# taz.de -- Autoritäre Erziehung in Heimen: Christliche Hiebe
       
       > Die Geschichte der Heimerziehung ist eine von brutaler Gewalt. Vor allem
       > die christlichen Kirchen machen sich bis heute schuldig.
       
 (IMG) Bild: Was als strafenswert galt, lag im christlichen Ermessen des Anstaltspersonals.
       
       BERLIN taz | „Es erinnert mich an Konzepte, die wir aus Nazi-Zeiten noch
       kennen und das in unseligen DDR-Zeiten fortgesetzt wurde: Bindungsfähigkeit
       zerstören, Strafen und Sanktionen“. So urteilte die Traumatherapeutin
       Michaela Huber, nachdem die [1][taz] Vorfälle in den Heimen der Haasenburg
       GmbH dokumentiert hatte.
       
       Tatsächlich reihen sich die Haasenburg-Heime ein in eine wenig rühmliche
       Geschichte von Erziehung nicht nur der DDR sondern auch der
       wirtschaftsliberal verfassten westdeutschen Bundesrepublik.
       
       In Westdeutschland existieren in den 1960er Jahren ca. 3.000 Heime mit
       200.000 Plätzen. Die Fürsorgeanstalten sind chronisch unterfinanziert, die
       Betreuungsgruppen zu groß, das Personal unqualifiziert und schlecht bezahlt
       und die Kinder in ständiger Bewegung von einem Heim zum nächsten. Kritik an
       diesen Zuständen trifft auf Desinteresse der Öffentlichkeit und des
       Staates.
       
       Es dürfte nicht unwesentlich gewesen sein, dass fast 80 Prozent der
       Minderjährigen, die in die Heime eingewiesen wurden, kaum dem bürgerlichen
       Ideal entsprachen. Sie kamen aus unehelichen Verbindungen, entstammten
       Scheidungsfamilien und ärmeren Haushalten. Die meisten dieser Anstalten,
       etwa 80 Prozent, verantworten kirchliche Träger.
       
       ## Christliche Heimerziehung
       
       Nahezu ungebrochen vertraten viele Erziehungsanstalten bis in die frühen
       70er Jahre ein Konzept von Disziplinierung und Unterwerfung gegenüber den
       als „verwahrlost“ Abgestempelten. „Der Erziehungsprozess zielt darauf, dass
       das Verhalten, das im Heim durch totale Kontrolle, durch Strafe und Verbote
       erzwungen wird, mit der Zeit verinnerlicht wird“, schreibt die Journalistin
       Ulrike Meinhof 1969. „Als Erziehungserfolg wird die Verinnerlichung der
       Zwänge verbucht.“ Nirgendwo lässt sich diese schwarze Pädagogik
       idealtypischer beobachten als in den kirchlich organisierte Heimen.
       Eindrucksvoll beschrieb dies der SPIEGEL-Journalist Peter Wensierski in
       seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ (2006). Von der Überzeugung
       getragen, dass Kinder böse und von der Erbsünde gezeichnet seien, zielte
       die christliche Erziehung darauf, diesen Makel zu korrigieren: totale
       Überwachung und Kontrolle, akkordähnliche Zwangsarbeit, hartes körperliches
       Strafregime und psychische Erniedrigung waren die christlichen Methoden der
       Erziehung.
       
       Graue Kittel galten für die Mädchen noch bis in die 1970er Jahre als
       vorgeschriebene Anstaltskleidung. In einigen Heimen mussten die Insassen
       klobige Holzpantinen tragen, um „Entweichungen“ vorzubeugen. Die Haasenburg
       GmbH zwang später zu Holz-Cloggs. Es herrschte Redeverbot während der
       Arbeit, in den Speise- und Schlafsälen. Gefängniszellen nannten die frommen
       Schwestern und Brüder „Besinnungsräume“, heute sprechen die Befürworter
       strafender Pädagogik wahlweise von „Anti-Aggressionsraum“ oder
       „Timeout-Raum“. Als Mittel der Korrektur waren sie stets Bestandteil der
       Heimarchitektur.
       
       Was als strafenswert galt, lag im christlichen Ermessen des
       Anstaltspersonals. Schon das Pfeifen eines Schlagers konnte zu mehrtägiger
       Besinnungshaft führen. Aber auch jenseits des Kerkers herrschte ein
       unerbittliches Repressionsregime. So listeten Lehramtspraktikanten 1971 für
       eine schwäbische Anstalt auf: „Zur Strafe mit nackten Beinen auf
       scharfkantigen Holzscheiten knien und beten; in einen Kartoffelsack
       stecken, zubinden und in den dunklen Keller stellen; Kniebeugen mit
       ausgestreckten Händen, auf denen Bibeln liegen, Schläge mit Riemen auf die
       Hände, sobald die Heilige Schrift herunterfällt; vor dem Teller mit
       erbrochenem Essen sitzen bleiben und durch wiederholte Schläge gezwungen
       werden, das Erbrochene vollständig aufzuessen; beim Erbrechen in die
       Kloschüssel den Kopf des Jugendlichen runterdrücken und abziehen“.
       
