# taz.de -- Vor der Präsidentschaftswahl: Frankreich gibt es nicht
       
       > Vier mal Frankreich: War es nicht einmal das Land der großen Ideale?
       > Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?
       
 (IMG) Bild: Die Bretonen hoffen auf Europa
       
       ## Rebellion der Kelten
       
       In der Brasserie schräg gegenüber dem Rathaus trifft sich das Dorf. Der
       Bauer, der gerade vom Feld kommt, trinkt sein Mittagsbier, der
       Bürgermeister eine Weinschorle, zwei pensionierte Journalisten unterhalten
       sich über Agrarpolitik und die kommende Dürre. Es sind vor allem Männer;
       die Frauen stehen zumeist hinter der Bar. Halb zwölf in Carhaix in der
       westlichen Bretagne, es ist die Zeit des Aperitifs.
       
       „Ich bin fast so sehr militanter Europäer, wie ich militanter Bretone bin“,
       sagt der Mann am Tresen, zwei Meter groß, breit wie ein Baum. Hervé le
       Borgne, 71, hat die Welt gesehen: Moskau, Havanna, Beirut und Bamako. „Ich
       habe mir einen Beruf ausgedacht, den es hier noch nicht gab:
       Versicherungsmathematiker“. Le Borgne berechnete Risiken für
       Versicherungsunternehmen.
       
       Carhaix könnte sich anfühlen wie das Ende der Welt; noch ein paar Kilometer
       bis zur Küste, dann kommt nur noch Wasser, Wasser, Wasser. Aber die
       Bretagne ist keine Provinz am Rande des Kontinents, viele Bretonen sehen
       sich als eigenständige keltische Nation. Gebeutelt zwar, aber wieder dabei,
       sich gegen den Pariser Zentralismus zu behaupten.
       
       „Zwei Generationen haben wir verloren, zwei Generationen, denen es verboten
       wurde, Bretonisch zu sprechen“, sagte Hervé le Borgne. Inzwischen aber gibt
       es sie wieder, die zweisprachigen Schulen, auch wenn sie kommunal
       finanziert werden müssen. Und vor den Rathäusern flattert nicht mehr nur
       die Trikolore, sondern auch das Gwenn ha Du, die schwarz-weiße bretonische
       Flagge. Das aber ist nur ein kleiner Trost. Die Ostbretagne ist inzwischen
       vollständig frankophon, und die historische Hauptstadt der bretonischen
       Nation, Nantes, wurde 1941 von der Region abgespalten. All das ist kein
       Schwelgen in der Geschichte, es sind aktuelle Themen. „Wir wollen eine
       Bretagne nach unseren Vorstellungen“, sagt le Borgne.
       
       Wie weit gehen für die bretonische Unabhängigkeit? Auch hier gab es
       bewaffnete Separatisten, Terroranschläge, Tote. Le Borgne nickt. Er zeigt
       auf einen älteren Mann, der ein Lächeln im Gesicht trägt, das ihm etwas
       seltsam Entrücktes gibt. Der sei, sagt le Borgne, wegen Terrorismus
       verurteilt worden, 30 Jahre. Nach drei Jahren sei er wieder rausgekommen,
       Generalamnestie.
       
       Was le Borgne selbst in jener Zeit gemacht hat, dazu zuckt er nur mit den
       Schultern. Aber es gebe sie noch, die Waffendepots, und es gebe auch noch
       jene, die lieber mit dem Gewehr als mit dem Wort kämpfen wollten. „Aber ich
       nicht“, sagt le Borgne. „Ich glaube nicht an Gewalt.“
       
       Und wenn Marin Le Pen gewinnt? Die französische Rechte steht hier für
       alles, was hassenswert ist an der Republik: frankophone Monokultur,
       Oppression, Großmachtfantasien. „Wir sind ein kolonialisiertes Land, aber
       ich mache mir nichts vor, es wird keine Unabhängigkeit geben. Dafür ist die
       Bretagne zu wichtig: als Marinebasis, als Lebensmittelkammer.“ Eine
       Revision des Vertrags von Vannes sei illusorisch. Dieser besiegelte 1532
       die Union beider Länder. Worauf hoffen die Bretonen? Nur auf eines: Europa.
       Denn einzig Europa kann Paris im Zaum halten.
       
