# taz.de -- Berliner 365-Euro-Jahresticket: Für einen Euro quer durch die Stadt
       
       > Ein BVG-Jahresticket für 365 Euro soll öffentliche Verkehrsmittel
       > attraktiver machen. Aber genügt der Preisnachlass als Anreiz?
       
 (IMG) Bild: Was bekommt man heute schon noch für 1 Euro?
       
       „Wien, Wien, nur du allein
       
       Sollst stets die Stadt meiner Träume sein!“
       
       So komponierte es Rudolf Sieczyński 1912 in seiner Ode an die Donaustadt.
       Rund 100 Jahre später ist die Sehnsucht nach Wiener Verhältnissen vor allem
       in Deutschland ungebrochen. Lebenswerteste Stadt auf der Welt, ein
       gemäßigter Mietmarkt und vorbildlicher Nahverkehr. Denn davon können
       deutsche Städte nur träumen.
       
       Den Wiener Nahverkehr möchten nun mehrere Politiker in Deutschland als
       Vorbild nehmen. Im Mittelpunkt steht das 365 Euro Jahresticket, dass Wien
       im Jahr 2012 für den öffentlichen Nahverkehr eingeführt hat – eine
       Preisreduzierung von fast 20 Prozent zum früheren Preis. Mit dem Preis
       sollen mehr Menschen zum Umsteigen auf den öffentlichen Personennahverkehr
       (ÖPNV) überzeugt werden.
       
       Ehemals ein Nischenthema, [1][ist das 365-Euro-Ticket spätestens nach dem
       Vorstoß von Berlins Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) in aller
       Munde]. Müller möchte es in der nächsten Legislaturperiode einführen. In
       Leipzig arbeitet die Verwaltung bereits an einem Konzept, das 2020
       vorgelegt werden soll. Selbst Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU)
       ist Fan davon und möchte es in Bayerns Großstädten einführen – bis 2030.
       
       ## Anderswo ist das Ticket bereits Realität
       
       Aber warum ausgerechnet 365 Euro? „Es ist einfach ein eindrucksvoller
       Preis“, erklärt Christian Gaebler, Chef der Berliner Senatskanzlei. Für
       einen Euro pro Tag quer durch die Stadt fahren zu können, ohne den
       komplizierten Fahrscheinkauf, ohne zu überlegen, welcher Tarif passt, dass
       ist die Idee, so Gaebler.
       
       Er ist davon überzeugt, dass dieses Modell die Attraktivität des
       öffentlichen Nahverkehrs in Berlin steigern wird. Indem Zugangshürden
       abgebaut werden und mehr Menschen zu dem Jahresticket greifen, „ohne vorher
       rechnen zu müssen, ob sich das auch wirklich am Ende lohnt.“ Im
       Umkehrschluss würden laut Gaebler Inhaber*innen eines Jahrestickets den
       ÖPNV auch öfter nutzen, wenn sie das Ticket bereits haben.
       
       Andernorts ist das Ticket bereits Realität. Neben Bonn hat die schwäbische
       Stadt Reutlingen es Anfang diesen Jahres eingeführt. Statt wie früher 524
       Euro kostet das Jahres-Abo jetzt 365 Euro – es ist dafür personengebunden.
       Außerdem wurden die Preise der anderen Ticketarten gesenkt, und die
       Infrastruktur des Nahverkehrs soll ausgebaut werden. 18,2 Millionen Euro
       will die Stadt Reutlingen in den ÖPNV investieren.
       
       Möglich machen es Fördermittel vom Bund. Bis zu 14,2 Millionen Euro soll
       Reutlingen durch das Programm Lead City erhalten. Mit diesem fördert die
       Bundesregierung Verkehrsmodellprojekte, die die Luftqualität verbessern
       sollen. Fünf Modellstädte sind bei dem Programm dabei: Bonn, Essen,
       Herrenberg, Mannheim und Reutlingen. Mit den Fördergeldern soll
       beispielsweise das ÖPNV-Angebot verbessert und Radwege gebaut werden. Die
       Fördermittel des Programms Lead City sind aber auf zwei Jahre befristet.
       Bisher hat sich die Stadt Reutlingen nicht geäußert, wie es danach
       weitergehen soll.
       
       ## „Der Preis ist nicht der entscheidende Faktor“
       
       Bei den Fahrgastzahlen machen sich die billigeren Ticketpreise ein halbes
       Jahr nach der Einführung bereits bemerkbar, sagt Bernd Kugel,
       Marketingleiter der Reutlinger Stadtverkehrsbetriebe (RVS). Das könne man
       an den Fahrgastzählern der RVS ablesen. Außerdem seien die Verkaufszahlen
       der persönlichen Jahres-Abos nach oben gegangen: In den ersten fünf Monaten
       haben 1.800 Menschen ein Abo abgeschlossen. Davon waren 1.000 Neukunden und
       800 Altkunden, die vorher ein übertragbares Abo genutzt haben. Das kostet
       nun 583,20 Euro. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 schlossen insgesamt 1.080
       Menschen ein persönliches Jahres-Abo ab, 2.030 Menschen ein übertragbares
       Abo
       
       „Eine wirklich erfreuliche Entwicklung“, sagt Kugel. Vor allem angesichts
       rückläufiger Fahrgastzahlen im letzten Jahr beim lokalen Verkehrsverbund
       Neckar-Alb-Donau, in den der RVS eingebunden ist. Marketingleiter Bernd
       Kugler ist überzeugt, dass die Preissenkungen für die höheren
       Fahrgastzahlen verantwortlich sind.
       
