# taz.de -- Soziologe über Naturkatastrophen: „Die Gesellschaft lernt beim Extremwetter dazu“
       
       > Laut dem Soziologe Marcel Schütz geht die Gesellschaft immer besser mit
       > Naturkatastrophen um. Es gibt einen Fortschritt gegenüber der
       > Vergangenheit.
       
 (IMG) Bild: Hochwasserschutz zur rechten Zeit: Polderflächen an der Elbe bei Wolmirstedt im Februar 2024
       
       taz: Herr Schütz, der Klimawandel macht Extremwetter immer
       wahrscheinlicher. Wie gut sind wir in Deutschland vorbereitet?
       
       Marcel Schütz: Pauschal ist das nicht zu sagen. Es gibt Schwachpunkte, also
       Regionen, in denen durch menschliche Gestaltung, also Bebauung oder
       Infrastruktur, die Folgen einer Extremwetterlage gravierender ausfallen
       können. Bei Hochwasser ist das offensichtlich: Wenn beispielsweise ein
       Fluss stark begradigt und unmittelbar an die Zivilisation angebunden ist,
       kann das ein Hochwasser verschlimmern. Die Wassermenge muss irgendwo
       aufgefangen werden, aber wenn alles zu dicht bebaut, versiegelt und
       verschlossen ist, klappt es eben nicht. Dann kann es zu katastrophalen
       Lagen kommen.
       
       taz: Also erzeugen Menschen nicht nur den Klimawandel, sondern
       verschlimmern auch seine Folgen. Ist das ein neues Phänomen? 
       
       Schütz: Die Menschen der Vergangenheit kannten durchaus auch
       Naturkatastrophen, etwa das Magdalenenhochwasser von 1342. Weite Teile
       Deutschlands standen unter Wasser und es gab tausende Tote. Das ist ein
       frühes Beispiel dafür, dass das Ausmaß einer Naturkatastrophe soziale
       Gründe hatte.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Schütz: Der Auslöser war nicht menschengemacht: Es gab sintflutartige
       Regenfälle wegen eines natürlichen Klimawechsels. Aber im Laufe des
       Mittelalters hatte man aufgrund des Bevölkerungswachstums große Teile der
       Wälder abgeholzt, dadurch war der Boden sehr locker und verwundbar für das
       Hochwasser. Die Bodenerosion war unglaublich: Man hätte damit drei
       Güterzüge von der Erde bis zum Mond füllen können.
       
       taz: Also war schon damals menschliche Naturveränderung ein Problem? 
       
       Schütz: Deshalb fielen die Folgen dieses Wetterereignisses so drastisch
       aus. Selbst bei diesem sehr weit zurückliegenden, uns archaisch
       erscheinenden Unglück. Die Menschen waren schutzlos ausgeliefert und danach
       folgten Ernteausfälle, Seuchen und Hungersnöte.
       
       taz: Wie hat sich der gesellschaftliche Umgang mit solchen Katastrophen
       historisch verändert? 
       
       Schütz: Im Mittelalter galten solche Katastrophen noch als Gottesurteil und
       Strafe. Erst zu Beginn der Moderne entwickelte sich allmählich die
       Vorstellung von natürlichen Katastrophen, mit denen man irgendwie
       klarkommen muss. Mit den modernen Staaten hat sich dann eine regelrechte
       „Katastrophenorganisation“ gebildet, die viel Prävention beinhaltet, aber
       auch schnelle Hilfe im Notfall. Heute haben wir den [1][Anspruch, dass die
       öffentliche Verwaltung Sorge für unsere Sicherheit tragen muss.]
       
       taz: Man hat also aus solchen Unglücksfällen gelernt? 
       
       Schütz: Katastrophen hatten immer den Effekt, dass Rettungsorganisation und
       später Rettungsmedizin dazugelernt haben: Technisches Hilfswerk, Feuerwehr,
       Katastrophenschutz. Wir wissen heute, wie man Infrastrukturen so
       gestaltet, dass sie nicht im Extremfall das Unglück noch verschlimmern. Bei
       Flussbegradigung, Versiegelung, Abholzungen und beim Bau in Gewässernähe
       wird man vorsichtiger. Andererseits gibt es schon lange recht einfache und
       intelligente Infrastrukturen, durch die eine Extremlage nicht zur
       Katastrophe führt. Denken Sie nur an den Deichbau an Küsten und Flüssen.
       
       taz: Dieses Jahr gab es verheerende Hochwasser in Europa, bei denen die
       Präventionsstrukturen nicht ausgereicht haben – von der Flut im Ahrtal 2021
       ganz zu schweigen. Wieso? 
       
       Schütz: Bei der Ahrflut hat man es gesehen: Wenn man Jahrzehnte oder
       Jahrhunderte nicht mehr so schwere Ereignisse erlebt, wird man
       vergesslicher und [2][nachlässiger]. Außerdem laufen nicht immer alle
       Rettungsprozesse reibungslos. Allgemein kann man aber sagen: Die
       Gesellschaft [3][lernt hier dazu]. Aber das hat natürlich Grenzen, weil man
       auch nicht alles vorhersehen kann: Menschen werden immer mit Unheil durch
       Natur und Klima leben müssen.
       
       taz: Trotzdem werden Baugenehmigungen in Hochwasserlagen ausgestellt. 
       
       Schütz: Prävention ist einerseits politisch, andererseits auch eine
       individuelle Verantwortung: Extreme Witterungsbedingungen erfordern es,
       selbständig vorsichtig zu sein. [4][Letztes Weihnachten und Silvester waren
       Gebiete Norddeutschlands geprägt vom Hochwasser.] Die Leute wissen, dass es
       wieder zu Überflutungen kommen kann, aber einfach wegziehen wollen sie am
       Ende vielleicht trotzdem nicht. Das ist eine individuelle Abwägung.
       
       taz: Die Anpassung an die Klimakrise erfordert viel kollektive
       Verantwortung. Wo setzt man da an? 
       
       Schütz: Die Entwicklungen des Klimawandels gehen weit über die Lebensspanne
       eines Menschen hinaus. Abstrakt ist diese Vorstellung überfordernd. Viele
       Leute sind eher durch persönliche Betroffenheit empfänglich für das Thema,
       oder wenn sie das Leid anderer sehen. Das kann dazu beitragen, dass
       Menschen erkennen, dass man auch präventiv etwas tun, natürliche und
       soziale Strukturen anpassen muss. Stichwort Hitzewellen: Da muss man dann
       politisch überlegen, wie man genügend Grünflächen schafft, Belüftung und
       Klimatisierung in Städten optimiert. Es wird in den nächsten Jahrzehnten
       darum gehen, sich einem veränderten Klima anzupassen.
       
       20 Nov 2024
       
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