# taz.de -- SPD-Basis kritisiert Migrationspaket: „Die verraten unsere Leute“
       
       > Die SPD stimmte einem Gesetzespaket zu, das auch Abschieberegeln
       > verschärft. Viele GenossInnen wollen den Kurs nicht mittragen.
       
 (IMG) Bild: Hat das Migrationspaket verteidigt, sich aber für die Wortwahl entschuldigt: Lars Castellucci
       
       Berlin taz | Die Bundestagsdebatte über das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ war
       noch gar nicht losgegangen, als Giorgio Nasseh am frühen Morgen des 7. Juni
       einen [1][bitteren Tweet ins Netz schickte]. „Liebe @spdbt, für viele
       Mitglieder mit Migrationshintergrund ist das ein Schlag ins Gesicht. Ich
       kann mich mit eurem Handeln, eurer Argumentation, euren Statements nicht
       mehr identifizieren. Wahlkampf könnt ihr selbst machen. Noch ein bisschen
       und ich bin weg.“
       
       Ende Juni hätte Nasseh den Tweet ganz ähnlich noch einmal absetzen können.
       Da hatte die Bundestagsfraktion der SPD auch dem [2][letzten von insgesamt
       sieben Gesetzen zugestimmt], mit dem die Große Koalition kurz vor der
       Sommerpause die Weichen in der Migrationspolitik neu stellt – eine Reform,
       welche die deutsche Staatsbürgerschaft von einer „Einordnung in die
       deutschen Lebensverhältnisse“ abhängig machen will. [3][Kritiker sprechen
       von einem „Leitkultur“-Paragrafen.]
       
       Und diese Kritiker gibt es auch in der SPD. Allen voran: unter dortigen
       Migranten.
       
       Giorgio Nasseh ist einer von ihnen. Der 30-Jährige arbeitet für eine
       Spedition und macht in Südhessen Politik. Er war lange Asta-Vorsitzender an
       der Goethe-Universität, später Vize-Chef der Jusos in Hessen. In die SPD
       trat Nasseh 2009 ein – politisiert von den Unruhen in der Pariser Banlieue.
       
       ## „Da ist ein Damm gebrochen“
       
       „Ich habe gedacht, so weit darf es in Deutschland nicht kommen. Jugendliche
       mit Migrationshintergrund müssen die gleichen Chancen bekommen wie alle
       anderen.“ Aber auch seinen Großvater, der als marokkanischer Gastarbeiter
       nach Deutschland gekommen war, hatte er im Ohr. „Der hat immer gesagt, die
       SPD ist gut für uns. Das war bei ihm einfach ein allgemeines Gefühl.“
       
       Nasseh teilt dieses Gefühl schon länger nicht mehr uneingeschränkt. Die
       Zustimmung der SPD-Fraktion zum „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ von
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat das Fass zum Überlaufen
       gebracht. Damit kann AsylbewerberInnen künftig das Existenzminimum
       gestrichen werden, können sie in den [4][gleichen Haftanstalten wie
       verurteilte Straftäter untergebracht werden]. „Da ist ein Damm gebrochen“,
       sagt Nasseh. „Es fühlen sich gerade viele ermächtigt, die aus der SPD eine
       Partei machen wollen, die innenpolitisch rechts steht.“
       
       Nasseh spielt an auf eine Debatte, die nach den Europawahlen hochkochte.
       Nach dem [5][Wahlsieg der dänischen Sozialdemokraten] hatte Ex-SPD-Chef
       Sigmar Gabriel seiner Partei öffentlich empfohlen, sich deren „gelinde
       gesagt ,robuste' Ausländer- und Asylpolitik“ zum Vorbild zu nehmen – und
       dies mit einem sozialpolitischen Linkskurs zu kombinieren.
       