       Aus Carhaix: Frederic Valin 
       
       ## Eier, richtige Eier
       
       David hat sich entschieden: Er wird an diesem Sonntag nicht zu den Wahlen
       gehen. Seit sechs Jahren arbeitet der Mittdreißiger in einer Bar im Zentrum
       von Marseille. Studenten, Trinker, eine ganzkörpertätowierte Frau mit Hund
       sitzen abends vor ihrem Pastis. Ein Afrikaner kehrt den Boden.
       
       Obwohl David jeden Tag länger als zehn Stunden arbeitet, verdient er nur
       etwas mehr als den Mindestlohn, gute 1.200 Euro bleiben ihm. Er findet:
       „Keiner der Kandidaten ist gut für Frankreich.“ Und Frankreich sei nicht
       gut für ihn, sagt David. „Ich will sowieso weg von hier. Am liebsten nach
       Australien oder Kanada.“ Die Hoffnung, dass er eines Tages eine bessere
       Arbeit finden könnte, hat David verloren. Gelernt hat er allerdings auch
       nichts. Die Schuld sieht er bei den Politikern: „Die reden viel, aber es
       kommt nie was dabei raus.“ Am ehesten würde er seine Stimme dem Linken
       Jean-Luc Mélenchon geben. Aber niemand wisse, was dann mit Frankreich
       passiere. „Also wähle ich gar keinen.“
       
       Sich der Abstimmung zu verweigern, diese Haltung können die Franzosen auf
       unterschiedliche Art zum Ausdruck bringen. Sie können einfach zu Hause
       bleiben. Sie können aber auch „weiß wählen“, also niemanden ankreuzen. Oder
       sie machen ihren Stimmzettel ungültig, beschädigen ihn: bulletin nul.
       
       Auf 35 Prozent wird aktuell der Anteil der Wahlverweigerer geschätzt: der
       höchste Wert in der Geschichte der Fünften Republik. Von den 18- bis
       25-Jährigen will nur jede/r Zweite wählen gehen. Die politische Klasse hat
       offenbar kein überzeugendes Angebot für sie.
       
       Die Entfremdung ist beidseitig. Zum ersten Mal ist das politische System
       nicht mehr bereit, das Votum der Nichtwähler als originären Ausdruck
       politischen Willens anzuerkennen. „Weiße Wahl“ und bulletin nul werden am
       Sonntag offiziell nicht mehr als Wahlbeteiligung gewertet.
       
       Auf die Frage, was ein Präsident denn bräuchte, hat Louic schnell eine
       Antwort: „Eier, richtige Eier.“ Der Mitzwanziger hat vor Kurzem eine
       private Hochschule für Film und Theater in Lyon abgeschlossen. Er will
       weiterstudieren, aber was, das weiß er noch nicht. Derzeit schiebt er
       Nachtschichten in einem Hotel. Umso genauer weiß er, was Frankreich fehlt:
       nationale Größe. Und das schmerzt ihn. Man müsse ja nur nach Russland,
       China und den USA schauen, das sei schon bedrohlich. Und Frankreich? „Wie
       ein kleiner Junge, der beleidigt in der Ecke steht und schreit, aber
       niemand nimmt ihn ernst“, sagt Louic. Er reise gern, aber so, wie sein Land
       derzeit dastehe, fühle er sich nicht wohl. „Im Ausland bin ich doch auch
       eine Art Vertreter meines Landes. Ich will, dass Frankreich international
       wieder wichtiger wird.“ Die Programme der Kandidaten seien nicht so
       ausschlaggebend. Louic kommt es auf die Persönlichkeit an. „Und da braucht
       Frankreich eben einen Präsidenten, der Eier hat.“
       
       Für Louic scheint unter den elf AnwärterInnen auf das höchste Staatsamt
       niemand infrage zu kommen. Er könnte sich in das Lager der Wahlverweigerer
       einreihen.
       
