# taz.de -- Forscher Knutti über die Klimakrise: „Abwarten wäre der falsche Weg“
       
       > Extremwetter wie Hurrikan Milton werden durch den Klimawandel häufiger.
       > Forscher Reto Knutti fordert staatliches Handeln zur Meisterung der
       > Krise.
       
 (IMG) Bild: Mit Abwarten und Nichtstun werden Extremwetter wie Hurrikan Milton nicht bekämpft, Florida, 10. Oktober
       
       taz: Herr Knutti, noch vor wenigen Jahren gingen Hunderttausende Menschen
       bei [1][Fridays for Future] auf die Straße. Heute sorgen allenfalls noch
       die Klimakleber für Aufsehen. Warum hat das Interesse an der Klimakrise
       derart nachgelassen? 
       
       Knutti: Ich würde das nicht ganz unterschreiben. Wenn die Menschen in
       Umfragen gefragt werden, was ihre größten Sorgen sind, ist der Klimawandel
       immer noch hoch auf der Agenda, zum Teil extrem hoch. Es liegt in der Natur
       solcher Bewegungen, dass sie sich nicht über Jahre hinweg aufrechterhalten.
       Nach der enormen Wachstumskurve am Anfang gibt es zwei Möglichkeiten:
       Entweder solche Bewegungen radikalisieren sich oder sie zerfallen. Wir
       haben beides gesehen.
       
       taz: Theoretisch gäbe es noch eine dritte Möglichkeit: dass die
       Klimaproteste enden, weil die Politik den Klimaschutz konsequent umsetzt.
       Warum glauben Sie, kam es nie dazu? 
       
       Knutti: Auch Gegenbewegungen sind normal. Außerdem hatten die Leute in den
       letzten Jahren viele andere Sorgen, von Covid über den Krieg bis zur
       Inflation. Im Moment brennt die Welt an allen Ecken und Enden. In Zeiten
       von wirtschaftlichen und sozialen Spannungen kommen sofort rechtsnationale
       Tendenzen ins Spiel.
       
       taz: Mit der Folge, dass letztes Jahr das 1,5-Grad-Ziel, das die
       Weltgemeinschaft auf der Pariser Klimakonferenz beschlossen hat, zum ersten
       Mal gerissen wurde. Was bedeutet das fürs weltweite Klima? 
       
       Knutti: Die [2][1,5-Grad-Marke] wurde in einem Jahr überschritten. Das ist
       noch nicht gleichbedeutend damit, dass sich die Welt im langfristigen
       Durchschnitt um mehr als 1,5 Grad erwärmt. Aber es wird so weit kommen, das
       ist völlig klar. Irgendwann in den 2030er-Jahren passiert das. Wir sind
       nicht annähernd auf Kurs, weil geopolitische Themen gerade wichtiger sind.
       Der Umwelt- und Klimaschutz tritt in solchen Phasen immer zurück, obwohl
       der Klimawandel natürlich keine Pause macht. Wir sehen es überall an den
       Hochwassern, den Felsstürzen, den Waldbränden.
       
       taz: Auf welche Klimaveränderungen müssen wir uns Europa in den nächsten
       zehn, 20 oder 30 Jahren einstellen? 
       
       Knutti: Zehn Jahre sind vielleicht ein bisschen kurz. Aber wenn wir 30
       Jahre oder mehr in die Zukunft gehen, dann haben wir in den letzten Jahren
       einen Vorgeschmack bekommen: Hitzerekorde überall, Starkniederschläge,
       Dürre. Diese Ereignisse werden weit über das hinausgehen, was man in der
       Vergangenheit gesehen hat.
       
       taz: Welches dieser Phänomene verursacht die größten Schäden? 
       
       Knutti: Das kommt darauf an, wie man die Schäden definiert. Wenn man die
       Todesfälle betrachtet, ist es eindeutig die Hitze. In der Schweiz sterben
       schon heute mehr Menschen an Hitze als im Straßenverkehr. Ökonomisch sind
       es vor allem die Naturkatastrophen – Hochwasser ist unheimlich teuer. Die
       Dürren wirken sich auf die Nahrungsmittelversorgung und auch auf die Preise
       aus. Langfristig kommt der Meeresspiegelanstieg hinzu – was wiederum zu
       noch mehr Migration und geopolitischen Spannungen führen wird.
       
       taz: Ist der Klimawandel ein Problem der Städte oder trifft es vor allem
       den ländlichen Raum? 
       