       Er lobte, anders als den Dänen sei der SPD das Gespür für ihre
       „traditionelle Wählerschaft“ abhandengekommen. Auch
       SPD-Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann plädierte nun für eine
       Migrationspolitik mit „knallharten Regeln“. SPD-Familienministerin
       Franziska Giffey sagte, soziale Integration sei zwar wichtig. „Aber zur
       ausgestreckten Hand gehört auch das Stopp-Signal.“
       
       ## Endlich Einwanderung
       
       Nasseh ist überzeugt, dass die Parteispitze in Berlin ein falsches Bild von
       ihren potenziellen WählerInnen habe. Viele von ihnen hätten selbst eine
       Einwanderungsgeschichte – genauso wie der eigene Parteinachwuchs, sagt er.
       „Wenn alles gut liefe, wären das die Menschen, die die SPD in die Zukunft
       führen.“ Doch statt Talente an der Basis zu fördern, vergraule die Partei
       sie. „Ich höre jetzt von vielen, die sagen: ‚Die verraten unsere Leute, die
       verraten das, wofür wir stehen.‘“
       
       Mit „die“ ist auch Lars Castellucci gemeint. Der integrationspolitische
       Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion hat im Innenausschuss des Bundestags
       das Gesetzespaket mit ausgehandelt. Während das „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“
       die Handschrift der Union trägt, sind viele in der SPD stolz darauf, das
       erste Mal ein „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ durchgesetzt zu haben. Es
       soll die Arbeitsmigration für Nicht-Akademikerinnen erleichtern, enthält
       aber hohe Hürden.
       
       In einem Tweet hatte Castellucci sie [6][erklären wollen und schrieb]: „Wir
       wollen keine Einwanderung in Sozialsysteme. Also sollen nur diejenigen
       einwandern, die eine eigenständige Altersversorgung aufbauen können.“ Er
       erntete Empörung: Das sei klassischer AfD-Sprech, die SPD biedere sich dem
       rechten Rand an. Castellucci, sonst eher ein Mensch der leisen Töne,
       [7][hat sich für seine Wortwahl entschuldigt]. Es sei eine Formulierung
       gewesen, „die sonst unsere politischen Gegner gebrauchen“.
       
       Castellucci hatte sich zunächst klar dagegen positioniert, Geflüchtete in
       normalen Haftanstalten unterzubringen – er kann Teile der Kritik am
       Kompromiss mit der Union nachvollziehen. Aber er sagt auch: „Ich bin
       überzeugt, dass wir die Akzeptanz für unser Asylrecht nicht halten können,
       wenn wir alles laufen lassen.“ Deutschland müsse Zuwanderern die
       Integration erleichtern und legale Zugangswege schaffen. Doch wer kein
       Aufenthaltsrecht bekomme, müsse gehen. „Es braucht klare Regeln – und der
       Rechtsstaat muss dann auch in der Lage sein, die durchzusetzen.“
       
       ## „Es passt nicht zur SPD“
       
       Klare Regeln – gegen die hat auch Serpil Midyatli nichts. Die frisch
       gewählte Chefin der schleswig-holsteinischen SPD gilt als Pragmatikerin,
       die sagt, sie habe nichts gegen eine „ehrliche Debatte“ darüber, wie viel
       Integration in Deutschland möglich sei. Trotzdem hat sie als eine von
       wenigen hochrangigen GenossInnen eine [8][parteiinterne Petition an die
       Bundestagsfraktion] gegen die Unterstützung des
       „Geordnete-Rückkehr-Gesetzes“ unterzeichnet.
       
       „Dieses Gesetz passt einfach nicht zur SPD. Es ist Teil eines schweren
       Kompromisses mit der Union.“ Demgegenüber stehe eine Reform der
       Fachkräfteeinwanderung, die auch „kein großer Wurf“ sei, sondern lediglich
       ein viel zu teuer erkaufter Minimalkonsens, so Midyatli. „Das reicht
       einfach nicht, um das Leben der Menschen insgesamt zu verbessern.“ Die SPD
       müsse endlich klar machen, welche eigene Haltung sie in der Frage vertrete
       – und das sei in der Großen Koalition nicht möglich.
       
