# taz.de -- Debatte Europäische Flüchtlingspolitik: Europa? Welches Europa?
       
       > Die Massenflucht in die Europäische Union wirft einmal mehr die Frage
       > auf: Was ist Europa und wer entscheidet darüber?
       
 (IMG) Bild: Zwischen Mazedonien und Griechenland wird der Ausschluss zur materiellen Realität.
       
       Angesichts der steigenden Anzahl von Geflüchteten aus Nicht-EU-Staaten in
       die „Festung Europa“ und des Kampfes westlicher Staaten gegen islamistische
       Terroristen stellt sich gegenwärtig einmal mehr die Frage, was eigentlich
       Europa ist.
       
       Wer gehört dazu und wer nicht? Wer entscheidet darüber und unter welchen
       Kriterien? Der Begriff „Europa“ – und mehr noch die Schengen- und Eurozone
       der „Europäischen Union“ – wird oft in einer Weise verwendet, die
       suggeriert, Europa sei eine kohärente Einheit. Die Staatengemeinschaft der
       EU impliziert wiederum, dass nur die Mitglieder der EU „europäisch“ seien.
       
       Die gegenwärtige katastrophale Situation von Menschen, die in der EU
       Zuflucht suchen, führt auf dramatische Weise vor Augen, wie dieses
       Verständnis zu Abschottung und Besitzstandswahrung führt, häufig auf Kosten
       von Menschenrechten und Menschenleben.
       
       Die moralisierende Geopolitik der EU hat schwerwiegende Auswirkungen auf
       die Identitätspolitiken der ausgeschlossenen Länder. Darüber hinaus sind
       auch viele Gruppen innerhalb von EU-Staaten von vielfältigen Politiken und
       Praktiken der Diskriminierung und des Ausschlusses betroffen, etwa
       AlbanerInnen und RumänInnen in Italien, die türkische Minderheit in
       Griechenland und Sinti und Roma fast überall.
       
       ## Westeuropa als Modell
       
       Der historische Blick zeigt, dass Europa stets mehr als ein geografischer
       Referent gewesen ist. Der Begriff hat vielmehr immer die Geopolitiken und
       das vorherrschende Wissen der jeweiligen historischen Kontexte
       widergespiegelt. Die Art und Weise, wie heute eine EU, die sich auf die
       Schengenstaaten und die Eurozone reduziert, mit Migration und
       Staatsbürgerschaft umgeht, verweist auf eine lange Tradition der
       Selbsterzählung Westeuropas als Ursprung von Modernität, Fortschritt und
       zivilisatorischer Überlegenheit.
       
       Als solche inszenierten sich Teile Westeuropas als Modell, das es in den
       „Rest“ der Welt zu exportieren gelte. Produziert hat dieses Modell
       ungleiche und hierarchisch geordnete Europas in anderen Teilen des
       Kontinents. Der Vorstellung von Europa als Modell liegt also ein westliches
       Konzept von Moderne zugrunde, das die Suche nach anderen Begriffen –
       alternative, fragmentierte, multiple oder „andere“ Modernen – für den
       „Rest“ der Welt ausgelöst hat.
       
       Die Entstehung ungleicher Europas steht dabei in engem Zusammenhang mit dem
       Orientalismus des 18. und 19. Jahrhundert. „Der“ Orient und „der“ Islam
       wurden auf Grund der vermeintlichen Distanz vom dynamischen,
       fortschrittlichen Westen sowie der nichtchristlichen Religionen als das
       unvollständige Andere Westeuropas konstruiert.
       
       Im Gegensatz dazu fand der als weiß, christlich und europäisch
       wahrgenommene Osten Europas, der zugleich als rückständig, traditionell und
       vorwiegend agrarisch galt, vielmehr als unvollständiges Selbst des Westens
       Eingang in das europäische Selbstbild. Der Osten, aber auch der Süden
       Europas gelten somit, ebenso wie zahlreiche außereuropäische Regionen, nur
       als Erweiterungen der ursprünglichen westlichen Moderne.
       
       Seit dem 11. September 2001 erfolgt die diskursive Konstruktion der
       terroristischen Bedrohung als „islamische Herausforderung“ der gesamten
       westlichen Welt, während die Distanz zum „Orient“ zum Maßstab für
       Modernität und Zivilisation wird. Die aus westlicher Sicht wahrgenommene
       islamische Gefahr ist an die Stelle der kommunistischen Gefahr des Kalten
       Krieges getreten. Im Gegenzug entwickeln die so ausgeschlossenen Regionen
       eine kulturelle Identität als unvollständig im Vergleich zum Westen.
       Dadurch kann Osteuropa gleichzeitig in die Identität der expandierenden EU
       eingeschlossen werden, zugleich aber auch strukturell von dieser
       ausgeschlossen bleiben. Ausdruck findet dies etwa in Form des Diktums von
       der „Osterweiterung“ der EU und der Aufnahme von zentral- und
       südosteuropäischen Ländern als „Europäisierungsprozess“. Der
       Allgemeinbegriff „Europa“, mit dem im 19. und 20. Jahrhundert West- und
       Nordeuropa sowie Teile Südeuropas bezeichnet wurden, wird folglich
       gleichbedeutend mit der EU.
       
       ## Verfechter des „Abendlandes“
       
       Diese Tendenz spiegelt sich aktuell in den erstarkenden antiislamischen
       Reflexen und dem Ruf nach Grenzschließung und Abschiebung wider. Ein
       zunehmender Eurozentrismus findet sich im drastischem Erstarken
       rechts-nationaler Parteien in vielen Ländern. Pegida inszeniert sich in
       okzidentalistischer Tradition schon im Namen als Verfechter des
       „Abendlandes“ und schürt Ressentiments gegen „den“ unzivilisierten
       orientalischen/islamischen Vergewaltiger. Diese Gruppen haben sich die
       Sicherung abendländisch-zivilisatorischer Überlegenheit und Privilegien auf
       die Fahnen geschrieben. Diese ist qua Schengen und Euro untrennbar
       verknüpft mit privilegiertem Staatsbürgerschaftsstatus und ökonomischem
       Wohlstand.
       
       Im politischen Diskurs finden wir dieses Muster in der diskursiven
       Konstruktion von „sicheren Herkunftsländern“ und von sogenannten
       Balkanflüchtligen als Sozialschmarotzer und Kriminelle. Medial verhandelt
       wird diese Differenzierung unter anderem über eine deutsche/europäische
       Selbstinszenierung als zivilisatorisch und moralisch überlegen ob
       verwirklichter Frauen- und Homosexuellenrechte. Neuerdings schreiben selbst
       die CSU und Pegida diese als Maßstab für die Integration von Geflüchteten
       (weniger als eigenen Maßstab) ins Programm.
       
       Auf diese Weise reproduziert und zementiert die EU durch ein
       vereinheitlichendes Konzept von Kultur, Modernität, und Demokratie
       weiterhin eine interne (und externe) Politik der Differenz. Solange die EU
       eine Moralgeografie der eigenen Einzigartigkeit und Überlegenheit verfolgt,
       bleibt die Aussicht auf ein einheitliches, solidarisches Projekt auf
       Augenhöhe unwahrscheinlich.
       
       27 Dec 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Manuela Boatcă
 (DIR) Julia Roth
 (DIR) Die Autorinnen
       
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