# taz.de -- Frankreich im Wahlkampf: Es ist das Ende einer Epoche
       
       > Der merkwürdigste Wahlkampf, den heute lebende Franzosen je erlebt haben:
       > Der Chefredakteur der „Libération“ wundert sich.
       
 (IMG) Bild: Wird Emmanuel Macron Präsident, wird er drei Viertel des Landes gegen sich haben. Aber jedem anderen Kandidaten würde es ebenso ergehen
       
       Es ist der merkwürdigste Wahlkampf in der Geschichte der 5. Republik.
       Kommentatoren scharren mit den Füßen, Umfragen spielen verrückt, Prognosen
       haben ihren Aussagewert verloren. Favoriten fallen in Ungnade, alte
       Parteien geraten ins Schwanken, die führende politische Klasse gerät in
       Panik und die Franzosen sehen ihren Wahlschein wenige Tage vor dem Wahlgang
       an wie Hamlet den polierten Schädel in seiner Hand.
       
       Vernünftig sein oder nicht – das ist die Frage. Diese unglaubliche Reihe
       überraschender Wendungen ist kein Zufall. Sie markiert das Ende einer
       Epoche.
       
       Am Anfang lag alles vollkommen klar, wir haben sogar eine äußerst
       langweilige Wahl erwartet, bei der es wieder um den aus dem Amt scheidenden
       François Hollande und den Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy gehen sollte.
       Immer die Gleichen. Der Erste ist noch Präsident, natürlich würde er sich
       zur Wiederwahl stellen. Der Zweite war es zuvor, er wäre der beste Kandidat
       für die wiederbelebte Rechte, die reibungslos auf die unbeliebte Linke
       folgen würde.
       
       Dann ist alles durcheinander geraten. Im Sommer 2016 wurde Sarkozys
       Kandidatur von unzähligen Gerichtsprozessen erschüttert. Alain Juppé, der
       ehemalige Premier, war zwar gealtert, versprach aber Stabilität; in den
       Umfragen verdrängte er Sarkozy.
       
       Aber ach, es waren ja nur Umfragen. Erst waren noch die Vorwahlen zu
       gewinnen, um Kandidat der Konservativen zu werden. Mehr als vier Millionen
       Menschen, die darauf brannten, es der Linken heimzuzahlen. Dann, auf der
       Zielgeraden kam François Fillon, ein konservativer Drops, aus seiner
       Außenseiterrolle zurück und ließ seine Rivalen hinter sich. Sie waren sich
       ihrer Sache zu sicher gewesen.
       
       Im Prinzip war die Sache seitdem geritzt. Mit 30 Prozent bei der
       Sonntagsfrage sollte der auserwählte Außenseiter den ersten Wahlgang lässig
       bewältigen und Marine Le Pen problemlos im zweiten Wahlgang auf die Plätze
       verweisen. Die kaputte und zerstrittene Linke bereitete sich auf die
       Niederlage ihres unbeliebten Präsidenten vor. Aber das Auftauchen eines
       ehemaligen Beraters der Regierung hat auf einmal die Lage verkompliziert:
       der wirbelnde Engel des Sozialliberalismus.
       
       François Hollande wollte zwar trotz allem antreten, gab sich im Herbst aber
       selbst den Gnadenstoß. Er ließ ein Buch mit dem Titel „Ein Präsident dürfte
       so etwas nicht sagen“ veröffentlichen, das das bisschen Glaubwürdigkeit
       zerstörte, das ihm noch blieb. Manuel Valls, Sozialist und Premier, sah den
       Niedergang seines Kandidaten und drängte ihn aus dem Rennen. Von den
       eigenen Leuten verraten, warf François Hollande öffentlich das Handtuch.
       
       Nun sollte also Valls das Erbe der selbstbewussten Sozialdemokratie bei den
       Vorwahlen vertreten. Aber die linke Basis entschied anders; Angesichts
       einer linken Sinnkrise ernannten sie den Kämpfer Benoît Hamon zum
       Kandidaten, diesen Aufsässigen vom Dienst, der die tolle Idee hatte, das
       sozialdemokratische Projekt durch ein riskantes, aber neues Zusammenspiel
       aus Globalisierungskritik und ungehemmtem Umweltschutz zu ersetzen. Die
       Parti Socialiste bekam wieder Farbe, auch wenn es nicht ihre eigene war.
       
       Im Februar trat also der neu gestylte Sozialist Hamon gegen einen Fillon
       an, von dem jeder dachte, er wäre der sichere Sieger. Bis die satirische
       Wochenzeitung Canard Enchaîné herausfand, dass die zurückhaltende Ehefrau
       des sittenstrengen Fillon im Lauf der Jahre eine Million Euro Lohn erhielt,
       ohne auch nur ein Stück dafür gearbeitet zu haben – so hatte sie es selbst
       einige Jahre zuvor in einer britischen Zeitung gesagt. Die Staatsanwälte
       beschlossen, ein Verfahren gegen den Kandidaten der Républicains
       einzuleiten und es stellte sich heraus, dass seine Frisur strenger war als
       seine Einstellung zu Geld.
       