       Die Zeitung Le Parisien druckte dieser Tage eine passende Karikatur. Ein
       Mann sagt zu seiner Frau: „Bei diesen Wahlen werden die Verweigerer in
       Frankreich die stärkste Partei werden.“ Die Frau fragt: „Glaubst du, dass
       sie in die Stichwahl kommen?“
       
       Aus Marseille: Barbara Oertel 
       
       ## „Sind Sie bereit, Ihr Kopftuch abzunehmen?“
       
       Draußen sitzen sie in einem großen Kreis zusammen. Weiße Plastikstühle,
       Kinder laufen herum, ein kleines Mädchen bringt einer Frau ein
       Gänseblümchen. In Wiesberg, einem Ortsteil der Kleinstadt Forbach nahe der
       deutschen Grenze, leben rund 3.000 Menschen, nicht wenige von ihnen haben
       Wurzeln im Maghreb. Unter den vielen jungen Leuten, die dort wohnen, ist
       mehr als jeder Dritte arbeitslos. 
       
       Latifa Barek – sie will ihren richtigen Namen nicht nennen – ist Anfang 40,
       sie schaut über die leicht hügelige Wiese zu einem zehnstöckigen,
       himmelblau gestrichenen Wohnsilo, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Die
       studierte Kindergärtnerin zupft dem Gänseblümchen einige Blütenblätter ab.
       „Vielleicht wäre das Beste: Marine Le Pen als Präsidentin. Dann haben wir
       sie wenigstens hinter uns gebracht. Auch wenn fünf Jahre eine verdammt
       lange Zeit sind.“ Vielleicht aber halte Le Pen ja auch gar nicht so lange
       durch, „denn dass die Frau eine reaktionäre Luftnummer ist, versteht
       sich“.
       
       Barek, die ihr Kopftuch nur aufhat – und sie muss lachen, als sie das sagt
       –, „weil mir kalt ist“, bleibt Optimistin: „Le Pen wird es auf keinen
       Fall.“ Und wenn doch? „Dann ist das die absolute Katastrophe für unser
       Land.“ Die gebürtige Marokkanerin mit französischem Pass fühlt sich „den
       Werten der Republik nah“, doch: „Wo ist die Gleichheit, die Brüderlichkeit,
       wenn wir aus den Cités, den Vorstädten, der Politik total egal sind?“
       
       Erst letztens habe sie wieder geschmunzelt, als der sozialistische
       Präsidentschaftskandidat Benoît Hamon im Blitzlichtgewitter „48 Stunden
       eine Cité besucht hat“. Alle, bis auf Le Pen, schnupperten sie rein,
       guckten dann betreten „und faselten was von Auf- und Umbruch“. Nur gehe es
       letztlich immer um finanzielle Ruhigstellung der Bewohner: „Einen
       Schrottfernseher kriegst du sofort gratis ersetzt vom Amt, aber echte
       Programme gegen Arbeitslosigkeit, gegen Drogenkriminalität, die kommen
       nicht aus Paris.“
       
       Dafür gebe es ständig sinnlose, autoritär durchgeführte Polizeikontrollen
       im Viertel. Ihre Nachbarin, die hinzugekommen ist, nickt. Ihr schwarzes
       Kopftuch liegt eng an. Sie hat drei Kinder, ist Ende 30 und sucht seit
       Monaten einen Job. „Ich war früher Sekretärin, aber ich hätte auch kein
       Problem damit, als Putzfrau in einer Firma zu arbeiten.“ Doch überall werde
       ihr zuerst die eine Frage gestellt: „Sind Sie bereit, Ihr Kopftuch
       abzunehmen?“
       
       Der französische Staat, aber auch die Wirtschaft, brächten viele gläubige
       Muslime gegen sich auf: „Wo bleibt die Freiheit?“, fragt sie. Das zweite
       Gebot der Laizität, neben der Trennung von Religion und Staat, „das heißt
       doch Gleichheit aller und Respekt zwischen den Religionen. Oder irre ich
       mich da?“
       
       Latifa Barek und ihre Nachbarin gehen am Sonntag nicht zur Wahl. „Wir
       fühlen uns nicht vertreten“, sagt Barek. Dann zupft sie dem Gänseblümchen
       in ihrer Hand noch eines der wenigen verbliebenen Blütenblätter ab.
       