       Eine Haltung, eine klare Linie: Die Forderung danach ist derzeit so
       ziemlich das Einzige, auf das sich alle SozialdemokratInnen einigen können.
       Auch Lars Castellucci sagt, es gebe „viel Klärungsbedarf“ im Umgang mit
       Migration. Seit 2015 habe Hektik dominiert, man habe nur reagiert:
       „Grundlegende Dinge zu klären braucht Zeit. Die nehmen wir uns jetzt.“
       
       Doch der Streit um das Gesetzespaket zeigt, dass nicht nur die mangelnde
       Zeit oder die Groko am migrationspolitischen Schlingerkurs der SPD schuld
       sind. Vielmehr herrschen in der Partei grundsätzlich unterschiedliche
       Vorstellungen darüber, was eine sozialdemokratische Vision für das
       Einwanderungsland Deutschland sein könnte. Lars Castellucci wünscht sich
       dazu eine sachliche Debatte zwischen den verschiedenen Parteiflügeln. „Wir
       müssen wieder Volkspartei lernen.“
       
       ## SPD gegen SPD
       
       Eine sachliche Debatte? Im Moment sieht wenig danach aus. Das Gesetzespaket
       ist beschlossen, die Partei mit Personalfragen beschäftigt – und in den
       sozialen Netzwerken kommt es zu heftigen Streiten. Zuletzt hat eine
       Entgleisung von Thomas Oppermann für Aufsehen gesorgt. Er hatte an
       KritikerInnen des Gesetzespakets private Nachrichten verschickt und etwa
       Aziz Bozkurt, den Vorsitzenden der AG Migration und Vielfalt in der SPD,
       einen [9][„üblen Verleumder“ genannt].
       
       Zugleich beklagten BundespolitikerInnen, die Kritik ziele zu oft unter die
       Gürtellinie. Die SPD-Fraktionsvizechefin Eva Högl etwa beklagte wochenlange
       [10][„Vorwürfe, Verleumdungen, Anfeindungen, Hetze, Hass von den eigenen
       Leuten“].
       
       Auch Igor Matviyets hat sich in den vergangenen Wochen in den sozialen
       Netzwerken mit BundespolitikerInnen gestritten. Aus seiner Sicht ist es
       höchste Zeit, dass sich die Basis lauter zu Wort meldet. In Berlin höre man
       auf Sigmar Gabriel, schaue auf Dänemark: „Aber was wir hier vor Ort sagen,
       interessiert nicht.“
       
       Der 27-Jährige engagiert sich bei der SPD in Halle, wo die Partei einen
       schwierigen Stand hat. Bei den Kommunalwahlen im Mai hat er für einen Sitz
       im Stadtrat kandidiert – ohne Erfolg. Wenn das Gesetzespaket zur Migration
       damals schon beschlossen gewesen wäre, hätte ihm das kein bisschen
       geholfen, glaubt er. Im Gegenteil: Solche Verschärfungen belasteten das
       Verhältnis zu Engagierten vor Ort, bei allen anderen komme es gar nicht an.
       „Wir versprechen da Menschen, die uns eh nicht wählen würden, Dinge, die
       wir am Ende nicht werden umsetzen können. Das ist doch ein Pulverfass.“
       
       ## Umverteilung statt Asylrechtsverschärfung
       
       Dass KritikerInnen wie ihm von der Parteiführung vorgeworfen werde,
       realitätsfern zu sein oder in einer linken Blase zu leben, ärgert
       Matviyets. Mit seinen Eltern kam er 1999 als jüdischer Kontingentflüchtling
       aus der Ukraine nach Deutschland. Als Kind, das echte Armut erlebte, habe
       er sein neues Zuhause zuerst als starken Sozialstaat kennengelernt, erzählt
       er. Weil er für freie Bildung, Arbeitnehmerrechte und soziale
       Sicherungssysteme kämpfen wollte, ging er später zur SPD. Mit den Grünen
       habe er „als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund“ wenig am Hut.
       
