# taz.de -- Provenienzforscherin über Raubkunst: „Haben so einiges aufzuarbeiten“
       
       > Ute Haug hat als Provenienzforscherin in Hamburg mit Raubkunst zu tun.
       > Schwierig wird es, wenn die eine NS- und koloniale Vergangenheit hat.
       
 (IMG) Bild: Sie schaut, ob da eventuell auch Blut an den Bildern klebt: Ute Haug in der Hamburger Kunsthalle
       
       wochentaz: Frau Haug, sind Sie eigentlich aus autobiografischen Gründen zu
       Ihrem Beruf als Provenienzforscherin gekommen?
       
       Ute Haug: Nein, das hat sich eher so ergeben. Schon in der Schule habe ich
       mich für Geschichte und NS-Geschichte interessiert, allerdings eher unter
       wirtschaftlichen Aspekten. Außerdem liegt es ein bisschen in der Familie:
       Bei meiner Generation gibt es wohl in jeder Familie Ungereimtheiten. In
       einem Familienzweig hat zum Beispiel jemand bei meiner Großmutter ein
       Zimmer gemietet, der ein Straflager für Kriegsgefangene leitete. Im anderen
       Teil der Familie gab es jemanden, der Menschen aus genau diesem Lager zur
       Flucht verhalf. Die ganze Bandbreite war da – und viele Fragezeichen. Denn
       in dieser Generation gab es wenig Kommunikation und aus meiner Generation
       wenig Fragen. Und wenn wir Enkel mal gefragt haben, kamen eher vage
       Äußerungen, in denen allenfalls Atmosphärisches mitschwang.
       
       Niemand hatte konkrete Erinnerungen? 
       
       Doch. Mein Vater hatte noch einige Bilder im Kopf. Die Familie wohnte
       damals in Memmingen nahe am Bahnhof, und sie haben Waggons gesehen, in
       denen Juden deportiert wurden. Mein Vater war damals noch ein Kind, aber er
       hat es so geschildert, dass ich davon ausgehe, dass er es wirklich so
       gesehen hat. Meine Großmutter wiederum hat bei einer von Jüdinnen
       geleiteten Drogerie gelernt und erwähnte manchmal im Nebensatz: „Plötzlich
       waren sie weg.“ Wir Enkel haben nachgefragt, aber mehr war nicht zu
       erfahren. Solche Lücken haben mein Interesse an der NS-Zeit sicherlich
       befördert, so erkläre ich mir das im Nachhinein.
       
       Gab es in Ihrer Familie der Raubkunst verdächtige Gegenstände? 
       
       Nein, da bin ich mir ziemlich sicher. Das Haus meiner Großmutter wurde in
       den frühen 1930er Jahren von meinem Großvater gebaut. Er war Architekt und
       hat alle Möbel selbst entworfen und fertigen lassen. Darüber hinaus gibt es
       zwar einige Gemälde, aber man kann genau zuweisen, woher sie stammen. Ich
       habe es im Nachhinein mal geprüft, um zu wissen, ob in meiner Familie etwas
       Unrechtmäßiges liegt. Aber das war für mich nicht erkennbar.
       
       Wie gelang es, dass Sie Deutschlands erste fest angestellte
       Provenienzforscherin an der [1][Hamburger Kunsthalle] wurden? 
       
       So etwas gelingt, wenn Kulturverantwortliche und Kulturpolitiker das
       wirklich wollen und am selben Strang ziehen. In diesem Fall waren es der
       damalige Kunsthallendirektor Uwe M. Schneede und Hamburgs Kultursenatorin
       Christina Weiß.
       
       Was hat Herrn Schneede bewegt, was bewegt Sie? 
       
       Von Herrn Schneede hat man immer wieder gehört: Er möchte nicht, dass da
       Werke hängen, die unrechtmäßig gehandelt wurden und – so formulierte er es
       – Blut an sich haften haben. Das war ihm zuwider, und das wollte er
       bereinigt wissen. Er hat am Anfang wie viele andere gedacht: Nach einem
       Jahr ist diese Arbeit erledigt. Aber das war nicht so, und nach fünf Jahren
       ist meine Stelle entfristet worden. Die Phase dazwischen war nicht immer
       leicht für mich, weil es eine prekäre Situation ist, wenn man nie weiß, wie
       es weitergeht.
       
