# taz.de -- Regisseurin über die Odenwaldschule: „Becker hat mich regelrecht verfolgt“
       
       > Als Odenwaldschülerin stritt sich Elfe Brandenburger mit dem pädophilen
       > Schulleiter Gerold Becker um Jungs. Jetzt verarbeitet sie ihre
       > Erinnerungen in einem Film.
       
 (IMG) Bild: Elfe Brandenburger: „Ich träumte nachts von Becker: Im Traum diktierte er mir, was ich sagen darf und was nicht.“
       
       sonntaz: Frau Brandenburger, Sie waren in den Siebzigerjahren Schülerin der
       Odenwaldschule. Kürzlich wurden dort wieder Lehrer wegen Grenzverletzungen
       entlassen, einer der beiden Schulleiter hat gekündigt. Finden Sie, dass die
       Odenwaldschule noch eine Zukunft hat? 
       
       Elfe Brandenburger: Man sollte alle entlassen und mit einem neuen Konzept
       von vorne anfangen. So, wie sie ist, darf die Odenwaldschule auf keinen
       Fall weiterbetrieben werden: Es sind ja immer noch Lehrer und Mitarbeiter
       aus den Siebzigerjahren an der Schule, das finde ich untragbar. Auch sonst
       hat die Schule erschreckend wenig aus den Vorfällen meiner Schulzeit
       gelernt.
       
       Es hat Bemühungen gegeben … 
       
       Dass man jetzt erst darüber nachdenkt, ob man das Familienprinzip
       abschafft, ist eigentlich unglaublich. Dieses Zusammenleben von Lehrern und
       Schülern unter einem Dach ohne Kontrolle von außen hat die pädophilen
       Übergriffe von damals doch erst möglich gemacht. Wenn Sie mich fragen, hat
       die Reformpädagogik als Konzept versagt. Die Nähe zum Kind, dieses Diktum
       „keine Bildung ohne Bindung“ – das ist doch grundfalsch. Kinder sollten
       ohne emotionale Verstrickungen lernen dürfen!
       
       Sie selbst waren von 1973 bis 1977 Schülerin an der Odenwaldschule, in
       einer Zeit, die Sie gerade zu einem Spielfilm verarbeiten. Damals haben der
       Schulleiter Gerold Becker und einige andere Lehrer regelmäßig sexuelle
       Gewalt an Schülern verübt. Wie wirkte sich das auf Ihre Schulzeit und
       Jugend aus? 
       
       Ich kam mit sechzehn auf die Odenwaldschule, und es war zunächst wie eine
       Befreiung für mich. Ich kam aus einem emotional verkümmerten Elternhaus,
       und es war mein eigener Wunsch, nach der Scheidung meiner Eltern dort
       Internatsschülerin zu werden. Anfangs schwebte ich völlig euphorisch durch
       diese Schule: Da wurden Erwachsene dafür bezahlt, meine Bildung und
       Erziehung zu gewährleisten, Erwachsene, die ich nicht lieben musste – ich
       hielt das für echt professionell und fand das toll. Und in diesem
       „Kinderstaat“ aus 350 Kindern und Jugendlichen, mit eigenem Parlament und
       Ausschüssen, da war immer was los – so viel Selbstbestimmung hatte ich
       bisher noch nie erlebt! Aber es dauerte keine zwei Monate, bis ich merkte,
       dass da etwas nicht stimmte.
       
       Woran merkten Sie das? 
       
       Es gab einen Jungen bei mir im Haus, der auf meine anfängliche Euphorie
       ganz aggressiv reagierte. „Du bist blind“, schrie er mich an. „Du lebst auf
       einem verfaulten Scheißhaufen. Der Becker geht jeden Morgen in die
       Jungszimmer und befummelt die!“ Ich dachte erst, der tut sich wichtig. Aber
       bald war es auch für mich nicht zu übersehen. Ich wohnte nämlich in dem
       Haus, in dem Gerold Becker und Wolfgang Held mit ihren Familien lebten.
       
       Der damalige Schulleiter und der Musiklehrer waren, wie man heute weiß, die
       pädophilen Haupttäter, die jahrelang Jungen zum Teil schwere sexuelle
       Gewalt angetan haben. 
       
       Über das ganze Haus verteilt lebten Beckers Jungs und zwei Alibi-Mädchen,
       die er in der Familie hatte. Und oben unterm Dach lebte Held mit seinen
       Eleven, die das Gefühl hatten, auserwählt zu sein. Ich wohnte mit meiner
       Zimmerkameradin genau dazwischen. Beckers Sekretärin, die auch im Haus
       lebte, war unser Familienoberhaupt.
       
       Was war das für eine Atmosphäre im Haus? 
       