       Bedeuten niedrigere Preise also automatisch mehr Fahrgäste für den ÖPNV?
       Dem widerspricht Rahime Algan, Sprecherin vom Verband Deutscher
       Verkehrsunternehmen (VDV). Der Verband vertritt die Interessen von rund 400
       Verkehrsbetrieben in Deutschland. „Wir denken, der Preis ist nicht der
       entscheidende Faktor“, sagt Algan. Die Faktoren Flexibilität, Komfort und
       Angebot seien wichtiger, wenn es darum gehe, Menschen aus den Autos in die
       öffentlichen Verkehrsmittel zu bringen.
       
       VDV-Sprecherin Rahime Algan verweist dabei wieder auf Wien. Als dort der
       Preis des Jahrestickets im Jahr 2012 auf 365 Euro gesenkt wurde, habe das
       nicht zu viel mehr Fahrgästen geführt. Für den hohen Anteil des ÖPNV am
       Gesamtverkehr in Wien sei die hohe Netz- und Taktdichte verantwortlich, die
       dort jahrelang ausgebaut wurde, sagt Algan.
       
       ## Vorbild „Wien“ – auch bei der Finanzierung
       
       Zu diesem Schluss kommt auch Carsten Sommer, Leiter des Fachgebiets
       Verkehrsplanung und Verkehrssysteme der Universität Kassel. In einem
       Artikel für das vom VDV herausgegebenen Branchenblatt Der Nahverkehr zeigt
       er, dass der billige Preis zu einem höheren Absatz von Jahrestickets um 37
       Prozent geführt hat. Das Fahrgastaufkommen sei aber nur um rund 4 Prozent,
       wie im Vorjahr, angestiegen. Sommer folgert daraus, dass durch den neuen
       Ticketpreis nicht mehr Neukunden gewonnen werden konnten, sondern Altkunden
       sich nun öfters für ein Jahresticket entschieden hätten.
       
       Rahime Algan vom VDV ist überzeugt, dass die Infrastruktur der
       Verkehrsbetriebe erst einmal verbessert werden müsse, bevor man über ein
       365-Euro-Jahresticket nachdenken könne. Hier seien Investitionen der
       Kommunen gefragt. Schließlich müsse auch die Finanzierung geregelt sein.
       „Es bringt nichts, wenn das Projekt ein paar Jahre läuft und man dann
       feststellt, dass man es langfristig nicht finanzieren kann“, so Algan.
       
       Doch auch bei der Finanzierung könnte Wien ein Vorbild sein. Zur
       ÖPNV-Strategie der Donaustadt gehört eine intensive
       Parkraumbewirtschaftung. Zur Einführung des 365-Euro-Jahrestickets 2012
       wurden die Parkgebühren von 60 Cent pro Stunde auf einen Euro erhöht.
       Außerdem fließen seit 2011 81 Prozent dieser Einnahmen direkt in die
       Förderung des ÖPNV. Nebenbei wurden Parkflächen sukzessive verringert, um
       das Autofahren unattraktiver zu machen.
       
       Daran sollte man sich in Deutschland ein Vorbild nehmen, sagt der
       Verkehrsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin für
       Sozialforschung. In Berlin beispielsweise gebe es noch viel zu viele
       Parkflächen. „Warum soll ich U- und S-Bahn fahren, wenn ich überall mein
       Auto abstellen kann – ohne was dafür zu bezahlen?“, sagt Knie. Neben mehr
       gebührenpflichtigen Parkplätzen könne auch über eine City-Maut nachgedacht
       werden.
       
       ## Ein „All-in-one-Mobilitätsabo“
       
       Auch Knie glaubt nicht an das 365-Euro-Jahresticket als Allheilmittel.
       Studien ergäben, dass nur 8 bis 10 Prozent der Autofahrer auf den
       öffentlichen Nahverkehr umsteigen würden, wenn die Tickets billiger wären,
       sagt er. Außerdem würden Befragungen zeigen, dass Menschen, egal ob sie
       viel oder wenig Geld haben, bereit seien, für guten Nahverkehr zu zahlen.
       Für Knie sitzt das Problem tiefer: „Es geht darum, endlich den Nahverkehr
       so zu modernisieren, wie wir ihn für die Zukunft brauchen.“
       
       Knie plädiert für ein zusammenhängendes Modell, in dem sowohl der ÖPNV
       sowie auch Car- und Bikesharing-Dienste eingebunden wären. In das man
       morgens ein- und abends auscheckt und so viel zahlt, wie man gefahren ist.
       Und womit ein eigenes Auto in der Stadt überflüssig wäre. „Das wäre etwas,
       was Berlin internationales Gewicht verleihen könnte: Die einzige Stadt in
       der westlichen Welt, in der man gut auf ein eigenes Auto verzichten kann“,
       sagt Knie.
       
       Auch hier ist man in Wien schon weiter. Seit Juni läuft eine
       Konzessionsausschreibung des Elektromobilitätskoordinators der Stadt.
       Gesucht wird ein Anbieter, der eine E-Carsharin-Flotte mit den bereits
       bestehenden Mobilitätsangeboten kombiniert. Am Ende soll den Bürger*innen
       Wiens ein „All-in-one-Mobilitätsabo“ zur Verfügung stehen. Mit Carsharing,
       Bikesharing, ÖPNV und Bahn. Berlin muss sich also beeilen.
       
       20 Jul 2019
       
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