# taz.de -- Proteste in Israel: Orthodox und gegen Bibi
       
       > Vor allem in Tel Aviv ist der Protest gegen die rechtsreligiöse Koalition
       > Israels stark. Doch auch bei Siedlern formiert sich Widerstand.
       
 (IMG) Bild: Orthodoxe Jüdinnen und Juden protestieren in der Siedlung Efrat gegen die Regierung
       
       Efrat taz | Moshe Beigel ist einer der ersten, die zur Demo kommen. Moshe
       ist nicht zu übersehen, er ist wohl an die zwei Meter groß. Er trägt ein
       dunkelblaues T-Shirt, auf dem in weißen Lettern steht: „Frei in unserem
       Land.“ Auf Hebräisch sind das nur zwei Wörter – „chofschi beartzenu“ – ein
       Zitat aus der israelischen Nationalhymne, Hatikwa. Wir befinden uns in der
       Siedlung Efrat, einige Kilometer jenseits der Grünen Linie, die seit dem
       Waffenstillstandsabkommen von 1949 als international anerkannte Grenze
       gilt. Knapp 12.000 Einwohner hat die Siedlung, die vor 40 Jahren gegründet
       wurde. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich einige palästinensische
       Städte und Dörfer.
       
       Es ist Samstagabend, kurz vor neun. Die Sonne ist vor einer guten Stunde
       untergegangen, der Schabbat ist vorbei. Seit Anfang dieses Jahres wird an
       vielen Orten in Israel an jedem Samstagabend gegen die Reformpläne der
       ultrarechten Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu protestiert. Viele
       im Land befürchten, dass die von der Regierung bereits in Gang gesetzte
       Justizreform, aber auch viele andere ihrer insgesamt 225 Gesetzesvorhaben,
       [1][die Gewaltenteilung aufheben und demokratische Rechte stark
       einschränken] werden.
       
       Zwar dominieren die Bilder der Massenproteste in Tel Aviv und Jerusalem die
       Berichterstattung, aber der Widerstand reißt auch an vielen kleinen Orten
       nicht ab. In Efrat versammeln sich an diesem Augustabend peu a peu gut 50
       Menschen. Sie tragen israelische Flaggen und haben blau-weiße Banner
       aufgehängt. Auf einem steht: „Links und rechts gegen die Zerstörung.“
       
       Ein Samstag wie jeder andere, und eine kleine Demonstration. Nichts
       Außergewöhnliches, könnte man meinen. Kämen die Menschen, die hier
       demonstrieren, nicht aus dem nationalreligiösen Lager. Sie wohnen in der
       Siedlung und der nahen Umgebung. Auch Moshe Beigel lebt seit 30 Jahren mit
       seiner Familie hier. Vor 40 Jahren ist er aus Großbritannien nach Israel
       eingewandert.
       
       Efrat gilt als moderate Siedlung. Hier werden die Straßen am Schabbat nicht
       für den Verkehr geschlossen. Es leben religiöse Menschen aller
       Schattierungen hier, inzwischen auch einige säkulare Israelis, erzählt
       Moshe Beigel. „Wir kommen meist sehr gut miteinander klar. Wir hoffen, dass
       das so bleibt.“ Die Gegend ist schön, das Klima angenehm, die Wohnungen
       sind billiger.
       
       Tel Aviv ist weit weg. Dort schwitzen die Leute jetzt in der schwülen
       Abendhitze. In Efrat weht ein kühler Wind. Alle Männer auf der kleinen
       Demonstration tragen Kippa, viele Frauen haben ihr Haar bedeckt. Die
       meisten bezeichnen sich als orthodox.
       
       Auch Moshe Beigel trägt Kippa. Das hat er schon als junger Mann in London
       getan. Er trug seine Kippa, obwohl er sich mit ihr als Jude outete und im
       England der 1970er und 1980er Jahre nicht vor antisemitischen Anfeindungen
       sicher fühlen konnte. Er war immer stolz darauf, die Kippa zu tragen, sagt
       Moshe. Inzwischen sei er zwar weniger stolz als früher, aber das sei nun
       mal seine Identität. „Und die lasse ich mir von niemand wegnehmen.“ Moshe
       Beigel reagiert inzwischen auf seine eigene Kippa wie viele säkulare
       Menschen in Israel. Sie ist für sie zum politischen Symbol für den
       Rechtsruck, wenn nicht gar für eine drohende Diktatur durch die Extremisten
       der Siedlerbewegung geworden, die nun in Netanjahus Regierung den Ton
       angeben.
       