       In den Selbstdarstellungen der Heime beruhigte man die deutschen
       SteuerzahlerInnen, dass sich die Anstalten weitgehend selbst finanzierten.
       Dass dieses Wirtschaftsmodell durch die massenhafte Zwangsarbeit von
       Minderjährigen am Laufen gehalten wurde, fand keine Erwähnung. Und man
       achtete streng darauf, dass die Kunden des christlichen Arbeitseifers die
       Kinder nicht zu Gesicht bekamen, die unentgeltlich Wäsche wuschen,
       Billigartikel fabrizierten oder Landwirtschaft betrieben. Tatsächlich
       trugen sich diese Heime nicht nur selbst: einige der kirchlichen Betriebe
       verwandelten sich in florierende Wirtschaftsunternehmen mit
       Millionengewinnen.
       
       ## Heimkampagnein den Sechzigern
       
       Erst die außerparlamentarische Linke stieß durch ihre Kritik und
       Skandalisierung die erste große Debatte über die Erziehungspraxis in den
       Heimen seit Bestehen der Bundesrepublik an. Das war die Zeit der
       sogenannten Heimkampagne, die von der studentischen Sozialpädagogischen
       Bewegung im Zusammenspiel mit kritischen ErziehungspraktikerInnen 1968/69
       gestartet wurde. Sie verbanden Analyse und Kritik an den autoritären
       Erziehungsstrukturen mit spektakulären Aktionen und Interventionen in den
       Heimalltag einzelner Anstalten.
       
       Die AktivistInnen nahmen die Erfahrungen derjenigen ernst, die im
       Heimsystem nur als rechtlose Objekte galten. Sie beriefen sich auf das
       Grundgesetz, das die Menschenwürde aller Menschen für unantastbar erklärt
       und also auch für Fürsorgezöglinge zu gelten habe. Überdies boten sie
       AusreißerInnen Unterschlupf an und halfen, alternative Wohn- und
       Ausbildungsmöglichkeiten zu organisieren. Zum ersten Mal erfuhren die
       Heimkinder Solidarität von außen.
       
       ## Ulrike Meinhofs Radikalisierung
       
       In ihrem Drehbuch zum Spielfilm [2][Bambule] schrieb Ulrike Meinhof:
       „Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den
       proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, sich
       zu wehren.“
       
       Die konkret-Autorin und baldige RAF-Mitbegründerin lieferte die wichtigste
       journalistische Kritik am bestehenden System der Heimerziehung. Seit Mitte
       der 60er Jahre recherchierte sie in einzelnen Heimen, rückte in Reportagen,
       Kolumnen und Radiofeatures das Schicksal der Heimkinder in den Vordergrund
       ihrer Analyse. Dank ihrer Arbeit breiteten sich die Proteste bundesweit
       aus.
       
       Mit dem Drehbuch zu [3][Bambule] begab sie sich auf ihren ersten und
       einzigen Ausflug in die Welt des Fernsehspiels. Der Filmstoff basiert auf
       Meinhofs Recherchen im Eichenhof, einer geschlossenen Anstalt für
       „erziehungsschwierige“ Mädchen am Westberliner Stadtrand in Tegel. Am
       Originalschauplatz unter der Regie von Eberhard Itzenplitz gedreht,
       schildert Bambule aus der Perspektive dreier Mädchen den ganz normalen, von
       Verboten, Begrenzungen und stumpfsinniger Arbeit bestimmten Heimalltag im
       Jahr 1969.
       
