# taz.de -- Shelly Kupferberg und ihr Buch „Isidor“: „Außer Schmerz nichts zu finden“
       
       > Die Berliner Autorin Shelly Kupferberg hat in Wien recherchiert. Was
       > geschah 1938 mit Onkel Isidor? Und was mit dem Besitz ihrer jüdischen
       > Familie?
       
 (IMG) Bild: Shelly Kupferberg in Wien vor dem Haus, in dem ihr Urgroßonkel Isidor Geller wohnte
       
       taz am wochenende: Frau Kupferberg, Sie haben das Buch Ihrem Urgroßonkel
       Isidor gewidmet. Warum ihm? 
       
       Shelly Kupferberg: Vor einigen Jahren moderierte ich eine internationale
       Tagung in Berlin. Da ging es um NS-Raubkunst und Provenienzforschung. Und
       während dieser Tagung kam mir der Gedanke: Du hast doch selber einen
       angeblich so wahnsinnig reichen Urgroßonkel gehabt, der in Wien lebte – und
       Isidor geheißen haben soll.
       
       Und was hatte dieser Isidor mit NS-Raubkunst zu tun? 
       
       Isidor lebte bis zum „Anschluss“ Österreichs 1938 an das Nazireich in einer
       riesigen Wohnung in einem Wiener Palais. Und dieser großbürgerliche Onkel,
       das fragte ich mich nun, muss doch auch Kunst und vieles mehr besessen
       haben. Was ist daraus geworden?
       
       Wie wurde in Ihrer Familie über Isidor geredet, wie war die Überlieferung
       zu ihm? 
       
       Isidor hieß ursprünglich Israel. Er kam aus der jüdischen Ultraorthodoxie,
       aus dem Osten Galiziens, einem kleinen Schtetl bei Lemberg. Auch fast alle
       seine Geschwister haben beim Weggang in die Stadt ihre jüdisch klingenden
       Namen abgelegt. In Wien schien Isidor eine wichtige Persönlichkeit gewesen
       zu sein, nicht nur innerhalb der Familie Grab-Geller. Er hatte sich aus
       ärmlichsten Verhältnissen hochgearbeitet. Im K&K-Reich der Habsburger
       brachte er es zum Kommerzialrat. Er war vermögend, in den 1920er- und
       1930er-Jahren ein bekannter juristischer und ökonomischer Berater.
       
       Seine Geschichte nimmt 1938 eine üble Wendung. 
       
       1938 war ein brutaler Bruch in seiner Biografie. Mein Großvater Walter hat
       uns als Kinder davon erzählt. Walter ist der Wiener Neffe Isidors in meinem
       Buch. Walter musste sich als Jugendlicher an Sonntagen im Palais Isidors
       einstellen. Isidor gab dort Mittagessen für die Crème de la Crème der
       Stadt.
       
       Wo war das Palais in Wien? 
       
       Die Wohnung war in einem Palais der Rothschilds, gleich am Ring, in bester
       Wiener Lage, gleich hinter dem Musikverein.
       
       Wo haben Sie selbst als Kind gelebt? 
       
       In Berlin. Meine Großeltern sind allesamt emigrierte Juden aus Berlin, Wien
       und Hildesheim. Meine Eltern sind schon in Palästina beziehungsweise Israel
       geboren. Ich bin auch noch in Israel geboren. Wir zogen über Umwege nach
       Westberlin als ich ein Jahr alt war. In den Sommerferien sind wir weiterhin
       zu den Großeltern nach Tel Aviv gereist. Die blieben dort bis zu ihrem
       Lebensende, haben uns aber auch in Berlin besucht. Speziell Walter hat uns
       viel erzählt.
       
       Bei „Walter“ handelt es sich um den Historiker Walter Grab? 
       
       Ja. Walter konnte immer alles schön mit Daten und Zusammenhängen einordnen.
       Mein Großvater erzählte uns von Isidor. Walter bekam an den Sonntagen bei
       den Banketten in Wien von Onkel Isidor immer knifflige Fragen gestellt. Der
       Großvater mimte das sehr eindrücklich. Onkel Isidor pflegte nach dem
       Mittagessen aufzustehen. Er klopfte gegen ein Glas und sagte: „Walter, steh
       auf!“ So mit autoritärer Stimme, das konnte Walter super nachmachen. Auch
       wie er dann, der Walter, aufsprang. Stille am Tisch. Dann fragte der Onkel
       Isidor: Wer schlug die Schlacht im Jahre so und so? Wer machte dies und
       das? Die Fragen waren nie abgesprochen. Und die Gäste durften den jungen
       Walter und seine richtigen Antworten bestaunen. Isidor sagte dann: „Setzen,
       Walter! Bestanden.“ Und warf ihm ein paar Münzen zu.
       
       Walter berichtete Ihnen auch, wie Isidor 1938 gefoltert und ausgeplündert
       wurde? 
       