       Als Folge des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 hatte die israelische Armee das
       Land zwischen der Waffenstillstandslinie von 1949 und dem westlichen Ufer
       des Jordan besetzt. Die Zeit der Siedlungsbewegung war gekommen: Die Männer
       vom Gusch Emunim – „Block der Treuen“ – präsentierten sich wie die alten
       Siedlerpioniere in ausgemusterten Armeeparkas und groben Hemden, darunter
       lugten allerdings die weißen Schaufäden hervor, die orthodoxe Juden tragen.
       
       Sie stürmten Mitte der 1970er Jahre „wie ekstatische Anhänger einer
       kultischen Sekte“ ins israelische Bewusstsein, schrieben die Historikerin
       Idith Zertal und der Journalist Akiva Eldar, die vor 20 Jahren [2][die
       erste umfassende Studie über die Bewegung vorlegten.] Seitdem habe die
       Siedlungsbewegung der israelischen Gesellschaft ihren Stempel aufgedrückt.
       
       Die Erlösungsideologie des Gusch Emunim gründete sich auf die Schriften von
       Zvi Yehuda Kook, dessen Vater Avraham Jitzchak Hacohen Kook Anfang des 20.
       Jahrhunderts nach Palästina eingewandert war. Kook, der Ältere, erklärte,
       der künftige Staat Israel werde der heilige „Wohnsitz Gottes“ sein. Theodor
       Herzl, den Vordenker des modernen Staats Israel, lobte er als Messias aus
       dem Hause Joseph, weil Herzl die Rückkehr nach Zion eingeleitet hatte.
       
       Der säkulare Zionismus stimme mit dem göttlichen Plan überein, erklärte
       Kook. Kook war ein anerkannter Schriftgelehrter, der den künftigen Staat
       Israel mit Blick auf seine religiöse Bedeutung interpretierte. Sein Sohn
       Zvi Yehuda Kook wurde jedoch zur führenden spirituellen Kraft einer Gruppe
       nationalreligiöser junger Leute, die den inzwischen gegründeten säkularen
       Staat verändern wollten, „der nicht zulässt, dass die Tora Israels Gestalt
       bestimmt“. Mit den Mitteln direkter Aktion und politischer Einflussnahme
       wollten sie selbst am göttlichen Erlösungsplan mitwirken. Sie würden das
       ganze Land besiedeln.
       
       [3][Unterstützt wurde der Gusch Emunim dabei von allen israelischen
       Regierungen], ob links oder rechts. Der Block war keine Partei, sondern
       eine Erlösungsbewegung, die ständig neue Siedlungen errichtete und vor
       Hetzkampagnen gegen Politiker nicht zurückschreckte, wenn diese weniger
       messianischen Eifer an den Tag legten als sie selbst. Der Bewegung gelang
       es im Lauf der Jahrzehnte, Abermillionen Schekel in die Infrastruktur von
       Siedlungen zu lenken – und die Nationalreligöse Partei in eine immer
       extremere Richtung zu drehen, bis diese sich auflöste. Heute sitzen die
       „Soldaten des Messias“ in der Regierung.
       
       Tsuf Peles ist einer von denen, die mit anderen Augen auf den
       nationalreligiösen Teil der Bevölkerung blicken als früher. Tsuf Peles
       wohnt in Tel Aviv. Er lebt säkular, denkt liberal und arbeitet in der
       Hightech-Branche. Er ist ein typischer Vertreter der Tel Aviver
       Protestbewegung. Als er gefragt wurde, ob er einen deutschen Journalisten
       von Tel Aviv nach Efrat bringen könne, meldete er sich bei mir. Orthodoxe
       Juden aus einer Siedlung, die gegen die Regierung demonstrieren und für die
       Demokratie kämpfen? Das wollte er sich auch selbst gern anschauen.
       