       Meinhofs Radikalisierung in Richtung Untergrund fällt mit den Dreharbeiten
       zu [4][Bambule] zusammen. In einem Brief schreibt sie: „Ich habe keine Lust
       mehr, ein Autor zu sein, der die Probleme der Basis, z.B. der
       proletarischen Jugendlichen in den Heimen, in den Überbau hievt, womit sie
       nur zur Schau gestellt werden, dass sich andere daran ergötzen [...]. Ich
       finde den Film Scheiße.“ Statt ästhetisierender Kritik fordert sie konkrete
       Taten: „Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln.
       [...] Es kommt nicht darauf an, ihnen zu zeigen, wie man es machen muss, es
       kommt darauf an, selbst mitzumachen.“
       
       10 Tage vor dem geplanten Sendetermin beteiligt sie sich an der
       Befreiungsaktion des in Berlin inhaftierten Andreas Baader. Unter dem
       Vorwand, ein Buch zum Thema zu schreiben, treffen Meinhof und Baader im
       Institut für soziale Fragen in Dahlem zusammen und entkommen durch
       Waffengewalt und Sprung aus dem Fenster. Unterstützung erhalten sie auch
       von der ehemaligen Eichenhof-Insassin Irene Goergens.
       
       Die ARD übt Selbstzensur, die Aufführung von [5][Bambule] findet nicht
       statt. Erst 1994 kann man den Film schließlich besichtigen – als
       historisches Fundstück auf Südwest 3.
       
       In den 70er Jahren trägt die Sozialpädagogische Bewegung entschieden zur
       Verstetigung der Heimkampagnen-Kritik bei. Es ist ihr Verdienst, so der
       Sozialpädagoge und Heimkampagnen- Chronist Manfred Kappeler, dass der Boden
       für umfassendere Reformen bereitet wurde. Ehemalige Heimkinder kämpfen bis
       heute nicht nur mit den [6][physischen und psychischen Folgen] des
       kirchlichen Heimregimes. Ihnen wurde auch jede zukunftsfähige Bildung und
       Ausbildung verweigert. Zudem sind sie mit Rentenlücken konfrontiert, die
       durch die Zwangsarbeit aufgerissen wurden.
       
       Zwar bekennen sich die christlichen Kirchen inzwischen zu ihrer moralischen
       Schuld. Doch die finanziellen Folgen möchten sie nur ungern tragen. Der
       [7][Runde Tisch Heimerziehung], der 2009/2010 unter dem Vorsitz der Grünen
       Protestantin Antje Vollmer tagte, um die westdeutsche Heimgeschichte
       aufzuarbeiten, lehnte kollektive Entschädigungsforderungen in Form
       pauschaler Opferrenten ab.
       
       Ungleich großzügiger und unbürokratischer zeigten sich Staat und Kirche im
       Falle der sexuellen Missbrauchsskandale an deutschen Internaten wie der
       Odenwaldschule. Hier ging es vornehmlich um Kinder der Mittel- und
       Oberschicht.
       
       Der Haasenburg-Fall ist als Symptom einer repressiven Wende unter
       neoliberalen Vorzeichen lesbar. Denn geschlossene Heimanstalten sind wieder
       auf dem Vormarsch und werden von WissenschaftlerInnen als tragfähiges
       Erziehungskonzept verkauf.
       
       Und auch die Kirche scheint sich schon wieder fürsorglich in Stellung zu
       bringen. Die Nachrichtenagentur der Evangelischen Kirche epd, ließ
       anlässlich der taz-Berichte über die Haasenburg-Gewalt einen Rostocker
       Psychiater ein unerschrockenes [8][Plädoyer] für mehr geschlossene
       Unterbringung halten. Dass es in einer repressiven Einrichtung auch zu
       Verletzungen kommen könne, wolle er gar nicht ausschließen. „Das muss man
       sich so vorstellen, wenn auf der Straße jemand randaliert und die Polizei
       wird gerufen, dann kann es bei den Sicherungsmaßnahmen [...] zu Hämatomen
       kommen. [...] Das ist, sag ich mal, im Ernstfall eine Nebenwirkung einer
       Schutzmaßnahme.“ Die Kirche dürfte wissen, wovon der Mann spricht.
       
       [9][Bambule] kann inzwischen auf Youtube frei besichtigt werden.
       
       3 Mar 2014
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Traumatherapeutin-ueber-Haasenburg/!120779/
 (DIR) [2] http://www.youtube.com/watch?v=IIEz4NKiOnU
 (DIR) [3] http://www.youtube.com/watch?v=IIEz4NKiOnU
 (DIR) [4] http://www.youtube.com/watch?v=IIEz4NKiOnU
 (DIR) [5] http://www.youtube.com/watch?v=IIEz4NKiOnU
 (DIR) [6] http://www.hpd.de/files/kappeler-kritischer-rueckblick_2011.pdf
 (DIR) [7] http://www.rundertisch-heimerziehung.de/documents/RTH_Abschlussbericht.pdf
 (DIR) [8] http://www.pnn.de/brandenburg-berlin/764833/
 (DIR) [9] http://www.youtube.com/watch?v=IIEz4NKiOnU
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Berger
       
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