# taz.de -- Migration nach Europa: Black Lives Matter – am Mittelmeer
       
       > Es machen sich wieder mehr AfrikanerInnen auf den Weg nach Europa über
       > das Mittelmeer. Wer am Strand von Zarzis strandet, will weg.
       
 (IMG) Bild: MigrantInnen am Strand von Zarzis, Tunesien
       
       Zarzis taz | Zu Fuß wäre Noureddine Gantri wohl schneller unterwegs. Wenn
       der tunesische Journalist durch seine Heimatstadt Zarzis fährt, muss er
       alle paar Meter seinen Wagen am Rand der Hauptstraße stoppen. Die in
       Gruppen durch die 80.000-Einwohner-Stadt ziehenden Migranten kennen ihn,
       viele sind Protagonisten in seinem neuen Dokumentarfilmprojekt.
       
       Schon vor der Revolution begann der 38-Jährige zu dokumentieren, was die
       idyllisch gelegene Stadt zwischen endlosen Olivenbaumhainen und
       kilometerlangen Stränden ausmacht: Migration. Früher hatte Gantri lange in
       Trier gewohnt, wohin seine Eltern in den 70er Jahren ausgewandert waren.
       Aus Deutschland nahm er Erfahrungen mit und wurde so etwas wie der
       Stadtschreiber.
       
       Was auch immer in Zarzis passiert, stellt der Tunesier als Video auf die
       Facebook-Seite seines „Zarzis TV“. Dass der Nonprofitsender nur auf
       Facebook ausstrahlt, ist sicher kein Nachteil. Für die tunesische Jugend
       ist das Internet gleich Facebook. Auch wenn man kein Guthaben mehr hat,
       kann man auf dem Handy Facebook aufrufen. Das soziale Netzwerk hat mit
       vielen afrikanischen Telefonanbietern diesen Service ausgehandelt und sich
       damit ein Kommunikationsmonopol verschafft.
       
       Dass Noureddine Gantri Freunde auf der Straße trifft, macht ihn fast zur
       Ausnahme. Viele junge Zarzizianer wissen nicht mehr, mit wem sie sich in
       einem der vielen Cafés treffen sollen. Ihre Freunde sind ausgewandert. Im
       Norden von Paris leben wohl ebenso viele junge Männer aus Südtunesien wie
       in der langgezogenen Küstenoase südlich der Ferieninsel Djerba.
       
       Gantris Dokumentarfilm handelt von den Neuankömmlingen, die zu Fuß über die
       80 Kilometer entfernte libysch-tunesische Grenze kommen: Frauen und Männer
       aus Westafrika, genau wie die jungen Tunesier auf der Suche nach einem
       besseren Leben.
       
       Die Gespräche zwischen den Migranten und dem Filmemacher ähneln denen
       zwischen tunesischen Gleichaltrigen. Wann geht wieder mal ein Boot nach
       Lampedusa? Wer ist weggegangen? Wo gibt es Jobs? Nach Neuigkeiten in Zarzis
       fragt niemand.
       
       ## Die Jugend braucht Luft zum Atmen
       
       [1][In Zarzis], wie in vielen südtunesischen Orten, scheint die Zeit
       irgendwie stillzustehen. Zukunft hat nur, wer geht. Gantri will bleiben und
       für seine drei Kinder in Tunesien eine bessere Zukunft aufbauen. Daher legt
       er sich in seinen Kurzfilmen mit allen an. Mit den Lehrern der staatlichen
       Schulen, die am Nachmittag den Eltern Nachhilfeunterricht aus dem
       Portemonnaie leiern oder Schüler schlagen; mit dem Bürgermeister, der unter
       dem Namen seiner Frau ein Café aufmacht; mit den ausländischen
       Journalisten, die alle die Story über [2][den Friedhof der Migranten]
       schreiben, ohne zu recherchieren.
       
       Trotz der Erfolge, für die Tunesien immer wieder als Leuchtturm des
       Arabischen Frühlings gerühmt wird, zeigt sich [3][in der Provinz], dass die
       Kulturrevolution noch gar nicht begonnen hat. Die allgegenwärtige
       Korruption raubt der Jugend den Atem.
       