       In der Provenienzforschung kein Einzelfall. 
       
       In der Tat ist das ein bis heute ungelöstes Problem: dass viele dieser
       Stellen und Arbeiten, die eigentlich einen langen Atem brauchen, derart
       kurz und befristet sind, dass immer wieder dieses wichtige fundamentale
       Wissen verloren geht: Wo liegen welche Akten, wer weiß vielleicht noch
       etwas. Das kann man nicht alles für die Person, die vielleicht die nächste
       Projektstelle bekommt, dokumentieren. Die Expertise, die sich jemand
       erarbeitet, ist unbezahlbar, und es ist sehr unökonomisch, diese Leute
       immer wieder ziehen zu lassen.
       
       Ist die Hamburger Kunsthalle immer noch das einzige Museum mit einer
       unbefristeten Stelle? 
       
       Nein, das gibt es inzwischen unter anderem auch in München, Berlin, Dresden
       und Leipzig. Aber bei Weitem noch nicht in allen Häusern, die es nötig
       hätten.
       
       Welche Mentalität braucht man als ProvenienzforscherIn: DetektivIn,
       BuchhalterIn? 
       
       So pauschal kann man es nicht sagen. Aber man braucht schon einen gewissen
       Instinkt, ein Gespür für sensible Punkte. Wenn man sich ein Kunstwerk und
       seine Geschichte anschaut, muss man die richtigen Fragen stellen. Und die
       sind sehr speziell: Wir ProvenienzforscherInnen stellen zwar auch die
       klassischen Fragen der Ethnologie oder der Kunstgeschichte, aber auch
       andere Fragen, weil wir den gesamten historischen Kontext im Blick haben.
       Da wir aber mit vielen Personen und Institutionen in Kontakt treten,
       brauchen wir angesichts des immer noch emotional besetzten Themas auch
       Diplomatie und Einfühlungsvermögen. Es geht auch darum, Ängste zu nehmen,
       weil die Adressaten sich vielleicht angegriffen fühlen, wenn man sie mit
       Raubkunst in Verbindung bringt. Und was das Fachliche betrifft, brauchen
       wir viel Wissen zur NS-Zeit, jüdischer Geschichte, Kolonialgeschichte, zu
       Wirtschaftsgeschichte und Jura. Außerdem müssten wir
       DatenverarbeitungsexpertInnen sein – am besten alles in einem.
       
       Erzählen Sie mal von einer Recherche, die Sie persönlich gepackt hat. 
       
       Generell entwickelt man natürlich eine gewisse Routine. Denn man kann diese
       belastenden Familiengeschichten nicht immer an sich heranlassen. Aber ein
       Fall hat mich gleich zu Beginn meiner Arbeit an der Hamburger Kunsthalle
       sehr umfänglich berührt. Es geht um die Sammlung des jüdischen Unternehmers
       Max Silberberg aus Breslau. Neben seiner Sammlung hat ihm der NS-Staat
       damals auch seinen Wagen geraubt. Als ich den Fall damals bearbeitete, habe
       ich mir über diesen Wagen keine Gedanken gemacht. Heute frage ich mich: Was
       war das für ein Autotyp, gibt es noch Quellen? Inzwischen gibt es ja auch
       an manchen Technikmuseen ProvenienzforscherInnen und man könnte das
       recherchieren. Besonders ist auch, dass Silberberg noch 1934 Kunstwerke
       kaufte, obwohl er hoch verschuldet war. Woher hatte er das Geld? Damals
       konnten wir das nicht genauer recherchieren, weil ich noch nicht in
       Breslauer Archive fahren konnte, aber heute ginge das.
       
       In anderen Fällen ergab sich eine spannende Lösung. 
       
