbe Museum verblüffen die
       Installationen von sitzenden und stehenden Puppen, die nach Viennes
       Konzepten von Raphaël Rubbens, Dorothéa Vienne-Pollak und Gisèle Vienne
       gebaut wurden, mit ihrer Lebensechtheit. Im Kolbe Museum sitzt ein Mädchen
       einsam und ein wenig krumm auf einem Stuhl in der Ecke, Müll von Junkfood
       um sich verstreut.
       
       Die T-Shirts und Hoodies der Teenies, manchmal auch eine Halloween-Maske
       oder Klauenhände, weisen nicht wenige von ihnen aus als den Kulturen von
       Gothic und Black Metall nahe, Fans von Horrorfilmen, die die Unsicherheit
       und Identitätssuche in der Pubertät in Geschichten grausamer Verwandlungen
       transformieren.
       
       Aber auf eine solche Interpretation will Vienne nicht hinaus, im Gegenteil.
       Obwohl sie dieses klassische Teenage-Horror-Klischee zu bedienen scheint,
       geht es ihr gerade um dessen Dekonstruktion. Der Stillstand in den
       Installationen soll für diese Wahrnehmungsänderung den Raum öffnen. Zudem
       sind Texte als Lektüre, ein Essay von Elsa Dorlin, „Die Farben der Angst“,
       und ein Text von Vienne selbst, Teil der Präsentationen.
       
       Die strukturelle Gewalt von sozialen Normierungsprozessen, der definierende
       Blick von außen sind die Ziele von Viennes Kritik, eine in ihren Augen
       verdrängte Wahrheit. „Körper ertragen – natürlich sehr unterschiedlich,
       entsprechend der Situation – die anhaltende Brutalität, durch Machtsysteme
       definiert zu werden, doch diese kulturelle Gewalt wird oft genug als bloße
       Folge von umher wütenden Hormonen heruntergespielt“, sagt sie im Interview
       im Begleitheft. Geschichten von sexualisierter Gewalt sind nur ein Teil
       davon. In diesen Texten stecken berechtigte Fragen, aber sie transportieren
       auch viel Behauptung. Das stimmt nicht unbedingt mit dem Seherlebnis in den
       Ausstellungen überein.
       
       ## Verwischen der Geschlechtergrenzen
       
       Das Kolbe Museum hat die Präsentation von Vienne eingebettet in den Kontext
       von Künstlerinnen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die mit Puppen
       gearbeitet haben. Auch dort spielt teils das Verwischen der
       Geschlechtergrenzen eine Rolle, doch sind die Künstlerinnen weniger
       missionarisch unterwegs gewesen als Vienne.
       
       Zu entdecken gibt es viel: zum Beispiel groteske, insektenähnliche
       Marionetten von Käthe Rothacker, das König-Hirsch-Ensemble von Sophie
       Taeuber-Arp oder die Puppen von Marie Vassilieff. Oft sind es gerade die
       Fotografien, die die Künstlerinnen mit ihren Puppen zeigen, die vom
       Möglichkeitsspielraum dieser Werke erzählen.
       
       Mit den collagierten Mischwesen, die sie aus unterschiedlichsten
       Materialien gestalteten, schlugen die Künstlerinnen einen Weg der Autonomie
       und zu neuen Ausdrucksformen ein, nutzten dafür aber die ihnen als
       vermeintlich weiblich zugewiesenen Bereiche angewandte Kunst und Spiel.
       Ihre Puppen sind aufbegehrende Wesen, verschmitzt und mit Witz,
       spielerischer als die Installationen von Gisèle Vienne. In diesem
       Spannungsfeld aufzutreten, ist aber für beide Seiten bereichernd.
       
       27 Oct 2024
       
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