       „I can’t breathe“ stand schon 2011 an Hauswänden, auf Französisch. Das
       bezog sich auf die strenge familiäre Hierarchie, darauf, dass ein Vater
       immer noch zur Polizei gehen kann, wenn die pubertierenden Kinder nicht
       machen, was er von ihnen verlangt; auf die Schläge der Lehrer auf die
       Finger, die am Nachmittag ein Smartphone halten, wo sie ein Paradies
       entdecken, in Tunis oder Europa.
       
       Vielleicht beschäftigt sich der Macher von „Zarzis TV“ daher so intensiv
       mit den jungen Westafrikanern, denn sie verlassen ihre Heimat aus ähnlichen
       Gründen, wegen derer sein Vater nach Deutschland ging.
       
       Tunesien ist für viele nur eine Etappe. Die meisten kommen auf den
       Ladeflächen eines Pick-ups oder unter der Plane eines libyschen
       Gemüselasters über [4][Agadez] in Niger und die Wüstenoase [5][Sebha] im
       Süden Libyens nach Tripolis. Dort sucht man sich auf Facebook eines der
       vielen Schmugglernetzwerke aus und wartet auf die Abfahrt.
       
       Doch seit dem [6][neuen Krieg in Libyen] zwischen der Regierung in Tripolis
       und dem Feldmarschall Haftar, dessen Kämpfer den Osten und Süden des Landes
       beherrschen, stockt die Logistikkette, an der viele mitverdienen – Milizen,
       Speditionen, lokale Banden. Dazu kommt die Coronakrise. Viele der libyschen
       Mittelsmänner sind auf ihrer menschlichen Ware sitzengeblieben. Durch die
       Kämpfe können sie die Migranten nicht an die Boote bringen und von ihnen
       Geld kassieren.
       
       Libyen ist für Migranten in Zeiten des Krieges und von Corona vor allem
       eins: [7][Folter]. Die Videos der Misshandlungen werden von den Entführern
       an die Verwandtschaft der Opfer geschickt, inklusive Angaben zur
       Überweisung des Lösegelds per Western Union oder das sogenannte
       Hawala-Netzwerk, ein Zahlsystem über Mittelsmänner. Im zentrallibyschen
       Mizda brachte eine Gruppe von Vorarbeitern aus Bangladesch ihren Entführer
       und Folterer in einem Handgemenge um. Dessen Familie rief eine Miliz, die
       das Gefängnis der Migranten mit schweren Waffen stürmte.
       
       ## In der Wüste freigekauft
       
       „Libyen ist zu gefährlich geworden, ich bin nach so einem Massaker nach
       Zarzis geflohen“, sagt Moussa aus Guinea-Bissau. Der 22-Jährige ist seit
       fünf Jahren unterwegs, dreimal kletterte er auf die 15 Meter hohen Zäune,
       die Spaniens Enklaven Ceuta und Mellila von Marokko trennen. „Der
       Stacheldraht ist messerscharf, kaum jemand schafft es ohne zentimetertiefe
       Schnitte und kaum jemand schafft es höher als vier Meter“, sagt er. Danach
       folgten drei Versuche mit Booten, einmal brachte ihn die algerische Marine
       zurück, danach waren es libysche Milizen.
       
       Schlimmer, als so kurz vor dem Ziel abgefangen zu werden, waren die
       Schmuggler in der Sahara in Mali, sagt Moussa. Im März 2015, kurz nach
       Beginn seiner Reise, wurde er aus einem Überlandbus geholt. „Man weiß
       nicht, ob es Islamisten, Schmuggler oder einfach Jugendliche sind, die mit
       Foltervideos Geld von den Verwandten von Durchreisenden erpressen. Alle
       Gruppen sind untereinander vernetzt“, sagt Moussa.
       
       Die Höhe des Lösegelds für die Freilassung hängt von der Nationalität ab.
       Eritreer zahlen in Libyen am meisten, da sie viele Verwandte in Europa
       haben. Moussa musste in Mali 300 US-Dollar zahlen.
       