       Ja. Da gab es ein niederländisches Renaissancegemälde, das dem Kreis um
       [2][Tobias Verhaecht] zugeschrieben wurde, die „Landschaft mit der Flucht
       nach Ägypten“, ein religiöses Motiv also. Die Erben des jüdischen Berliner
       Kunsthistorikers und Sammlers Curt Glaser erhoben Anspruch auf das Bild.
       Glaser, der 1933 als Leiter der Berliner Kunstbibliothek entlassen wurde,
       emigrierte erst in die Schweiz und 1941 in die USA, wo er 1943 starb. Das
       erwähnte Bild wurde – neben vielen anderen – vor seiner Emigration auf
       einer Auktion versteigert. Aber Glasers andere Werke auf dieser Auktion
       entstammten einer ganz anderen Epoche – der Klassischen Moderne. Das hat
       mir keine Ruhe gelassen. Ich hatte immer das Gefühl, das Verhaecht-Bild
       gehöre nicht dazu. Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich also
       weitergeforscht und herausgefunden, dass es wirklich nicht Glaser gehörte,
       sondern Hanns Fischer. Er war Glasers Rechtsbeistand, und als er im
       NS-Staat als jüdischer Anwalt immer stärkeren Repressalien ausgesetzt war,
       beschloss auch er zu fliehen, und er gab das Bild mit in die Auktion.
       
       Wie reagierten Glasers Erben? 
       
       Als wir ihren Anwälten unsere Erkenntnisse mitteilten, suchten sie nach den
       Erben Hanns Fischers beziehungsweise besorgten sich dafür ihr Mandat. Mit
       ihnen konnte die Kunsthalle dann eine Vereinbarung treffen. Das sind kleine
       Erfolge, bei denen man sich freut, dass man die Geschichte differenzierter
       wieder ans Tageslicht bringt und auch – ein großes Anliegen von uns
       ProvenienzforscherInnen – für viele Familien eine andere Art der Erinnerung
       schafft. Denn auf der Suche nach rechtmäßigen Erben ermitteln wir Daten,
       die auch für die Nachfahren, die bis in die heutige Generation ein gewisses
       Trauma tragen, wichtige Lücken schließen. Mit denen sie ihre Herkunft
       klären, ihre Identität näher bestimmen können.
       
       Die Information ist also das Wichtigste für die Nachfahren? 
       
       Das kann man so generell nicht sagen. Das ist in jeder
       Familienkonstellation anders und hängt davon ab, wie die Geschichte
       verlaufen ist. Wie verstreut sie zum Beispiel waren in der Familie. Dann
       können die betreffenden Kunstwerke für die Familien ein Anlass, vielleicht
       auch Ort sein, wieder zusammenzukommen. Wir haben tatsächlich manchmal
       Familien, die untereinander keinen Kontakt mehr hatten oder nicht
       voneinander wussten, zusammengebracht.
       
       Können Sie kurz erklären, wie Sie konkret vorgehen bei Ihrer Arbeit zur
       Erforschung der Provenienz? 
       
       Ich sehe das Werk und sammle erst mal, als „Warm-up“, alle Informationen,
       die ich hier im Haus bekommen kann: in unserer Datenbank, in der Werkakte,
       sofern vorhanden. Vieles findet sich auch in der
       Museumsmanagement-Datenbank MuseumPlus. Mit diesen Informationen im
       Hinterkopf gucke ich mir das Motiv des Bildes an, auch die Rückseite und
       den Rahmen: Gehört er zum Bild oder ist er neu? Damit beginnt die
       eigentliche Recherche zur Werkgeschichte: In den hausinternen Archivalien
       lese ich die Ankaufskorrespondenzen und anderen Schriftverkehr und prüfe
       zudem das Inventarbuch. Daraus ergeben sich meist weitere
       Forschungsansätze: Es tauchen Namen von GaleristInnen, anderen
       BesitzerInnen, AuktionatorInnen, KunsthändlerInnen auf. Dann muss ich
       schauen: Wo hat die Person gelebt, in welchem Kontext, von wann bis wann,
       gibt es noch einen Nachlass, wo finde ich den? Dafür frage ich andere
       Archive an. Das kann – je nachdem wie alt das Werk ist – vom Zeitpunkt des
       Ankaufs bis ins 14. Jahrhundert zurückgehen. Manchmal gehe ich auch in der
       Zeitleiste nach vorn – je nachdem welche Lücke ich schließen muss. All das
       dokumentiere ich, jeden Schritt der Provenienzkette, auch den Status:
       „geklärt und unbedenklich“ oder „ungeklärt und bedenklich“.
       
       Welche Rolle spielte der von Ihnen mitinitiierte Arbeitskreis
       Provenienzforschung dabei? 
       