       Es herrschte so ein schwüles Klima, das auf eine seltsame Art sexuell
       aufgeladen war. Man hatte das Gefühl, dass jeder eine Heimlichkeit zu
       verbergen hatte. Aber das wurde, abgesehen von plötzlichen und unerwarteten
       Ausbrüchen von Verzweiflung oder Gewalt, unter dem Deckel gehalten. Dass
       sie so gequält wurden, zeigten die meisten Jungs nach außen nicht.
       Schließlich wurden sie ja belohnt für das, was sie erduldeten. Die
       „Auserwählten“ bekamen bessere Noten, durften den Unterricht schwänzen,
       bekamen sehr wertvolle Geschenke, wurden auf Reisen mitgenommen. Einer
       dieser Jungs, mit dem ich bis heute befreundet bin, sagt über sich: Ich war
       die jüngste Prostituierte der Odenwaldschule.
       
       Wie alt war er, als er zum Opfer wurde? 
       
       Er war zwölf, als Becker sich ihm näherte – wie die meisten Jungs, mit
       denen ich zusammenlebte. Es gab natürlich auch Familien, deren Oberhaupt
       nicht pädophil war oder sexuelle Grenzverletzungen beging. Aber die
       schienen in der Minderheit, wie unsichtbar. Es war einfach normal – obwohl
       alle spürten, dass es nicht in Ordnung war.
       
       Sie waren sechzehn Jahre alt und umgeben von homosexuellen Pädophilen und
       ihren Opfern. Wie wirkte sich das auf Ihr Liebesleben aus? 
       
       Meine Probleme begannen, als ich mich in einen Jungen verliebte, der ein
       Liebling von Gerold Becker war. Er war siebzehn und sehr offen zu mir. Er
       erzählte, dass Becker seit Jahren jeden Morgen „unter seine Decke“ ging.
       Dass er mit dem Kopf unter die Decke ging, ahnte ich nicht, ich hatte bis
       dahin noch nicht einmal selbst Sex gehabt. Der Junge aber liebte mich auch.
       Er ging daraufhin zu Becker und erklärte, er habe sich verliebt und wolle
       nicht mehr von ihm angefasst werden. Becker muss wohl schrecklich geweint
       haben, er führte sich auf wie ein verliebter Teenager. Allerdings schrieb
       er auch meinen Eltern einen Brief, in dem stand, ich hätte die Probezeit
       nicht bestanden, man solle für mich eine andere Schule finden.
       
       Er wollte Sie also schlicht loswerden? 
       
       Dass ich bleiben konnte, verdanke ich der Ignoranz meiner Mutter: Sie
       schickte mir den Brief einfach zurück – ich sollte mich selber kümmern. Ich
       war fassungslos, schließlich hatte ich nie irgendwelche Probleme an der
       Schule gehabt. Ich zeigte den Brief meinem Familienoberhaupt, Beckers
       Sekretärin. Die schnaubte nur: „Der Becker und seine Jungs!“ und verschwand
       mit dem Brief. Die Sache war erledigt, es wurde nie wieder darüber
       gesprochen.
       
       Und die Beziehung zu dem Jungen? Konnten Sie sich behaupten? 
       
       Wir waren ein halbes Jahr lang zusammen. Aber die ganze Zeit über musste
       ich Beckers Attacken aushalten: Er sprach schlecht über Frauen, über meinen
       Körperbau, versuchte, meinen Freund zur Promiskuität anzustiften. Am Ende
       schaffte er es doch, unser Verhältnis zu zerstören. Aber interessanterweise
       führte Beckers Verhalten nicht dazu, dass ich ihn ablehnte. Ich wollte mich
       bei ihm beliebt machen, damit er mich akzeptiert. In meinem Leistungskurs
       Pädagogik-Psychologie, den er leitete, strengte ich mich besonders an. Ich
       dachte, ich könne irgendwie dazugehören. Aber das war für mich als Mädchen
       natürlich nicht möglich. Er ließ keine Gelegenheit aus, mich öffentlich
       lächerlich zu machen. Und dann verliebte ich mich wieder.
       
       Wieder in einen Jungen, den Gerold Becker bevorzugte? 
       
       Ja, wir hatten offenbar den gleichen Geschmack: androgyne Jungs mit
       mädchenhaften Gesichtszügen und schönem Haar. Deshalb geriet ich noch öfter
       mit Becker aneinander. Mein zweiter Freund war, als wir uns ineinander
       verliebten, ebenfalls unter Beckers Fuchtel. Zuvor hatte er als Kind eine
       innige Beziehung mit dem Kunstlehrer Dietrich Willier …
       
       …später taz-Mitbegründer … 
       
       … den er nach wie vor abgöttisch verehrte. Immer wieder wollte er in den
       großen Ferien zu Willier nach Frankreich fahren. Der hatte sich dort
       offenbar von der pädophilen Praxis abgewandt und machte mit wechselnden
       Freundinnen Urschrei-Therapie. Er war ein ausgesprochen schöner Mann, alle
       fanden ihn toll, die Frauen, seine ehemaligen Schüler … auch ich. Als
       Familienoberhaupt hatte er angeblich seine Kinder geweckt, indem er ihnen
       morgens eine brennende Gauloise zwischen die Lippen steckte: Es handelte
       sich um zwölfjährige Kinder! Damals fanden wir das allerdings irrsinnig
       progressiv und cool.
       
