# taz.de -- Heimkinder mit Behinderung: Zweierlei Leid
       
       > Jahrzehntelang wurden Kinder in Einrichtungen für Behinderte misshandelt.
       > Ursula Lehmann fühlt sich bis heute vom Staat alleingelassen.
       
 (IMG) Bild: „Es geht mir nicht um Entschädigung, sondern um Anerkennung“, sagt Ursula Lehmann, hier im Berliner Hauptbahnhof
       
       Als die Sechsjährige sich übergibt, zwingt Schwester Mathilde sie, auch das
       Erbrochene zu essen. Die kleine Ursula hat schweres Gelenkrheuma und leidet
       an Unterernährung. Deshalb presst die Schwester das Mädchen zwischen ihre
       Schenkel und stopft ihr Löffel für Löffel heißen Brei in den Mund. Weigert
       sich das Mädchen zu essen, schlägt die Pflegerin zu.
       
       1957, acht Jahre danach, verlässt Ursula Lehmann die Behinderteneinrichtung
       des Johannesstifts in Berlin-Spandau. Sie zieht weg aus Berlin, macht eine
       Ausbildung, arbeitet und verdrängt das Erlebte: die Schmerzen, die Schläge,
       das Gefühl des Ausgeliefertseins. Erst ein halbes Jahrhundert danach
       beginnt sie, um Anerkennung für ihr Leid zu kämpfen.
       
       Ursula Lehmann sitzt im Rollstuhl. Die 73-Jährige hat graue Haare, ein paar
       Strähnen leuchten in hellem Violett. Sie trägt eine schwarze Wolljacke,
       ihre Knie hält sie mit einer dicken Decke warm. „Mobilität“, sagt die
       energische Frau und steuert ihren elektronischen Wagen gekonnt durch den
       Berliner Hauptbahnhof, „ist mein wichtigstes Thema.“
       
       Ursula Lehmann ist ein Mensch, der Probleme angeht. In den 1960ern
       politisch sozialisiert, engagiert sie sich seit Jahren ehrenamtlich in
       mehreren Arbeitsgemeinschaften zu Behindertenrechten. Während sie darauf
       wartet, dass ein leerer Fahrstuhl kommt und sie hoch zur S-Bahn-Ebene des
       Hauptbahnhofs fährt, sagt sie: „Wenn ich jemanden sehe, der meckert, dann
       frage ich: Und was tust du dagegen?“
       
       ## Ein Kämpfernaturell
       
       Lehmann hat schon mal den Berliner Senatsvorsitzenden als „Affenarsch“
       beschimpft, weil er Senioren im Winter keinen Heizzuschlag bezahlen wollte,
       und sie hat Züge blockiert, um für mehr Barrierefreiheit zu kämpfen. Ursula
       Lehmann ist penetrant mit ihren Forderungen – oft hat sie damit Erfolg. Nur
       für ihre Vergangenheit bekommt sie noch immer keine Anerkennung.
       
       Anfang Februar sitzen knapp 50 Menschen in einem Konferenzsaal des
       Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Berlin-Mitte. BesucherInnen
       aus ganz Deutschland sind zu der Anhörung angereist, Ursula Lehmann ist
       eine von ihnen. Knapp 380.000 Betroffene, die Teile ihrer Jugend in
       Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien verbracht haben, leben noch.
       
       Viele von ihnen haben dort Misshandlungen erlebt, etliche mussten
       Zwangsarbeit leisten, niemand hat dafür je eine Entschädigung erhalten.
       Heute wollen sie das einfordern. Denn es gibt zwar längst einen Fonds für
       ehemalige Heimkinder: 120 Millionen Euro haben der Bund, die Länder und die
       Kirchen an nichtbehinderte Heimkinder gezahlt – aber Menschen mit
       Behinderungen sind davon ausgeschlossen.
       
       „Warum“, fragt deshalb ein älterer Herr in einem alten Wollpullover, seine
       Stimme zittert leicht, „werden wir anders behandelt?“ Zustimmendes Gemurmel
       erfüllt den Saal – befriedigende Antworten gibt es keine.
       
       ## Vom Runden Tisch ausgeschlossen
       
       Offiziell ist die Unterscheidung reine Formsache, die Betroffenen sehen
       sich diskriminiert. Vom ersten runden Tisch, der sich 2009 mit der
       Aufarbeitung beschäftigte, wurden sie ausgeschlossen. „Die Bundesregierung
       praktiziert eine ganz gemeine Taktik“, sagt Lehmann nach der Anhörung, „die
       warten doch nur darauf, dass wir wegsterben.“
       
       2011 hat die Bundesregierung das Leid der Heimkinder aus
       Behinderteneinrichtungen anerkannt, 2015 wurde endlich die Einrichtung
       eines Hilfsfonds beschlossen. Wann und in welchem Umfang die Betroffenen
       anerkannt werden, ist deshalb noch unklar – sicher ist: Die Zahlungen
       werden deutlich niedriger ausfallen als bei den anderen ehemaligen
       Heimkindern.
       
