# taz.de -- Nach der Restitutionsdebatte: „Kunstwerke sollen auf die Straße“
       
       > Kuratorin Ken Aïcha Sy spricht über radikale Ansätze der Museumsarbeit im
       > Senegal. Sie fordert, dass europäische Sammlungsdepots dafür ihre Hoheit
       > aufgeben.
       
 (IMG) Bild: Die Kunsthistorikerin, Designerin und Kuratorin Ken Aïcha Sy aus Dakar
       
       wochentaz: Ken Aïcha Sy, derzeit tourt die viel beachtete Ausstellung „When
       We See Us“ über 100 Jahre panafrikanische Malerei durch Europa. Exponate
       aus dem Senegal sind dort häufig in Besitz des [1][Iwalewahauses in
       Bayreuth], das seit Langem Kunst aus dem Land sammelt. Sie suchten das
       Iwalewahaus auf, was haben Sie in seinen Depots gefunden? 
       
       Ken Aïcha Sy: Viel Wertvolles. Gemälde, aber auch Zeitungsartikel,
       Schriftstücke über Geldtransaktionen oder Transporte. Ich fand
       Negativfotos, die Kunstwerke und Veranstaltungen dokumentieren. Am
       spannendsten war es für mich, dort senegalesische Künstler:innen
       überhaupt erst zu entdecken. Zum Beispiel Amadou Bâ. Er hat mir die Augen
       geöffnet, durch ihn habe ich die Ästhetik der Négritude verstanden.
       
       Ihr Vater ist der bildende Künstler El Hadji Sy, eine wichtige Figur in der
       zeitgenössischen Kunst Senegals. Ein Großteil seines Archivs liegt im
       [2][Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main, El Hadji Sy] hatte eng mit
       dessen ehemaligem Kurator Friedrich Axt zusammengearbeitet. Wie war der
       Besuch dort? 
       
       In vieler Hinsicht brutal. Je tiefer ich in die Archive und Depots
       vordrang, umso mehr war ich vom riesigen Ausmaß der Sammlung schockiert.
       Ungeachtet der Frage, welches Museum das Recht hat, bestimmte Kunstwerke zu
       beherbergen, wurde mir dort klar, wie unglaublich es ist, dass so viel
       einzigartige Kunst in Bunkern eingeschlossen ist und niemand Zugang zu ihr
       hat.
       
       Sind nicht die europäischen Museen dabei, die Aufgabe ihrer riesigen Depots
       neu zu überdenken? 
       
       Es gibt Überlegungen, Kunstwerke aus ihrer Isolation und von den Vitrinen
       an den Wänden zu holen. Clémentine Deliss etwa mit ihrem Konzept des
       „Metabolischen Museums“. Deliss will die Sammlungen wieder zum Leben
       erwecken, sie zeigen, sie befragen und mit ihnen arbeiten. Als Direktorin
       des Weltkulturen Museums in Frankfurt lud sie Künstler:innen ein, sich
       mit den meist in schwarzen Kisten gelagerten Kunstgegenständen
       auseinanderzusetzen. Das war zunächst ungewohnt, die Sammlungsobjekte zu
       berühren, zu fühlen und zu bearbeiten, aber es eröffnete die Möglichkeit,
       über ihre übliche, museale Verwendung hinauszugehen.
       
       Welche Rolle spielt die Institution Museum im Senegal? 
       
       Länder mit kolonialer Vergangenheit müssen Zugang zu ihrer Geschichte
       haben. Orte, die mit der Geschichte verbinden, sind von großer Bedeutung,
       nicht nur für die Erinnerungsarbeit, sondern auch, um aus den dargestellten
       Ereignissen zu lernen, um einen Sinn für Ästhetik und kritisches Denken zu
       entwickeln. Im Senegal repräsentiert das Museum allerdings einen
       problematischen, unzugänglichen Raum. Die ersten Museen in Dakar ließ
       [3][Léopold Sédar Senghor], Senegals erster Präsident und Förderer der
       Kultur [der das Land von 1960 bis 1980 zunehmend autoritär regierte, Anm.
       d. Red.], nach westlichem Vorbild entstehen. Im Namen seiner Philosophie
       der Négritude gründete Senghor auch eine Kunstakademie, die École de Dakar,
       und veranstaltete Ausstellungen europäischer und afrikanischer
       Künstler:innen wie Pablo Picasso, Henri Matisse und Iba N'Diaye. Seine
       Institutionalisierung der schönen Künste verbreitete ein kulturelles Erbe
       durch Propaganda und Präsentation. Das hat wenig damit zu tun, [4][wie
       Kultur im Senegal außerhalb der Museumsmauern praktiziert wird]. Damals wie
       heute empfinden viele Menschen das Museum als fremd und veraltet, es
       spricht vor allem Ausländer oder die senegalesische Elite an.
       