       Wenn er heute einen Mann mit Kippa sähe, erzählt mir Tsuf im Auto auf dem
       Weg nach Efrat, frage er sich unwillkürlich, ob das auch einer dieser
       Extremisten sei, die sich gegen die israelische Demokratie verschworen
       haben. Dass das ein Klischee ist, weiß Tsuf Peles. Der Gedanke sei ihm
       unangenehm, aber er lasse sich nicht mehr verscheuchen. Der Graben zwischen
       Säkularen und Gläubigen ist tiefer geworden – und eben deswegen will Tsuf
       mich nach Efrat fahren. Er zeigt auf den Verkehr vor uns: „Schau, wir
       fahren hier gemeinsam mit Palästinensern, das ist normal und es sollte auch
       normal sein, wir leben hier zusammen.“
       
       Moshe Beigel aus Efrat weiß inzwischen, wie es ist, mit den Augen von
       Leuten angeschaut zu werden, die vorbehaltlos hinter der Regierung stehen –
       obwohl er selbst aus dem nationalreligiösen Lager kommt: „Als ich kürzlich
       von einer Demonstration in Jerusalem kam – ich hatte eine israelische Fahne
       dabei – rief mir jemand aus dem Auto zu: ‚Geh doch zurück nach Berlin!‘“
       Die Botschaft war unmissverständlich: Leute wie Moshe, die gegen die
       Regierung demonstrieren, hätten in Israel nichts zu suchen. Sie seien
       bestens in der Diaspora, in Berlin aufgehoben, wohin es viele Israelis
       wegen der schwierigen Wirtschaftslage, [4][aber auch wegen der Dominanz
       rechter Politik in ihrer Heimat gezogen hat.]
       
       Das traf Moshe Beigel ins Herz. „Ich bin ein Kind von
       Holocaustüberlebenden. Mein Vater stammt aus Hannover, meine Mutter aus
       Moers. Eines meiner Kindheitstraumata ist, dass uns in England Leute anonym
       anriefen und sagten: Geht zurück nach Deutschland!“ So etwas nun auch hier,
       in Israel, zu hören, sei sehr traurig, sagt Moshe. „Aber wir werden es
       schaffen, wir haben keine andere Wahl.“
       
       Sie seien zwar nur ungefähr hundert, die in Efrat gegen die Regierung und
       für Demokratie demonstrieren. Es falle vielen nicht leicht, auf eine
       Demonstration zu gehen, meint Moshe. Dass das versprengte Häuflein am
       Verkehrskreisel aber nicht allein auf weiter Flur ist, zeigt sich, wenn
       Autos vorbei kommen und die Fahrerinnen und Fahrer zustimmend hupen.
       
       Allerdings haben bei der letzten Wahl 48 Prozent der Wählerinnen und Wähler
       in Efrat für die Religiösen Zionisten gestimmt, auf deren Liste sich auch
       die Splitterparteien Otzma Yehudit und Noam befanden. Sie gaben ihre
       Stimmen also dem nationalreligiösen Extremismus. Die Partei des Religiösen
       Zionismus wurde vom mythischen „ersten Siedler“ Hanan Porat auf den
       Trümmern der einst als Kraft der linken Mitte geltenden Nationalreligiösen
       Partei gegründet.
       
       Der derzeitige Vorsitzende der Religiösen Zionisten, Bezalel Smotrich, ist
       Finanzminster der Regierungskoalition. Er ist bekennender Homophober und
       Ultranationalist. Nach einem Mordanschlag auf zwei junge Siedler in Huwara
       und einem darauffolgenden Pogrom radikaler Siedler hatte Smotrich erklärt,
       der Staat solle die palästinensische Kleinstadt dem Erdboden gleichmachen.
       Später bat er dafür um Entschuldigung.
       
       Der Vorsitzende der Noam, der zweiten Partei auf der Liste der Extremisten,
       ist ein Rabbiner. Er hat sich vor allem mit seiner Feindseligkeit gegenüber
       der LGBTIQ-Gemeinde einen Namen gemacht. [5][Itamar Ben-Gvir] von Otzma
       Jehudit, der dritten Partei im Bunde der religiösen Ultranationalisten, ist
       ein Schüler von Rabbi Meir Kahane, der in den 1980er Jahren vor leerem
       Plenum sprechen musste, wenn er in der Knesset eine Rede hielt. Trat er ans
       Pult, verließen bis auf den Parlamentsvorsitzenden und die Stenotypistin
       alle Mitglieder der Knesset den Saal. Die Brandmauer gegen Extremisten
       stand damals noch. Selbst das nationalreligiöse Lager wollte mit Kahane
       nichts zu tun haben. Heute ist sein Schüler Itamar Ben-Gvir als Minister
       für die Sicherheit des Landes und damit auch für die Polizei
       verantwortlich.
       