       Knutti: Auch das ist unterschiedlich. Das Land hat Probleme mit der
       Trockenheit, die Berge mit Felsstürzen, Hochwasser und auftauendem
       Permafrost. Die Städte leiden vor allem unter der Hitze. Ich halte es aber
       für gefährlich, immer nur vor der Haustür zu schauen. Wir realisieren oft
       nicht, dass wir in Europa ökonomisch mehr vom Klimawandel im Ausland
       betroffen sind als vom Klimawandel innerhalb unserer Landesgrenzen. Die
       Schweiz ist nicht reich, weil sie Emmentaler herstellt, sondern weil sie
       ein globales Dienstleistungsland ist. Wenn es den Ländern um uns herum
       schlechter geht, spüren wir das.
       
       taz: Könnte es auch sein, dass die Wissenschaft sich täuscht und die Folgen
       am Ende doch nicht so schlimm werden? Zum Beispiel, weil der Golfstrom
       versiegt und sich unsere Hemisphäre dadurch abkühlt… 
       
       Knutti: Natürlich sind Temperatur-Prognosen nie ganz exakt. Aber sie sind
       genau genug, dass man starke Veränderungen sieht. Bei Kipppunkten wie dem
       Golfstrom sind die Unsicherheiten wesentlich größer. Dass wir uns komplett
       irren und die Temperaturen plötzlich in die andere Richtung gehen? Diese
       Wahrscheinlichkeit geht gegen null. Die Frage ist eher, was diese
       Unsicherheit bedeutet. Ist sie ein Grund, nichts zu tun und abzuwarten? Aus
       einer Risikoperspektive wäre das der falsche Weg. Gerade wenn die
       Spannbreite der Risiken groß sind – und damit auch die potenziellen Schäden
       –, sollte man lieber vorsichtiger sein.
       
       taz: Was aber leider nicht oft passiert. Nach der [3][Flutkatastrophe im
       Ahrtal] mit über 100 Toten und Milliardenschäden bauen viele Anwohner ihre
       Häuser an derselben Stelle wieder auf. Lernt die Menschheit nicht aus ihren
       Fehlern? 
       
       Knutti: Wir sind vor allem schlecht im Vorausschauen. Wenn man eine
       Versicherung abschließen soll für eine Katastrophe, die noch nie da war,
       werden das die meisten nicht machen. Wir vergessen und verdrängen auch sehr
       schnell. In Deutschland treten bei Naturkatastrophen immer wieder Politiker
       vor die Kameras und sagen: „Wer hätte das voraussehen können?“ Dabei haben
       wir es immer vorausgesagt! Die letzte Flut war sogar erst ein paar Jahre
       her. Es ist einfach politisch nicht attraktiv, Geld für etwas auszugeben,
       damit etwas nicht passiert.
       
       taz: Gibt es trotzdem positive Beispiele von Städten oder Ländern, die
       solche vorausschauenden Klima-Anpassungen vornehmen? 
       
       Knutti: Mehr oder weniger, vor allem in Orten, in denen solche Ereignisse
       regelmäßig passieren. Die Schweiz gehört zu den positiveren Beispielen,
       genau wie der alpine Raum insgesamt. Dort ist die Häufigkeit von
       Felsstürzen, Lawinen und Hochwassern groß genug, dass die Leute meist
       vorausschauend denken. Sobald aber mal 20 oder 30 Jahre nichts passiert,
       ist es damit schnell wieder vorbei. Mir fällt kein Land ein, das den
       Klimaschutz konsequent in allen Bereichen umsetzt.
       
       taz: In Interviews betonen Sie regelmäßig, dass Investitionen in den
       Klimaschutz langfristig sogar Geld sparen könnten. Wie meinen Sie das? 
       