       Die Restitutionsdebatte bringt auch die Frage nach der Verwahrung und
       Vermittlung von Kunstobjekten in den Herkunftsgesellschaften hervor. Wo
       soll das stattfinden, wenn nicht im Museum? 
       
       Wir müssen die Museen in Europa von denen im Senegal oder in Westafrika
       unterscheiden, die lokale Bevölkerung hier wird kaum dazu ermutigt, Museen
       aufzusuchen. Man müsste vielmehr dabei ansetzen, den Zugang zu Kunst, zur
       Kunsterziehung und zum Erhalt von Kunst zu demokratisieren. Einige im
       Senegal, wie die Künstlergruppe Laboratoire Agit’Art, fordern, dass
       Kunstwerke die Museen und Galerien verlassen und auf der Straße gezeigt
       werden sollten, an Orten, die alle Menschen erreichen. Kunst müsse mit der
       Gesellschaft geteilt werden können. Oder das Kollektiv Huit Facettes meint,
       Kunst solle aus den Städten herausgenommen und der Landbevölkerung in ihrem
       täglichen Leben gegenübergestellt werden. Dort könne sie ihre wesentliche
       Funktion erfüllen: einen kritischen Sinn wecken.
       
       Senegalesische Kunst in europäischen Museen sollte ihrer Meinung nach
       wieder in Kontakt mit der Gesellschaft gelangen, in der sie entstanden ist.
       Ihnen geht es dabei nicht um Rückgabe oder Besitzfragen, sondern? 
       
       Schauen wir uns die Kunstpraktiken außerhalb Europas an, wo die Kunst in
       das tägliche Leben integriert ist. Will man Museen neu konzipieren, müssen
       sie auch die soziale Realität und Dynamik widerspiegeln. Daher gibt es
       meiner Meinung nach eine doppelte Anforderung an das kulturelle Erbe
       Afrikas: Die europäischen Museen müssen ihre Archive und Depots öffnen und
       sich in Orte verwandeln, an denen Menschen aus aller Welt arbeiten können.
       Andererseits müssen afrikanische Institutionen das klassische Museumsmodell
       überwinden und sich in Bezug auf ihre Kunst- und Kulturtradition neu
       erfinden.
       
       Für eine Ausstellung zu Ihrem Rechercheprojekt „Survival Kit“ im
       IFAN-Museum ließen Sie keine originalen Kunstwerke aus europäischen Depots
       nach Dakar holen, stattdessen gibt es Reproduktionen von ihnen zu sehen.
       Warum? 
       
       Das hat mit meiner Erfahrung in europäischen Sammlungsdepots zu tun. Nur
       Reproduktionen zu zeigen, vermittelt die unterschwellige Konnotation: „Ich
       habe nicht das Recht, diese Ausstellung zu machen, sie geben es mir nicht“.
       Ein Archiv ist ein starkes Kontrollinstrument, auch wirtschaftlich. Kann
       man es sich nicht leisten, es zu erwerben, besitzt man nicht die Hoheit
       über ein kulturelles Erbe. Wenn ich Abzüge von originalen Kunstwerken
       ausstelle, dann versuche ich die mächtige Geltung von Depots und Museen zu
       umgehen und sozusagen einen modernen Weg zu finden, Wissen über die
       senegalesische Kulturgeschichte allgemein zugänglich zu machen.
       
       Aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Sophie Jung
       
       28 Jul 2024
       
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