       In einer Talkshow sagte Ben-Gvir jüngst einem arabisch-israelischen
       Journalisten, der in der Runde saß: „Sorry, Mohammad, mein Recht, das Recht
       meiner Frau und meiner Kinder, sich frei in Judäa und Samaria zu bewegen,
       ist wichtiger als die Bewegungsfreiheit von Arabern. Das Recht auf Leben
       ist wichtiger als das Recht, sich ungehindert bewegen zu können.“
       
       Judäa und Samaria sind die biblischen Namen für die von Israel
       kontrollierten Gebiete westlich des Jordans. Moderate Kritiker Ben-Gvirs
       warfen dem Minister daraufhin Rassismus vor. Linke kommentierten trocken,
       Ben-Gvir beschreibe doch nur, wie es auf der Westbank zugehe. Das Problem
       sei nicht das Bekenntnis des Ministers zu jüdischer Überlegenheit, sondern
       die Tatsache, dass sie seit Jahrzehnten von Staat und Armee gegenüber den
       Palästinensern durchgesetzt werde.
       
       Ich frage Moshe Beigel, warum er heute Abend hier ist. „Wir machen uns
       Sorgen über die demokratische Zukunft Israels“, antwortet er. Sie wollten
       Israel als moderne, offene Gesellschaft erhalten. Inzwischen ist er
       optimistisch, dass die Protestbewegung Erfolg haben wird. „Die Regierung
       beginnt langsam zu verstehen, dass die Mehrheit der Menschen in Israel
       gegen eine Diktatur ist. Religiösen Fanatikern wird es nicht gelingen, eine
       säkulare jüdische Gesellschaft zu ruinieren.“
       
       Politisch stehe er rechts, sagt Moshe – eben deswegen sei er hier. Der
       Likud, die Partei des Ministerpräsidenten, der er früher selbst angehörte,
       gehe in die Irre. „Vor Kurzem wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben als
       Linker bezeichnet – von einem meiner Nachbarn. Dabei bin ich alles andere
       als ein Linker.“ Moshe Beigel ist Zionist. Er betrachtet die Gebiete
       westlich des Jordans als einen Ort, an dem Juden leben können sollten.
       Efrat ist nur zwölf Minuten von Jerusalem entfernt.
       
       Er könne den Tempelberg von seinem Haus aus sehen. „Das ist kein fremdes
       Land hier,“ sagt er, und ergänzt: „Kein Araber wurde von diesem Stück Land
       hier vertrieben. Wir leben so friedlich wie möglich mit unseren arabischen
       Nachbarn zusammen, aber wir müssen realistisch sein.“ Wie stellt er sich
       die Zukunft des Landes vor? „Alle bleiben in ihren Häusern, keiner muss
       wegziehen. Es soll einen jüdischen Staat geben und ein wie auch immer
       geartetes Gemeinwesen für die Araber, über das noch entschieden werden
       muss.“
       
       Inzwischen ist die Versammlung am Verkehrskreisel in Efrat größer geworden,
       und Avidan Freedman, Anzughose, blaues Hemd, greift zum Mikrofon. Die Leute
       bilden einen Halbkreis. Freedman ist einer der Organisatoren des Protests
       in Efrat. Der ausgebildete Rabbiner arbeitet als Lehrer in einer Schule für
       Jungen in Jerusalem. Dort unterrichtet er den Talmud, jüdische Geschichte
       und Recht. Dass er sich politisch einmischt, ist für ihn nichts Neues. Vor
       einigen Jahren hat er eine Organisation gegründet, die sich gegen
       israelische Waffenexporte an Diktaturen engagiert.
       
       Freedman zitiert aus dem Abschnitt der Tora, der an diesem Schabbat gelesen
       worden ist. Es trifft sich, dass dieser Abschnitt vom Recht handelt, dem
       sich auch die Könige zu beugen haben. Die berühmteste Stelle lautet:
       „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst du nachjagen, damit du Leben
       hast und das Land in Besitz nehmen kannst, das der Herr, dein Gott, dir
       gibt.“
       
       Auf Freedman folgen weitere Rednerinnen und Redner. Ein Rabbiner zitiert
       aus den Schriften von Kook, dem Älteren. Auch ein Ex-General, der einige
       Jahre das Büro von Netanjahu geleitet hat und nun gegen dessen neue
       Regierung kämpft, hat die Einladung nach Efrat angenommen. Zwischendurch
       wird Musik gespielt. Am Ende singen alle die Nationalhymne.
       