       Knutti: Das ist sowohl bei der Anpassung als auch bei der Vermeidung der
       Fall. Beim Hochwasserschutz wissen wir, dass jeder investierte Euro mehr
       als einen Euro an Schäden einspart. Der verhinderte Schaden ist also größer
       als die Investition. Bei der Vermeidung verhält es sich ähnlich: Eine Tonne
       CO2 zu vermeiden, kostet weniger als die Schäden, die durch die Freisetzung
       entstehen würden. Und die sind hoch: Jede Tonne kostet zwischen 500 und
       1000 Franken, wenn man alle entstehenden Schäden zusammenrechnet.
       
       taz: Länder wie Frankreich setzen weiter auf Atomkraft, weil dadurch
       weniger Klimagase entstehen als bei der Kohleverbrennung. Wie stehen Sie
       als Klimaforscher dazu? 
       
       Knutti: Aus CO2-Sicht kann man die Atomkraft durchaus als klimafreundlich
       bezeichnen. Aber natürlich stellt sich die Frage, wie man mit dem Atommüll
       umgeht. Ich denke, dieses Problem ist lösbar. Nicht ganz so einfach sieht
       es mit dem Uran aus. Wo soll das alles herkommen? Am Ende ist die Atomkraft
       eine Übergangstechnologie. Sie ist relativ teuer, aufwändig, und es bleibt
       ein Restrisiko. In der Schweiz dauert es 20 bis 25 Jahre, bis ein neues
       Atomkraftwerk gebaut ist. Da sind die Alternativen wesentlich schneller,
       günstiger und ungefährlicher. Wind, Sonne und Geothermie kombiniert mit
       Wasserkraft und Batteriespeichern werden das Problem langfristig besser
       lösen. Wir haben kein Technologieproblem; die Lösungen liegen auf dem
       Tisch. Unser Problem ist, dass wir uns nicht einig sind, wie wir den
       Klimaschutz umsetzten, wo wir das tun und wer dafür bezahlt.
       
       taz: Da gibt es natürlich das beliebte Gegenargument: „Warum sollen wir uns
       für den Klimaschutz abrackern, während China und die USA weiter Kohle
       verfeuern?“ 
       
       Knutti: Die USA werden aus der Kohleverstromung aussteigen; sie ist heute
       schon massiv zurückgegangen. Auch das Argument mit China finde ich grotesk.
       Die [4][deutschen Automobilhersteller] haben heute schon Probleme, ihre
       Verbrenner dort zu verkaufen. China hat bei Photovoltaik und Batterien den
       Markt übernommen, und sie werden es auch bei Elektrofahrzeugen tun. Der
       Verbrennungsmotor hat keine Zukunft – nicht, weil man ihn verbieten müsste,
       sondern weil andere Technologien besser, angenehmer und günstiger sind.
       
       taz: Was halten Sie von der Idee, CO2 mit technischen Mitteln aus der
       Atmosphäre zu entfernen? 
       
       Knutti: Ohne die CO2-Entfernung geht es nicht. Gar kein CO2 mehr
       auszustoßen, wird in bestimmten Industrien einfach nicht möglich sein, zum
       Beispiel bei der Kunststoffherstellung oder in der Luftfahrt. Deshalb muss
       man die Emissionen an einem anderen Ort wieder entfernen. Im Moment ist das
       noch teuer, aber die Technologie existiert. Wenn die politischen Mehrheiten
       da sind, um den CO2-Preis zu erhöhen, wird sich dafür auch ein Markt
       eröffnen.
       
       taz: Was können Einzelpersonen für den Klimaschutz tun? 
       
       Knutti: Die größten Klimasünder sind Autos mit Verbrennungsmotor, Öl- und
       Gas-Heizungen, die Luftfahrt und die Ernährung. Das heißt: Besser ein
       kleines Fahrzeug nutzen, das mit Batterie fährt – oder ganz darauf
       verzichten. Weniger fliegen. Bei Gebäuden eine Wärmepumpe einbauen, am
       besten in Kombination mit Photovoltaik. Weniger Fleisch essen und überhaupt
       weniger konsumieren. Aber wir dürfen uns nicht blenden lassen: Ein so
       großes Problem wie die Klimakrise kann man nicht ohne den Staat lösen. Kein
       Individuum kann ein [5][Bahnnetz] bauen oder einen Radweg auf die Straße
       pinseln. Für funktionierenden Klimaschutz muss es einen verbindlichen
       politischen Rahmen geben, sei es ein Verbot, eine Subvention oder eine
       Steuer.
       
       13 Oct 2024
       
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