# taz.de -- Überwachung auf der Straße: „Die Kamera ist keine Wunderwaffe“
       
       > Innenminister Friedrich will nach Boston mehr Videokameras in
       > Deutschland. Der Datenschützer Thilo Weichert sagt, mehr Überwachung
       > führt zu mehr Kriminalität.
       
 (IMG) Bild: „Intelligente Täter planen natürlich eine umfassende Videoüberwachung mit ein“, so Thilo Weichert
       
       taz: Herr Weichert, Innenminister Friedrich fordert nach den
       Terroranschlägen in Boston mehr Videoüberwachung in Deutschland. Zu Recht? 
       
       Thilo Weichert: Nein. Die Rufe nach mehr Videoüberwachung sind populistisch
       und folgen eher taktischen denn rationalen Motiven. Herr Friedrich will
       vermutlich Reflexe in der konservativen Wählerschaft bedienen.
       
       Aber Videos haben der US-Bundespolizei geholfen, die Täter zu
       identifizieren. Streiten Sie ab, dass Kameras bei der Verbrechensbekämpfung
       helfen? 
       
       Das lässt sich so pauschal nicht sagen. Intelligente Täter, auch
       Terroristen, die Anschläge lange vorbereiten, planen natürlich die Realität
       einer industrialisierten Gesellschaft mit ein – und dazu gehört eine
       umfassende Videoüberwachung. Sie tarnen sich mit Perücken, Schnurrbärten
       oder anderer Kleidung, um die Polizei auf falsche Fährten zu locken. So wie
       es schon die Rote Armee Fraktion tat.
       
       In Boston taten sie es nicht. Und bei ungeplanten Verbrechen – Stichwort:
       U-Bahn-Schläger – ist ein Bild ein Beweismittel. 
       
       Das bestreite ich ja auch nicht. Ich wehre mich nur gegen das reflexhafte
       „Immer mehr“. An gefährdeten Orten – und den Zieleinlauf eines Marathons
       zähle ich dazu – haben Kameras ihre Berechtigung.
       
       Warum liegt Friedrich dann falsch? 
       
       In Deutschland gibt es bereits fast überall im öffentlichen Raum Kameras.
       Ich wage die These: Wenn es einen vergleichbaren Terroranschlag hierzulande
       gäbe, stünden hinterher ausreichend Bilder zur Verfügung. Nehmen Sie den
       gescheiterten Anschlag in Bonn …
       
       Im Dezember stellten Unbekannte eine Sporttasche mit einem Sprengsatz im
       Bahnhof ab, der dann zum Glück aber nicht zündete. 
       
       Damals zeichneten die Bahnhofskameras wegen einer Panne nicht auf, eine
       Kamera bei McDonald’s lieferte aber gute Bilder. Trotzdem sind die Täter
       bis heute flüchtig. Die Kamera ist keine Wunderwaffe. Übrigens haben
       Friedrich und Co. die gleiche Debatte auch nach dem Bonner Anschlagsversuch
       geführt, aber praktisch passiert ist nicht viel.
       
       Warum nicht? 
       
       Der Rahmen von öffentlicher Überwachung, auch mithilfe von Videotechnik,
       ist in den Bundes- und Landesdatenschutzgesetzen genau definiert. Das
       Verfassungsgericht hat glücklicherweise immer wieder klare Grenzen gezogen.
       Friedrich sollte wissen, dass er diese Gesetze gar nicht verschärfen kann.
       Und er sollte zugeben, dass eine Kamera im Grunde eine repressive Maßnahme
       ist. Und es gehört zur bundesrepublikanischen Tradition, präventiv
       vorzugehen.
       
       Deutschland ist nicht die USA … 
       
       Die USA sind eine hochtechnisierte Überwachungsgesellschaft. Ebenso wenig,
       wie es Einschränkungen für den Besitz von Waffen gibt, existieren
       Einschränkungen für den Einsatz von Kameras. Die Kriminalitätsrate ist
       weitaus höher als hier. Übrigens auch in Großbritannien, wo Kameras
       ebenfalls exzessiv eingesetzt werden.
       
       Sie behaupten, Kameras führen zu mehr Kriminalität? 
       
       Kameras überwachen, sie säen Misstrauen, sie senden die Botschaft: Ich, der
       Staat, traue dir nicht. Gleichzeitig dimmen sie soziale Mechanismen
       herunter, etwa Solidarität der Menschen in Krisensituationen. Und sie
       machen bestimmte Gruppen aggressiv. Deshalb: Ja, immer mehr Kameras führen
       zu mehr Kriminalität. Es ist wertvoll, dass in Deutschland und Europa
       strikter auf Privatsphäre geachtet wird als zum Beispiel in den USA.
       
       Auch hier geben die Leute auf Facebook viel über sich preis. Datenschutz
       war gestern. 
       
       Das ist nur ein Teil der Gesellschaft. Ein anderer Teil geht mit seinen
       Daten sorgsam um, und er hat ein Anrecht darauf. Unsere Gesellschaft ist
       pazifistischer, weniger autoritär und nicht so aggressiv wie die in den
       USA. Und sie ist im bürgerrechtlichen Sinn kontrollierter.
       
       Jeder hat doch heute ein Smartphone, mit dem er filmt. Warum stört sie
       Überwachung so? 
       
       Weil ein zu privaten Zwecken angefertigter Film etwas ganz anderes ist als
       die geplante, vernetzte und gespeicherte Überwachung durch Institutionen.
       Ich drehe das Argument um: Gerade weil im Zweifel viele Fotos und Filme von
       Passanten verfügbar sind, sind Rufe nach mehr öffentlicher Überwachung
       Unfug.
       
       Wo sehen Sie künftige Konflikte beim Datenschutz? 
       
       Es wird nicht langweilig. Gerade forschen Unternehmen an dreidimensionalen
       Erkennungsverfahren. Auf zweidimensionalen Bildern sind Menschen zumindest
       automatisiert schwer zu identifizieren. Wenn aber zwei, drei Kameras einen
       Menschen filmen, ergibt das einen räumlichen Eindruck. Und die Erkennung
       wird einfacher. Auch die Überwachung durch Flugdrohnen wird ein Thema
       werden, also nichtstationäre Kameras.
       
       Nervt Sie eigentlich manchmal, dass Sie als Datenschützer ständig in der
       Defensive sind? 
       
       Ach, das würde ich so nicht sehen. Sie sehen einen fröhlichen Menschen vor
       sich, obwohl ich fast dreißig Jahre im Datenschutz arbeite. Und wir sind
       auch nicht in der Defensive. Das waren wir nach 9/11, im Moment wird die
       Gesellschaft wieder überwachungskritischer.
       
       Wirklich? 
       
       Schauen Sie doch mal auf die FDP. Die Liberalen stellen sich doch nicht nur
       aus altruistischen Gründen gegen den Innenminister. Sondern weil sie
       wissen, dass es in der Gesellschaft gut ankommt.
       
       21 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Schulte
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