       Er ist ein für uns WissenschaftlerInnen unglaublich wichtiges Netzwerk. Wir
       unterstützen einander in der Forschungsarbeit und wissen, dass wir unsere
       Informationen sehr vertrauensvoll weitergeben können. Wir wissen auch, dass
       wir das alles für eine „gute Sache“ tun – für die gesellschaftlich
       relevante Aufarbeitung dieser Epoche. Andererseits versuchen wir uns auf
       unseren Tagungen auch öffentlich Gehör zu verschaffen und feste Stellen
       einzufordern. Und das betrifft nicht nur die NS-Zeit. Bei der
       Provenienzforschung zum Kolonialismus wiederholt sich dieses strukturelle
       Problem: Es entstehen derzeit viele Projektstellen. Dabei braucht man
       ForscherInnen, die langfristig wichtige Grundlagenarbeit leisten und zum
       Beispiel die Archive aufarbeiten.
       
       Berührt Ihre Recherche auch den Kolonialismus? 
       
       Da ich auch den Bereich Sammlungsgeschichte betreue, trenne ich das ohnehin
       nicht. Und wir haben in der Hamburger Kunsthalle im kolonialen Kontext so
       einiges aufzuarbeiten. Denn unsere GeldgeberInnen haben in der Kolonialzeit
       gelebt und ihr Geld in Übersee verdient. Bei unserem Mäzen Alfred Beit,
       einem 1906 verstorbenen deutsch-britisch-südafrikanischen Gold- und
       Diamantenmagnaten, liegt es zum Beispiel auf der Hand. Bei anderen sieht
       man es nicht auf den ersten Blick. Deshalb haben wir schon vor einiger Zeit
       mit der Aufarbeitung der Geschichte auch dieser StifterInnen begonnen.
       
       Wie verfahren Sie mit Werken, die eine NS- und dazu eine Kolonialgeschichte
       haben? 
       
       So einen Fall hatten wir noch nicht, aber grundsätzlich ist das nicht
       ausdiskutiert: Wie geht man damit um, wenn man weiß: Eine Familie ist in
       der NS-Zeit geschädigt worden, aber es gibt auch eine koloniale
       Kontaminierung. Das ist in den ethnologischen Museen eine noch größere
       Problematik, weil dort ja tatsächlich Artefakte aus Ursprungsgesellschaften
       lagern. Das haben wir in der Kunsthalle nicht. Aber wenn ich ein Objekt aus
       einer geschädigten Ursprungsgesellschaft hätte, das in der NS-Zeit bei
       einem geschädigten jüdischen Sammler war, wird es schwierig: Man kann ja
       schlecht ein Geschichtsranking machen nach dem Motto: „Wer ist der
       Geschädigtere?“ Das ist dann ein ethisches Problem, das über unseren
       Forschungsbereich hinausgeht. Wir liefern die Fakten. Die Frage: „Gibt es
       jemanden oder eine Gruppe, die einen größeren Anspruch hat?“, muss dann
       vielleicht eine Ethikkommission oder eine gesamtgesellschaftliche Debatte
       klären.
       
       Bezweifelt eigentlich noch jemand die [3][Notwendigkeit von
       Provenienzforschung]? 
       
       Selten. „Schlussstrich“-Äußerungen hört man zwar immer wieder, aber es gibt
       zum Glück genug andere Menschen, denen bewusst ist, dass
       Provenienzforschung weit über die faktische Klärung der Geschichte eines
       Kunstwerks hinausgeht. Wir generieren sehr viel Wissen für die
       kunsthistorische Forschung, aber auch in Bezug auf gesellschaftliche
       Entwicklungen, Geschichte, Erinnerungsarbeit und so weiter. Wir erhellen
       Kontexte. Denn die ausschließlich ästhetische Wahrnehmung und Bewunderung
       eines Objekts reichen nicht. Wenn ich heute in ein Museum gehe und keinen
       Kontext mitgeliefert bekomme, ist das nicht mehr zeitgemäß. Die
       BesucherInnen wollen nicht nur wissen, was dargestellt ist und welche
       Bedeutung es in den verschiedenen Epochen hatte. Sie wollen auch erfahren,
       woher das Werk kam, wie es herkam, welche Geschichte es hat.
       
       19 Nov 2022
       
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