# taz.de -- Streit um Flüchtlingspolitik in der Union: Das Zeug zum Koalitionsbruch
       
       > Darf der Staat Flüchtlinge an der deutschen Grenze abweisen? Kanzlerin
       > Merkel ist dagegen, ihr Minister Seehofer dafür. Die CSU gibt sich stur.
       
 (IMG) Bild: „Jetzt hör' mal zu…“
       
       BERLIN taz | Die Attacke auf Merkel findet in gemütlichem Ambiente statt.
       An der Wand des Saales in der bayerischen Landesvertretung hängen ein Kreuz
       und ein Foto der Zugspitze, die JournalistInnen bekommen Weißwurst mit
       süßem Senf serviert. Und vorne sitzt CSU-Landesgruppenchef Alexander
       Dobrindt und feuert eine Salve nach der anderen in Richtung Kanzleramt.
       
       Die Abgeordneten der CSU-Landesgruppe hätten am Montagabend „einhellig“
       ihre Unterstützung für Horst Seehofer klar gemacht, sagt er. Asylbewerber
       an den deutschen Grenzen zurückzuweisen sei für sie ein „wesentlicher
       Punkt“ von Seehofers Masterplan. Als ein Journalist zweifelnd zum Streit
       zwischen Seehofer und Merkel nachfragt, antwortet Dobrindt: „Wir setzen den
       Punkt durch.“ Er lächelt. „Sie kennen uns doch.“
       
       Eben. Man kennt Seehofer, Dobrindt und die CSU. Allen ist noch gut in
       Erinnerung, wie sie sich jahrelang mit der Kanzlerin über eine Obergrenze
       stritten. Unerbittlich, ohne Rücksicht auf Verletzungen, mit einer fatalen
       Außenwirkung. Jetzt eskaliert der Streit zwischen den Schwesterparteien
       erneut. Und dieses Mal hat das Ganze das Zeug für einen Koalitionsbruch.
       Für beide Seiten steht die eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel.
       
       Darum geht es: Seehofer will bestimmte Flüchtlinge in Zukunft an der
       deutschen Grenze – faktisch: der Grenze zwischen Bayern und Österreich,
       weil dort die meisten Menschen ankommen – abweisen. Geflüchtete, die
       bereits in einem anderen europäischen Land registriert und in der
       europäischen Fingerabdruckdatei Eurodac vermerkt sind, kämen dann nicht
       mehr ins Land. „Das ist die Rechtslage in Europa“, argumentiert Dobrindt.
       
       ## Domino-Effekt befürchtet
       
       Merkel und die CDU-Spitze legen europäisches Recht und die Dublin-Regelung
       anders aus. Sie wollen die Grenzen offen halten, so wie es im Moment der
       Fall ist. Jeder, der an der Grenze um Asyl bittet, wird in Deutschland
       zumindest angehört. Deutsche Behörden prüfen, welcher EU-Staat für den
       Geflüchteten zuständig ist, bevor sie ihn im Fall des Falles dorthin
       abschieben.
       
       Merkel fürchtet, dass eine deutsche Grenzschließung einen Domino-Effekt
       auslösen könnte. Andere Staaten, so das Argument, könnten dem Beispiel
       folgen. Am Ende wäre Schengen, also das Konzept offener Grenzen in der EU,
       zerstört. Und südeuropäische Staaten wie Italien oder Griechenland müssten
       die komplette Last tragen. Um diesen Punkt hatten Merkel und Seehofer auch
       im Jahr 2015 gekämpft, als rund eine Million Menschen nach Deutschland
       flüchteten. Der Streit wirkt wie ein Déjà-vu.
       
       Die CSU orchestriert den Vorstoß mit aller Wucht, zu der sie fähig ist. Die
       bayerische Landesregierung stellte sich demonstrativ hinter Seehofer –
       allen voran Ministerpräsident Markus Söder. Bayerns CSU-Innenminister
       Joachim Herrmann drohte der Kanzlerin per Interview mit einem Aufstand in
       der Unions-Bundestagsfraktion. Auch Dobrindt lässt bei Weißwurst und
       Saftschorle Sätze fallen, die eine Revolte in Aussicht stellen. Die
       Realität sei, sagt er, dass große Teile der CDU erkennen ließen, dass sie
       der CSU zustimmen würden.
       
       Solche Muskelspiele erhöhen den Druck auf Merkel – aber auch den auf
       Seehofer. Selbst wenn er wollte, könnte er sich kaum noch mit einem
       moderaten Kompromiss zufriedengeben. Dobrindt umschifft zwar die Frage, ob
       Seehofer sein politisches Schicksal damit verknüpfen müsse, sich
       durchzusetzen. Aber die Antwort kann sich jeder zusammenreimen.
       
       ## Sebastian Kurz in Berlin
       
       In der Tat sehnen sich auch CDU-Abgeordnete nach einer härteren Linie in
       der Flüchtlingspolitik. Der Abgeordnete Patrick Sensburg sagte der
       Huffington Post, Flüchtlinge, die in einem anderen Land schon einen Antrag
       gestellt hätten, an der Grenze abzuweisen, sei nicht rechtswidrig: „Mir ist
       rätselhaft, wieso es da im Kanzleramt Bedenken gibt.“ Mehrere ostdeutsche
       CDUler, darunter Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff,
       äußerten sich ähnlich, wenn auch etwas moderater.
       
       Die Sitzung der Unionsfraktion endet am Dienstag mit einem Scheinfrieden.
       Merkel und Seehofer versprechen den Abgeordneten, in den „nächsten Tagen“
       den Versuch einer Einigung zu unternehmen. Merkel bittet laut Teilnehmern
       um etwas Zeit. Ein Dutzend Abgeordnete melden sich zu Wort, die große
       Mehrheit stellt sich hinter Seehofer. Schlechte Aussichten für Merkel. Die
       Fraktion hat 246 Abgeordnete, davon sind 46 in der CSU.
       
       Eine Ironie der Debatte ist, dass sie mit einem passenden Staatsbesuch
       zusammenfällt. Dienstag und Mittwoch besucht der österreichische
       Bundeskanzler Sebastian Kurz Berlin, am Dienstag traf er Merkel – Mittwoch
       ist ein Gespräch mit Seehofer geplant. Kurz regiert zusammen mit der
       rechtspopulistischen FPÖ und steht in der Flüchtlingspolitik näher bei
       Seehofer. Am 1. Juli übernimmt Österreich die EU-Ratspräsidentschaft.
       
       Merkel und Seehofer werden versuchen, Kurz von ihren Positionen zu
       überzeugen. Jener befindet sich in einem Dilemma: Eigentlich müsste er
       Seehofer zustimmen, doch Österreich wäre direkt betroffen – weil die
       Geflüchteten dann dort blieben. Und der Streit zwischen Merkel und der CSU?
       Man sei in einem Prozess, sagt Dobrindt. Es gebe keinen „aktiven Endpunkt“.
       Seehofer wiederum schuf auf seine Weise neue Fakten. Der Innenminister
       telefonierte gestern mit seinem italienischen Amtskollegen Matteo Salvini.
       Beide seien sich bei Fragen von Sicherheit und Migration vollkommen einig
       gewesen und wollten einen Vorschlag zum Schutz der EU-Außengrenzen
       vorlegen, erklärte das italienische Innenministerium danach. Seehofer habe
       Salvini zudem nach Berlin eingeladen.
       
       Salvini ist nicht irgendwer. Der Minister ist Chef der
       rechtspopulistischen Lega-Partei.
       
       12 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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