       Walter erzählte uns von Isidors Ende, von der Verhaftung. Es war immer die
       eine Szene. Einen Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Nazireich ging
       Walter zum Palais, nicht wissend, ob ein Essen stattfindet. Onkel Isidor
       selbst öffnete die Tür, was ungewöhnlich war, dies taten sonst Bedienstete.
       Isidor sagte: „Walter, heute findet kein Mittagessen statt.“ Walter riet
       Isidor, zu fliehen. Gleich gegenüber residierte Hitler im Hotel Imperial.
       Isidor wollte davon nichts hören. Er war ein paternalistischer Patriarch,
       der sich von einem jungen Menschen nichts sagen ließ.
       
       Was geschah dann? 
       
       Isidor schickte Walter weg und wurde ein paar Stunden später verhaftet.
       Mein Großvater Walter hat immer wieder gesagt: Wie konnte Onkel Isidor nur
       die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig interpretieren.
       
       Warum nicht? 
       
       Walter glaubte, Isidor hätte zu sehr an seinem Besitz gehangen. Er habe
       sich nicht vorstellen können, dass auch ihm dieser ganze Hass galt.
       
       Hat sich über die Recherche Ihr Bild der familiären Erzählung stärker
       verschoben? 
       
       Vielleicht in Bezug auf Galizien, also das ärmliche Leben vor dem späteren
       Aufstieg in Wien. Mein Großvater hatte über Galizien eher abschätzig
       gesprochen. Er kannte es selbst nur aus den Erzählungen seiner Mutter, der
       Schwester Isidors. Die hatte sich sehr mühsam aus dieser superarmen,
       ultraorthodoxen, galizischen Realität herauswinden müssen.
       
       Einen Teil des Vermögens erwirtschaftete Isidor im Ersten Weltkrieg? 
       
       Ja und ich habe mich natürlich gefragt: wie? Als die Nazis sein Vermögen
       raubten, war er mehrfacher Millionär.
       
       Wie kam er zu dem Besitz? 
       
       Offenbar mit nicht immer ganz lauteren Mitteln. Er war zunächst ein
       auffallend guter Schüler. Das eröffnete ihm Wege. Er studierte Jura,
       absolvierte eine Ausbildung an einer Import-Export-Akademie. Er wurde nicht
       zum Ersten Weltkrieg eingezogen, weil er als Sekretär in einem
       kriegswichtigen Lederwarenbetrieb arbeitete. Er stieg schnell auf, wurde
       Direktor des Betriebs und dann der Lederzentrale Österreichs. Ein hoher
       Posten, wahrscheinlich tätigte er da auch Nebengeschäfte. Er war einer
       [1][dieser typischen Selfmademen und -women des Habsburger Reiches]. Vieles
       befand sich im Umbruch. Wien war zu dieser Zeit, wie Berlin auch, eine
       Stadt in der etwa 200.000 Jüdinnen und Juden lebten. Viele Assimilierte,
       die sich nicht offen als Juden zeigen wollten.
       
       In Ihrem Buch gibt es auch eine weibliche Entsprechung zu Isidors Aufstieg.
       Die Schauspielerin Ilona Hajmássy. 
       
       Im Tel Aviver Fotoalbum meines Großvaters Walter gibt es Bilder von Isidor
       und Ilona. Die Familie schaute wohl argwöhnisch auf diese Liaison Isidors.
       In Hollywood nannte sie sich später Ilona Massey. Sie kam aus ärmlichen,
       ungarischen Verhältnissen. Ihre erste Ehe endete tragisch. Isidor
       protegierte sie, finanzierte ihr Gesangsunterricht, organisierte kleinere
       Rollen an der Wiener Staatsoper, damals Hofoper. Sie hatte Nebenrollen im
       österreichischen Film, mit Heinz Rühmann. Sie ging vor den Nazis in die
       USA, war nicht jüdisch, hat in großen Hollywoodfilmen mitgespielt. Mit der
       jungen Marilyn Monroe oder den Marx Brothers.
       
       Hat es Sie große Überwindung gekostet, in Wien zu recherchieren? 
       
       Ja und nein. Ich war fast ein bisschen besessen davon, herausfinden, was
       damals geschah. Es sind so viele Träume und Lebensentwürfe, die durch die
       Katastrophe der Shoah brutal beendet wurden. Das schmerzt. Bis heute. Und
       dann war da die Frage, was ist mit dem Eigentum der Familie Grab-Geller
       passiert? In den Archiven habe ich die Vermögenserklärung Isidors finden
       können. Jeder Jude, jede Jüdin musste ja den kompletten Besitz auflisten,
       unter Androhung höchster Strafen.
       
       In der Haft wurde er unter Folter gezwungen, alles den Nazis zu übertragen. 
       
       Er musste unterschreiben. Bei Isidor ging es nach heutigen Maßstäben um
       viele Millionen. Neben Bargeld, Konten und Wertpapieren, besaß er feinstes
       Interieur, eine große Bibliothek, Kunstgegenstände, Gemälde, kostbare
       Teppiche, Juwelen, Porzellan und vieles mehr. Mein Großvater Walter hat die
       letzten vier Wochen in Wien, bevor er nach Palästina ausreisen konnte, bei
       Isidor nach dessen Folterhaft gelebt. Die Nazi-Sachverständigen gingen ein
       und aus, haben seinen Besitz geschätzt und vermessen. Isidor war absolut
       gebrochen und zerstört.
       