       Zigaretten für Zwölfjährige, sexuelle Gewalt – ahnten die Familien zu Hause
       eigentlich gar nichts? 
       
       Natürlich nicht, wir haben alle zu Hause dichtgehalten: Wir wollten
       schließlich nicht, dass die Schule geschlossen würde. Bloß nicht zurück
       nach Hause – dafür nahmen wir viel in Kauf. Und viele waren ja auch mit
       irgendetwas erpressbar. Für meinen ersten Freund etwa bezahlte Gerold
       Becker das Schulgeld weiter, als seine Familie plötzlich verarmte. Noch
       schlimmer war es für die Jugendamtskinder: Die hatten gar niemanden, der
       sich für sie interessierte. Aus Berlin schickte Martin Bonhoeffer öfter
       Jungs, immer besonders hübsche. Bonhoeffer, beim Berliner Senat für das
       Heimkinderwesen zuständig, war selbst pädophil und ein enger Freund Gerold
       Beckers. Unter uns Jugendlichen galt auch er als einer, der auf kleine
       Jungs stand. Die beiden spielten sich die Kinder wohl gegenseitig zu.
       
       Beeinflusste dieses pädophile Gedankengut auch den Unterricht an der
       Schule? 
       
       Natürlich – ein Lieblingsthema von Becker im Pädagogik-Leistungskurs waren
       die Wilden Kinder: Kinder, die in Indien von Wölfen aufgezogen wurden,
       Kaspar Hauser, der Wilde von Aveyron – verwahrloste Kinder, um die man sich
       kümmert, weil man das Potenzial in ihnen erkennt, im Gegensatz zur
       Herkunftsfamilie, die das Kind im Stich gelassen hatte. Das waren
       Lieblingsfantasien von ihm, die er uns immer wieder vorsetzte – eine
       ununterbrochene Nacherzählung der pädophilen Situation. Da fühle ich mich
       noch heute missbraucht, wenn ich daran denke.
       
       Können Sie das genauer beschreiben? 
       
       Uns Odenwaldschülern wurde suggeriert, dass wir die ersten neuen Menschen
       in einer idealen Gesellschaft sein würden, die verantwortungsbewusst
       miteinander umgehen, nicht konsumorientiert sind und so weiter. In einem
       gewissen Maß wurde das Erziehungskonzept ja auch umgesetzt: Wir hatten eine
       ungeheure Bandbreite an Aktivitäten, die wir selbstbestimmt ausüben
       konnten. Gleichzeitig wurde, im Namen derselben reformpädagogischen Ideale
       – Hinwendung, Nähe zum Kind et cetera –, ein Teil der Schüler gedemütigt
       und dauerhaft geschädigt. Diese Diskrepanz lag wie ein Schatten auf der
       Schule, die so schön hätte sein können. Ein flaues Gefühl in der
       Magengegend begleitete mich jeden Tag, bis zum Abitur.
       
       Haben sich Lehrer auch den Mädchen genähert? 
       
       Auch ich als Mädchen wurde zweimal von Lehrern angefallen. Einmal lag mein
       Familienoberhaupt stark alkoholisiert vor mir auf den Knien und küsste mich
       von der Hand an aufwärts. Als sechzehnjähriges Mädchen hatte ich den
       Vorteil, dass ich solche Situationen kannte und reagieren konnte, weil ich
       wusste, worauf sie hinauslaufen. Ich stieß ihn weg und sagte: Finger weg,
       oder ich zeig dich an. Fertig. Für die Jungs war das schwieriger.
       
       Inwiefern? 
       
       Ein Mitschüler kam einmal nachts weinend zu mir: Becker hatte ihn betrunken
       gemacht, die Tür von innen abgeschlossen und sich dann über ihn hergemacht.
       Ich war schockiert, zum ersten Mal begriff ich, dass da auch Gewalt im
       Spiel war. Aber der Mitschüler wollte keine Anzeige, er flehte mich an,
       niemandem etwas zu sagen. Sein Vater könnte sonst denken, er sei schwul –
       und würde ihn umbringen. In sexuelle Handlungen mit einem Mann zu geraten,
       das war in den Siebzigern noch sehr schambesetzt. Diese Angst hat viele
       Jungen davon abgehalten, sich überhaupt mit dem auseinanderzusetzen, was
       ihnen widerfuhr. Oder sich gar zu wehren.
       