       Das einzige SPD-Thema, das vor der Wahl bei den Leuten vor Ort
       durchgedrungen sei, sei die von Juso-Chef Kevin Kühnert angestoßene
       Enteignungsdebatte gewesen, sagt Matviyets. Das bestärkt ihn in seiner
       Überzeugung, dass die SPD verlorene Wähler nur mit einer „mutigen
       Umverteilungspolitik“ wieder zurückgewinnen könne. Weil man sich aber nicht
       an die Privilegien der Wohlhabenden rantraue, schiebe man die Asylpolitik
       vor, glaubt er.
       
       Giorgio Nasseh sagt, er habe nach zehn Jahren und „den immer gleichen
       Diskussionen“ den Glauben an die Reformfähigkeit der Bundes-SPD fast
       verloren. Seine Hoffnungen ruhen jetzt auf dem geplanten
       Mitgliederentscheid zum neuen Parteivorsitz, von dem er sich ein Signal für
       eine offenere Partei verspricht. „Ich glaube, das ist die letzte Chance.“
       
       8 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/schorscheo/status/1136918932739305472
 (DIR) [2] /Billigung-des-Migrationspakts/!5603286
 (DIR) [3] /Publizistin-ueber-Staatsbuergerschaftsrecht/!5602467
 (DIR) [4] /Polizist-zum-Geordnete-Rueckkehr-Gesetz/!5598502
 (DIR) [5] /Kommentar-Parlamentswahl-in-Daenemark/!5601122
 (DIR) [6] https://twitter.com/larscastellucci/status/1136736914118270977
 (DIR) [7] https://www.facebook.com/larscastellucci/posts/1350855611730531?__xts__%5B0%5D=68.ARDQtGVIMb96R53RUpsi4WtZ8odJ6fRmo5V4LcWc85RcZxBVmw9uLOueUOEU7LxOBMJ1L8HOm0k3P25dzFLvs4hkBZCqOQ1nmPVaiT2P1vmknrei_cPlYp07OwEGRxvtG0kfRNGfouy0fHMIsVtubRtdPf1yPv7HasDvxuErdN2uPi4UckLaEZbUBTNApZrJjn6-7Hw5aQFVLHkLpOcFsJr74Vn-XrQ27cb7TlY93q5r-w_jjDzYqLJzn7XySaE7RC2sMbPmPqe53uwHKU-UGyFLxnSlVnc2tvTiGygNW1Yr0fh3_WQ0WXlDDcvlBisO2QEre6jBtcXn2FrLYhJWjg&__tn__=-R
 (DIR) [8] /Geplante-Abschiebe-Erleichterung/!5596654
 (DIR) [9] https://twitter.com/aziz_b/status/1143097331660800000
 (DIR) [10] https://twitter.com/EvaHoegl/status/1144527500904734721
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Alicia Lindhoff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Geordnete-Rückkehr-Gesetz
 (DIR) Migration
 (DIR) Asylrecht
 (DIR) SPD
 (DIR) Eva Högl
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Staatsbürgerschaft
 (DIR) Geordnete-Rückkehr-Gesetz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Doku über Hamburgs SPD-Basis: Das geilste Drama
       
       Filmemacher Jan-Christoph Schultchen hat Hamburger SPD-Ortsvereine
       begleitet. In dieser Zeit fuhr die Partei ihr schlechtestes Ergebnis seit
       1887 ein.
       
 (DIR) Billigung des Migrationspakts: Verschärfte Regeln für Asylbewerber
       
       Der Bundesrat winkt Neuerungen in der Flüchtlingspolitik durch. Das Gesetz
       macht es leichter, Asylbewerbern die Leistungen zu streichen.
       
 (DIR) Publizistin über Staatsbürgerschaftsrecht: „Rückschritt in die 80er Jahre“
       
       Künftig soll nur eingebürgert werden, wer sich „in die deutschen
       Lebensverhältnisse“ einordnet. Das ermögliche Behördenwillkür, kritisiert
       Ferda Ataman.
       
 (DIR) Kommentar Migrations-Gesetzespaket: Teures Würflein
       
       Lange hat die SPD auf ein Einwanderungsgesetz gepocht. Doch der
       Migrations-Gesetzespakt hat wenig mit Offenheit zu tun.