       Es gibt diese Szene in Ihrem Buch, als ihr Großvater Walter Grab 1956 an
       der Tür der früheren Wohnung in Wien klingelt. 
       
       Walter war 1956 zum ersten Mal überhaupt wieder nach Europa und Wien
       geflogen. Er wollte schauen, was und wer noch existierte. Wie die
       Atmosphäre ist. Er ging immer wieder zum Bauernfeldplatz. Im neunten Wiener
       Bezirk. Dort, in der elterlichen Wohnung, hat er die 19 Jahre seines Wiener
       Lebens verbracht. Er schaute auf die Klingelschilder. Die meisten Familien
       waren nicht mehr da. Der neunte Bezirk war ein bürgerlicher Bezirk vor dem
       Krieg, in dem sehr viele Juden lebten. Das Hausbesorger-Paar war noch das
       gleiche wie früher, wohnte nur in einer anderen Etage. Er hat sich gefreut
       und bei ihnen geklingelt.
       
       Was geschah dann? 
       
       Die Frau öffnete ihm die Wohnungstür, wurde kreidebleich und hat nur
       gebrüllt: „Der Jud ist wieder da!“ Daraufhin hat ihr Mann aus dem
       Hintergrund (auf Wienerisch) gebrüllt: Sag kein Wort! Walter wurde die Tür
       vor der Nase zugeknallt. Durch den Türspalt hatte er gesehen, dass sich
       Möbel seiner Eltern in der Wohnung befanden. Da war ihm klar: Außer Schmerz
       wirst du in Wien nichts finden. Er blieb in Israel, um sein Leben dort zu
       meistern. Hier ließ sich an nichts anknüpfen.
       
       Gab es von Seiten derjenigen, die Ihre Familie misshandelten und
       ausraubten, jemals eine Kontaktaufnahme? 
       
       Nein.
       
       Und von Seiten des österreichischen Staates? 
       
       Nicht, dass ich wüsste. Walter wurde 1956 überall abgewimmelt. Es sei
       nichts mehr da, die Verwaltungskosten hätten alles aufgefressen usw.
       
       Wie war jetzt die Reaktion auf Ihre Recherche in den österreichischen
       Archiven und vor Ort? 
       
       Überaus hilfsbereit und freundlich. Die Archive sind inzwischen gesetzlich
       verpflichtet, bei Restitutionsfragen alles offenzulegen. Es ist
       erstaunlich, wie viel Beweismaterial in den Archiven schlummert. [2][Ich
       bin die Treppe der Geschichte herabgestiegen.] Wollte wissen, was sie mit
       Isidor und seinem Besitz gemacht haben. Im Judentum gibt es keine
       Missionierung. Aber ich spürte so etwas, wie eine Mission: meinem
       Urgroßonkel Isidor seine Geschichte zurückzugeben.
       
       4 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Das-Buch-Alice/!5717204
 (DIR) [2] /Nazispiele-und-die-nationale-Erhebung/!5874876
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Antifa
 (DIR) Literatur
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Wien
 (DIR) Jüdisches Leben
 (DIR) Adolf Hitler
 (DIR) Österreich
 (DIR) Israel
 (DIR) NS-Raubkunst
 (DIR) Wien
 (DIR) Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025
 (DIR) Antisemitismus
 (DIR) Wien
 (DIR) Film
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gutes Design und Wohnungen für alle: Wer hat's erfunden?
       
       Was nach skandinavischer Gestaltung ausschaut, stammt oft aus Wien.
       Caroline Wohlgemuth über Österreichs vergessene Avantgarde.
       
 (DIR) Biografie von Eric Warburg: Brücken bauen bis zu Cum-Ex
       
       Der jüdische Bankier Eric Warburg prägte die transatlantische
       Nachkriegspolitik. Während der NS-Zeit verhalf er zahlreichen Jüd:innen
       zur Flucht.
       
 (DIR) Nazispiele und die „nationale Erhebung“: Fanatiker unter sich
       
       Ideologisierungen zum Fanatismus haben unterschiedlich lange Vorläufe, im
       Ergebnis sind sie ähnlich. Manchmal finden sie beim Spieleabend statt.
       
 (DIR) Das Buch Alice: Der geraubte Bestseller
       
       „So kocht man in Wien!“ – Karina Urbach hat die Geschichte des arisierten
       Kochbuchs ihrer Großmutter erforscht. Lenkt der Reinhardt-Verlag nun
       endlich ein?
       
 (DIR) Visionärer Stummfilm: Eine Ahnung der Deportationen
       
       Der Stummfilm „Die Stadt ohne Juden“ von 1924 zeigt visionäre Bilder von
       Verfolgung und Vertreibung. Jetzt ist er restauriert auf DVD erschienen.