       Vorher aber hat sich noch Tsuf Peles gemeldet und gefragt, ob er auch ein
       paar Worte sprechen dürfe. In Tel Aviv zu demonstrieren sei keine Kunst,
       sagt er, hier aber schon. Dafür zolle er den Demonstranten von Efrat
       Respekt. Es sei in der Tat nicht leicht, erzählt nach dem Ende der Demo
       eine Frau, die schon lange in Efrat lebt. Weder mit ihren Nachbarn könne
       sie über die Lage im Land sprechen, noch mit ihrer Familie. Alle stünden
       vorbehaltlos hinter der Regierung. Das schmerze sie, weil es hier nicht um
       Politik gehe, sondern um grundlegende Werte, über die sich doch alle einig
       sein sollten.
       
       ## Aus den Augen, aus dem Sinn
       
       Andere Gläubige haben es leichter. In einem Interview, das ich später mit
       Shira Ben Sasson Furstenberg via Zoom führe, erklärt mir die Aktivistin,
       sie lebe im Süden Jerusalems in einer Welt, in der sich Religiösität und
       Linkssein nicht ausschließen. Shira Ben Sasson Furstenberg ist orthodox.
       Sie bedeckt ihr Haar, wenn sie das Haus verlässt. Aber sie geht in eine
       egalitäre Synagoge, in der auch Frauen aus der Tora lesen. Sie kommt wie
       die Siedler in Efrat aus dem nationalreligiösen Lager. Ihr Großvater Josef
       Burg, der aus Deutschland stammte, war Vorsitzender der Nationalreligiösen
       Partei und Minister in verschiedenen israelischen Regierungen.
       
       Shira Ben Sasson Furstenberg ist stellvertretende Direktorin des [6][New
       Israel Fund], einer Organisation, die sich für eine gerechte und inklusive
       Gesellschaft einsetzt, und sie ist Mitglied der kurz nach den Wahlen
       gegründeten Gruppe HaSmol HaEmuni – die Linke der Gläubigen. „Wir haben den
       Namen gewählt, weil in unserer Gruppe das gesamte traditionelle religiöse
       Spektrum vertreten ist, von orthodoxen bis ultra-orthodoxen Gläubigen.“ Als
       Kind habe sie in der Jugendbewegung der Nationalreligiösen Partei gelernt,
       sich ein Dreieck vorzustellen, erzählt sie. Dessen drei Ecken bestünden aus
       dem Volk, dem Land und der Tora Israels, und es sei die Aufgabe aller,
       diese drei Punkte in ihrem täglichen Tun zu verknüpfen. Heute stehe im
       nationalreligiösen Milieu das Land über allem, kritisiert sie.
       
       Für die erste Konferenz, die HaSmol HaEmuni in Jerusalem organisierte,
       meldeten sich knapp 1.000 Menschen an, 700 kamen. Dann begann die Gruppe,
       auch zu Demonstrationen zu gehen. Als Zehntausende im Juli nach Jerusalem
       marschierten, [7][um gegen die Verabschiedung des ersten Teils der
       Justizreform in der Knesset zu demonstrieren], brachte Shira Ben Sasson
       Furstenberg die Torarolle ihrer Familie zur Zeltstadt der Protestierenden
       in der Nähe des Parlaments. Dort folgten an die hundert Menschen dem Ruf
       von HaSmol HaEmuni zum Gebet.
       
       Die Symbolwirkung der Teilnahme gläubiger Juden an den Protesten ist kaum
       zu unterschätzen. Denn einer der Gründe der derzeitigen Spaltung des Landes
       liegt in der Unterscheidung zwischen „Juden“ und „Israelis“. Einer der
       amerikanischen Spindoktoren Benjamin Netanjahus erfand diesen Unterschied,
       um aus dem Antagonismus politisches Kapital zu schlagen: Die Unterstützer
       Netanjahus sollten das Gefühl haben, sie verträten das jüdische Erbe,
       während alle anderen verrückte Linke seien, die ihr Judentum angeblich
       vergessen hätten.
       
       Nun aber gibt es auch orthodoxe Juden aus dem nationalreligiösen Lager, die
       gegen die Regierung und ihre Politik demonstrieren. Das dürfte den
       Thinktanks, die Netanjahu mit Strategien für den Kulturkampf füttern,
       Kopfzerbrechen bereiten. Mit jeder orthodoxen Jüdin, mit jedem gläubigen
       Juden, die gegen die Regierung auf die Straße gehen, bröckelt das
       spalterische Narrativ der Regierung.
       