       Aus Forbach: Harriet Wolff 
       
       ## In der Faschosphäre
       
       Wohlhabend, bürgerlich, traditionsbewusst bis ins Mark – so ist Lyon.
       Nirgends im Land sind die Identitären so stark wie hier. 2011 hat die
       neonationalistische Jugendbewegung im Altstadtviertel Saint-Jean eine Bar
       namens La Traboule eröffnet. „Faschosphäre“ nennt Buzzfeed den Ort, nachdem
       ein Reporter im Februar Identitären und Anhängern des Front National im
       Traboule zuhörte, wie sie über die „Vernichtung der Araber“ fantasierten.
       
       Man kann die Génération Identitaire Lyon nicht fragen, wie sie sich diese
       Vernichtung vorstellen. Über Wochen gibt es die immer gleiche Antwort: Erst
       nach dem zweiten Wahlgang werde man mit der Presse sprechen.
       
       Mittlerweile ist das Traboule ein großes Zentrum – Boxklub, Kino,
       Kongressraum, Bibliothek, Festsaal und Devotionalienshop. Das Ganze
       ist derart auf Mittelalterkitsch getrimmt, dass kein Zweifel bleibt, aus
       welcher Zeit die französische Identität stammt, die hier restauriert werden
       soll: vor 1789 – vor der Revolution. Für die moderne Variante der
       französischen Nation haben ihre glühendsten Fans offenbar wenig übrig.
       
       8 Prozent der Lyoner sollen Muslime sein – der niedrigste Wert aller
       französischen Großstädte. Die 1994 eröffnete Große Moschee –
       augenscheinlich teuer, nüchtern, steril – steht im Stadtteil Laënnec nahe
       dem Autobahnring. „Versammlungen verboten“, ist auf einem Schild am Eingang
       zu lesen, der von schwer bewaffneten Soldaten bewacht wird. Betonmauern
       umgeben den Vorplatz.
       
       Nach dem Mittagsgebet tritt Ahmad Denfer, 72, Sonnenbrille, Krawatte, grüne
       Bomberjacke, auf den Innenhof. Nach dem Algerienkrieg wanderte er nach
       Frankreich ein. Sein Leben hat der Mechaniker in Lyon verbracht, seine
       Familie lebt hier. Einen Pass hat er nie beantragt, obwohl er ihn bekommen
       hätte. „Wozu?“, fragt er. Sein Französisch ist schlecht. „Den brauch ich
       gar nicht. Ich liebe Frankreich, natürlich bin ich Franzose.“
       
       Was Französischsein für ihn bedeutet? „Die Regeln respektieren.“ Viele
       Muslime seien da eben „schlecht erzogen“. „Deswegen sind 90 Prozent der
       Jugendlichen im Gefängnis Muslime“, behauptet er. Tatsächlich sollen es 70
       Prozent sein.
       
       Gibt es nicht andere Gründe? Die schlechte soziale Lage, höhere
       Kontrolldichte der Polizei? „Viele Kontrollen? Hier? Das ich nicht lache“,
       sagt Denfer. „In Algerien musst du nach jedem Kilometer deinen Ausweis
       herzeigen, das ist da völlig normal“, fügt er hinzu. „Ich zeige meinen
       Ausweis der französischen Polizei immer gern.“
       
       Spürt er keinen Rassismus, wenn Islamhasser die Regierungsübernahme
       anpeilen? „Sind die Araber etwa nicht rassistisch gegen die Schwarzen?“,
       fragt er und schüttelt die rechte Hand, als habe er sie sich verbrannt.
       
       Die zunehmende Unbestimmbarkeit des Französischen – für Denfer ist sie ein
       Vorteil. Für ihn ist es offen, besetzbar für jeden, der dazugehören will.
       Wie er. Französisch zu sein hat für Denfer, anders als für die Identitären,
       nichts mit Essenzialismus zu tun. Es ist nur eine Frage des Willens. Fühlt
       er sich dazugehörig in einer Stadt, in einem Land, wo der
       Religionskonflikt eskaliert?
       
       „Schau unsere Moschee an, wie schön sie ist. Und sieh dir die Soldaten an“,
       er zeigt zum Eingang, „sie bewachen uns. Was fehlt uns hier?“
       
       Aus Lyon: Christian Jakob
       
       22 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
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