       Nach dem letzten gescheiterten Versuch, aus Libyen mit dem Boot nach
       Lampedusa überzusetzen, verbrachte Moussa ein paar Wochen in einem
       Gefängnis der libyschen Hafenstadt Zauwia. Mit von seinen Eltern in der
       Heimat gesammelten Geld konnte er sich freikaufen: 400 US-Dollar landeten
       direkt bei einem Wachmann. Er tat sich mit anderen Migranten zusammen und
       Anfang Dezember zahlten sie einem libyschen Taxifahrer zusammen 30 Euro für
       die Fahrt nach Abukamash, zehn Kilometer vor der tunesischen Grenze.
       
       Nach zwölf Stunden Fußmarsch trafen Moussa und sechs Mitstreiter auf eine
       tunesische Armeepatrouille. Ohne Fragen zu stellen, brachten die Soldaten
       sie zum UN-Flüchtlingshilfswerk in Zarzis.
       
       Moussa will sich nun für die kommende Fahrt als Kapitän anheuern lassen, da
       er mit Kompass und Außenborder umgehen kann. „Ich weiß, dass wir eigentlich
       keine Chance haben, mit über 100 Menschen auf einem acht Meter langen
       Schlauchboot und nur zwei Luftkammern bis Italien zu kommen. Ich werde
       Container- oder Rettungsschiffe ansteuern sobald sie in Sicht sind“, meint
       er.
       
       ## „Es ist eigentlich ganz schön hier“
       
       Einmal die Woche trifft sich eine Gruppe von Migranten und einheimischen
       Jugendlichen zum Fußballspiel am Hauptstrand von Zarzis. „Es ist eigentlich
       ganz schön hier, ganz anders als bei uns am Meer, wo Mangroven und weite
       seichte Stellen ins Meer führen“, sagt Mohamed Alyans, ein Musiker aus
       Abidjan.
       
       Als Noureddine Gantri ihm ein Foto zeigt, schüttelt er den Kopf. Noureddine
       sucht nach einer Senegalesin, die er vor Monaten interviewt hatte. In einem
       Bericht über die Opfer eines Schiffsunglückes glaubt er sie wiedererkannt
       zu haben. Vor der südtunesischen Insel Kerkennah sank vor Kurzem ein
       Fischerboot mit Migranten aus Westafrika und mindestens zwei Tunesiern. Als
       der Notruf bei der Küstenwache von Sfax einging, war das Schiff schon
       voller Wasser gelaufen, sagen Überlebende der Radiostation Sfax FM. 61
       Leichen wurden inzwischen aus dem Wasser gezogen oder an den Strand
       gespült. Niemand weiß, mit wie vielen Menschen das Boot besetzt war.
       
       „Wenn ich einen Job und einen Status hätte, würde ich hier bleiben und
       wieder in einem Touristenhotel auf Djerba arbeiten“, sagt der Musiker
       Mohamed Alyans. Beim UNHCR wurde er abgewiesen. Noureddine Gantri hat sogar
       herausgefunden, dass er die umgerechnet 30 Euro Coronahilfe nicht erhalten
       hat, die das UN- Hilfswerk den Migranten auszahlen soll. „Mit 30 Euro kann
       ich einen Monat kochen“, sagt Mohamed. Einen offiziellen Status haben die
       mindestens 2.000 Migranten in Zarzis nicht.
       
       „Ich warte auf die nächste Überweisung von meiner Familie“, sagt Mohamed am
       Rande des Fußballspiels. Ein paar Tage später meldet sich Moussa bei ihm
       per Facebook – aus Zuwara. Nachts ist er mit einem Freund einfach
       zurückgegangen. Nun wartet er in einem Camp eines libyschen Schmugglers
       darauf, dass sich der Wind legt. Dann soll er mit 110 Mitreisenden ins Meer
       aufbrechen. Das Boot ist organisiert. Moussa soll es steuern.
       
       16 Jun 2020
       
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