       Ein anderes Ergebnis ihrer Politik dürfte der Regierung noch weniger
       gefallen. Die Israelis haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, die
       Besatzung zu verdrängen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Im Zuge der
       Demokratiebewegung sind jedoch jene Stimmen lauter geworden, die sagen, es
       habe keinen Sinn, über Demokratie zu sprechen, wenn über die Besatzung
       geschwiegen wird. Die Parole „Es gibt keine Demokratie mit Besatzung“ war
       anfangs nur aus dem linken „Block gegen die Besatzung“ zu hören. Inzwischen
       wird auch auf der großen Protestbühne in Tel Aviv und im Fernsehen über die
       Besatzung und ihre Folgen für die Demokratie gesprochen.
       
       Am Verkehrskreisel in Efrat ist es ruhig geworden. Die meisten sind auf den
       Weg nach Hause. Die Kinder müssen ins Bett, morgen ist ein Arbeitstag.
       Avidan Freedman hat Flaggen und Plakate eingesammelt und die Tonanlage
       wieder abgebaut. Von Tsuf Peles, der auch hier sein Protest-Shirt aus Tel
       Aviv trägt, will er noch wissen, wo man am besten Shirts bedrucken kann.
       Bevor Avidan aufbricht, fasst er den Tenor der Versammlung zusammen.
       Historisch habe sich der religiöse Zionismus als Brücke zwischen religiösen
       und nationalen Ideen, zwischen dem Universellen und dem Partikularen
       begriffen, erklärt er.
       
       „Ich sehe es so: Israel kann nicht als jüdischer Staat überleben ohne eine
       starke Verbindung zum Judentum. Israel kann aber auch nicht als jüdischer
       Staat überleben, ohne sich zur Demokratie und zu den Menschenrechten zu
       bekennen.“ Das motiviere ihn und die anderen, hier, in einer Siedlung auf
       der Westbank, zu demonstrieren. Sie seien religiöse Juden, die gegen den
       Strom schwimmen. „Die Leute, die heute hier waren, definieren sich als
       religiös und rechts,“ sagt er. „Aber aus diesen Werten ergibt sich die
       Einstellung, dass die Regierung nicht nur dem Zusammenhalt der israelischen
       Gesellschaft sehr schweren Schaden zufügt, sondern auch dem Judentum
       selbst.“
       
       Dann fährt auch Avidan Freedman nach Hause. Am nächsten Samstagabend wird
       er wohl wieder hier sein.
       
       17 Sep 2023
       
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       Am Wochenende knirscht es in Nahost an verschiedenen Orten: zwischen Israel
       und Palästinensern, aber auch mit dem nördlichen Nachbarn Libanon.
       
 (DIR) Netanjahu trifft Biden in den USA: Trotz Differenzen unerschüttert
       
       Nach langem Warten hat Netanjahu am Rande der UN-Generalversammlung
       US-Präsident Biden getroffen. Die Staatschefs brauchen einander politisch.
       
 (DIR) Israelische Militäreinsätze: Sechs Palästinenser getötet
       
       In den palästinensischen Gebieten hat Israels Armee mehrere Menschen
       getötet. In Jericho hätten Palästinenser Soldaten mit Sprengsätzen
       beworfen.
       
 (DIR) Justizreform in Israel: Beschwerde gegen Botschafter Seibert
       
       Der Diplomat Steffen Seibert besucht die Beratung des Obersten Gerichts in
       Jerusalem zur Justizreform. Nun beschwert sich der Außenminister.
       
 (DIR) 30 Jahre Osloer Abkommen: Kein Partner, nirgends
       
       30 Jahre nach dem Handschlag von Rabin und Arafat scheint ein Frieden im
       Nahen Osten ferner denn je. Schuld daran sind beide Seiten
       
 (DIR) Justizreform in Israel: Ringen um die Rechtsstaatlichkeit
       
       Israels Justizumbau hat das Land in eine Krise gestürzt. Nun entscheiden
       die obersten Richter, ob sie die Einschränkung ihrer Macht akzeptieren.
       
 (DIR) Proteste für Frauenrechte in Israel: Gegen Geschlechtertrennung im Alltag
       
       Manche Regierungsparteien fordern, Männer und Frauen in der Öffentlichkeit
       zu trennen. Zur Empörung darüber äußerte sich Ministerpräsident Netanjahu.