       Fillons Umfragewerte sanken drastisch, während sich Macron, durch die
       Unterstützung des alten Zentristen François Bayrou gestärkt, im Aufwind
       befand. Hamon begab sich in endlose Verhandlungen mit den Grünen, statt
       sich dem Wahlkampf zu widmen. Jean-Luc Mélenchon, der kraftvolle Redner der
       radikalen Linken, dessen Programm genauso unglaublich ist wie seine
       lyrischen Höhenflüge, profitierte davon, um sich davonzustehlen.
       Währenddessen blieb Marine Le Pen an der Spitze der Umfragen.
       
       Die Kandidatur der Rechtsextremen wird von einer öffentlichen Meinung
       getragen, die sich gegen Zuwanderung sträubt, und durch die Nachrichtenlage
       – Terrorismus, europäische Ohnmacht, Flüchtlingskrise – unterstützt. Obwohl
       sie alle nur einige Meter von der Ziellinie entfernt sind, stehen nun vier
       Kandidaten Kopf an Kopf: Mélenchon, Fillon, Macron und Le Pen.
       
       Was haben wir gelernt, während sich all das zutrug?
       
       Die erste Lektion: Frankreich, das an Revolutionen gewöhnte und so schwer
       reformierbare Land, bereitet sich auf eine neue Revolte vor, dieses Mal bei
       den Wahlen. Die beiden Anti-Systemkandidaten – Le Pen und Mélenchon –
       sammeln in den Umfragen genauso viele Stimmen wie Fillon und Macron, die
       Vertreter einer so genannten vernunftbasierten Politik. Die Führungselite
       hat sich zu gut mit der Globalisierung arrangiert und nicht verstanden,
       dass der Mittelstand und Arbeiter, die großen Verlierer des Prozesses, sich
       von der Idee eines geeinten Europas abgewendet haben.
       
       Die einen haben Angst vor Zuwanderung und Öffnung, die anderen sind
       abgestoßen von der zunehmenden Ungerechtigkeit und der mit der liberalen
       Wirtschaft einhergehenden Ungewissheit. Eine radikale Rechte und Linke
       bedrohen die traditionellen Regierungsparteien, die im Moment
       möglicherweise nicht einmal mehr in die Regierung kommen und langfristig
       zugunsten einer neuen Aufstellung verschwinden könnten. Wer auch immer es
       wird: Der neue Präsident wird regieren müssen, obwohl drei Viertel des
       Landes gegen ihn sind, inmitten einer Identitätskrise mit einer teils
       enttäuschten, teils wütenden Bevölkerung.
       
       Die zweite Lektion: Europa ist bedroht. Le Pen verspricht, eine
       Volksbefragung zum Austritt aus der Eurozone und aus der EU abzuhalten.
       Mélenchon stellt Forderungen an Europa, die die EU nicht akzeptieren kann,
       und zieht auch ernsthaft in Betracht, aus der EU auszutreten. Wenn einer
       der beiden gewinnt, wird eine große Krise auf dem ganzen Kontinent
       ausbrechen, neben der der Brexit aussehen wird wie eine kleine Panne. Und
       wenn die Pro-Europäer doch gewinnen, ist es sicherlich die letzte
       Gelegenheit, Europa zu einen. Bleibt das widersprüchliche Wesen der EU
       erhalten, wird Frankreich sich verabschieden.
       
       ## Die Linke ist noch da
       
       Die dritte Lektion: Die Linke ist längst nicht untergegangen. Zählt man die
       Ergebnisse der linken Kandidaten zusammen, erhalten sie mehr Stimmen als
       die Rechte. Aber ihr droht die Zersplitterung. Zerrissen zwischen Macron,
       Hamon und Mélenchon droht das Sektierertum. Mélenchon verurteilt die
       Sozialisten, Hamon hält seine reformistischen Kameraden für Verräter,
       Macron verwässert mit seinem Zentrismus den Rest linker Überzeugungen, die
       es in der letzten Regierung noch gab.
       
       Nach aller Logik hätte sich der Wiederaufbau der Linken um den Parti
       Socialiste herum vollziehen müssen, jener Partei, die die Mitte
       progressiver Strömungen steht. Aber die Partei wird in die Zange genommen
       von zwei aufstrebenden Kräften, die von den Vorhersagen getragen werden:
       Macrons En Marche und Mélenchons La France Insoumise, die sich die
       enttäuschten Wähler der PS teilen.
       
       Wie in Italien und Spanien wird die französische Sozialdemokratie eine
       lange Finsternis erleben, obwohl sie die einzige Kraft ist, die die Linke
       in der politischen Landschaft vereinigen kann. Für die französischen
       Sozialisten – wie auch in der Serie „Game of Thrones“ – gilt: Der Winter
       naht.
       
       22 Apr 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Laurent Joffrin
       
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