       Es war eine Sprachlosigkeit? 
       
       Über Sexuelles sprach man damals sowieso kaum. Besonders wer zuvor noch nie
       Sex gehabt hatte, wusste mit der Erfahrung überhaupt nicht umzugehen. Worte
       wie Missbrauch, sexuelle Übergriffigkeit, Grenzüberschreitung wurden noch
       gar nicht benutzt. Man sagte vielleicht: Der ist mir an die Wäsche
       gegangen, halb scherzhaft, halb beschämt. Über wirklich erlebte Sexualität
       sprachen wir so gut wie nie. Und wenn wir über Sex sprachen, dann befand
       sich das eher im Bereich der Spekulation oder der Erfindung. Ein Schüler,
       dessen Mutter in der Otto-Mühl-Sekte war, pries uns zum Beispiel an, wie
       toll es sei, mit der eigenen Mutter zu schlafen. Später stellte sich
       heraus, dass er das nur erzählt hatte, um zu funkeln.
       
       Haben Sie noch Kontakt zu den Jungen von damals? 
       
       Becker hatte den Instinkt eines Geiers: Er suchte sich Opfer, die ohnehin
       angeschlagen waren. Und er konnte warten. Er kreiste so lange, bis es den
       Jungen schlecht ging, bis sie in emotionale oder identitäre Not gerieten.
       Dann war er da, fing sie auf. Und griff zu. Ich weiß nicht, ob man sich von
       einem solchen Schlag erholen kann. Bei allen Männern, die ich von damals
       noch kenne, scheinen diese Erlebnisse tiefe Spuren hinterlassen zu haben.
       Manche von ihnen wurden später zwanghaft promiskuitiv, andere hingen wie
       Ertrinkende am Idealbild einer einzigen Person oder wurden selbst zum
       Täter. Wie das im Einzelnen zusammenhängt, kann nur jeder für sich selbst
       ergründen.
       
       Wie lange dauerte es bei Ihnen, von der Odenwaldschule loszukommen nach dem
       Abitur? 
       
       Ich fühlte mich von Becker innerlich wie äußerlich regelrecht verfolgt, ich
       wurde ihn einfach nicht los. Ein paar Jahre nach dem Abi ging ich mit
       meinen ersten beiden Boyfriends, die sich mittlerweile miteinander
       angefreundet hatten, nach München. Wir mieteten eine riesige Villa, in die
       ganz viele Odenwaldschüler einzogen. Es gab dort ein Zimmer, das immer für
       Gerold Becker bereitgehalten wurde und für das er auch Miete zahlte. Für
       meine Freunde blieb er nach wie vor der wichtigste Mensch in ihrem Leben.
       
       Und für Sie? 
       
       Ich studierte kurz darauf Erziehungswissenschaften an der Universität
       Bielefeld, einer Uni, die stark von Beckers Lebensgefährten Hartmut von
       Hentig und seiner Laborschule beeinflusst war. Vor vier Jahren, als ich
       beschloss, einen Film über meine Zeit an der Odenwaldschule zu drehen,
       träumte ich nachts von Becker: Im Traum diktierte er mir, was ich sagen
       darf und was nicht.
       
       Warum haben Sie sich entschlossen, die Gespenster der Vergangenheit wieder
       zu rufen? Immerhin gibt es bereits zwei Filme über die Odenwaldschule, ein
       dritter wird bald in die Kinos kommen … 
       
       Der Name der Schule taucht gar nicht mehr auf. Mein Film „Der Raub des
       Ganymed“ wird ein Spielfilm, der sich allegorisch mit der Atmosphäre der
       Lüge und der Verdrängung befasst, die wie ein Dämon auf der Schule lastete.
       Die Rahmenhandlung stellen die Proben für ein Theaterstück an einer
       Internatsschule dar: Der Raub des Ganymed – die erste Beschreibung von
       Kindesmissbrauch in der europäischen Kultur. Nach und nach merken die
       Kinder, was die Geschichte des Jünglings, den sich Zeus in den Olymp holte,
       mit ihrer eigenen Situation zu tun hat. Die Kinder finden durch die
       Inszenierung zu den Worten, die sie brauchen, um denken und fühlen zu
       können: Das ist mir auch passiert … Vielleicht mache ich diesen Film für
       meine männlichen Freunde: Ich hatte noch keinen einzigen Freund, der nicht
       missbraucht wurde. Manche erzählten es mir erst nach vielen, vielen Jahren.
       Manchmal denke ich, alle Männer wurden als Junge missbraucht. Das ist doch
       schrecklich.
       
       30 Jul 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nina Apin
       
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