       Knapp 220.000 Kinder und Jugendliche wurden zwischen 1949 und 1975 in
       westdeutschen Behinderteneinrichtungen und Psychiatrien untergebracht,
       schätzt die Arbeitsgruppe „Anerkennung und Hilfe“. In der ehemaligen DDR
       wird bis 1990 von einer ähnlichen Zahl ausgegangen. Der Arbeitskreis
       ehemaliger Heimkinder Deutschlands (AeHD) kritisiert die schleppend
       verlaufende geschichtliche Aufarbeitung und die Hürden bei der Anerkennung.
       
       Ursula Lehmann redet nicht gern über ihre Vergangenheit. Schon seit mehr
       als dreißig Jahren wohnt sie in einer Zweizimmerwohnung am Berliner
       Stadtrand, im westlichen Teil von Spandau. „Ich bin fast nur noch zum
       Schlafen hier“, sagt Lehmann, räumt ein paar Akten zur Seite und sagt:.
       „Die meiste Zeit verbringe ich in der Stadt.“
       
       Lehmann ist auf Hilfe im Alltag angewiesen, mit ihren Händen kann sie kaum
       etwas greifen. Weil sie unabhängig bleiben will, bezahlt sie eine Frau aus
       der Nachbarschaft für ihre Pflege. An den gelb gestrichenen Wänden hängen
       Bilder aus dem Filmmuseum – keines der Fotos zeigt die kleine Frau im
       Rollstuhl. Zu ihrer Familie hat sie praktisch keinen Kontakt, ihre drei
       Geschwister leben ihr eigenes Leben, die Eltern sind längst verstorben.
       Obwohl sie in verschiedenen Gremien zu Behindertenrechten sitzt, ist
       Lehmann eine Einzelkämpferin. Gruppen, sagt sie, interessieren sie nicht.
       Ihre Lebensgeschichte ist sicherlich ein Grund dafür.
       
       ## Schwarze Pädagogik
       
       Ursula Lehmann kommt mitten im Krieg zur Welt. In den Nachkriegsjahren
       kämpft ihre Mutter als Trümmerfrau ums Überleben, ihr Vater ist da längst
       tot. Weil auch die Großmutter mit den körperlichen Problemen ihres
       Enkelkindes überfordert ist, übergibt sie die Verantwortung dem Heim. 1949
       wird Ursula im Johannesstift eingeschult. Von da an ist sie auf sich allein
       gestellt, jeder Kontakt zu ihrer Familie bricht ab. Das Stift, sagt sie,
       habe sich nie die Mühe gemacht, ihn wiederherzustellen.
       
       Die Zeit im Evangelischen Johannesstift ist geprägt von Angst: Knapp 70
       Kinder und Jugendliche leben zusammen in der Einrichtung, regelmäßig werden
       sie von den Schwestern geschlagen, Lehmann selbst wird zum Laufen und
       Treppensteigen gezwungen. Trotz des Gelenkrheumas, das ihre Knochen
       verformt, muss sie in der Schule manchmal stundenlang in einer Ecke stehen
       – die Schmerzen sind Teil der Erziehung.
       
       Die Pädagogik der Nachkriegsgesellschaft sieht in den Behinderungen
       Defizite, die es notfalls mit Gewalt auszubessern gilt. Die Kinder sollen
       „in die Gesellschaft eingepasst werden“. Eine Heimleiterin erklärt 1960:
       „Bei der Erziehung dieser Kinder kann nicht früh genug mit der Ertüchtigung
       für das öffentliche Leben begonnen werden.“ AnsprechpartnerInnen hat die
       minderjährige Ursula Lehmann keine, die staatliche Heimaufsicht unterstützt
       die Methoden. Was macht das mit einem?
       
       Heute sagt Lehmann: „Die Erfahrungen in dem Heim haben mein Engagement
       provoziert, ich wehre mich jetzt.“ Durch Zufall bekommt sie 1957 eine
       Ausbildungsstelle als Verwaltungsfachfrau in Nordrhein-Westfalen. Sie geht
       weg aus Berlin, beginnt zu arbeiten und baut sich ein eigenes Leben auf.
       Über die Jahre im Stift redet sie mit niemandem.
       
       ## Keine psychologische Hilfe
       
       Das Johannesstift, in dem Lehmann sechs Jahre ihrer Kindheit verbracht hat,
       liegt nur wenige Kilometer nördlich ihrer heutigen Wohnung – treffen möchte
       sie sich dort trotzdem nicht. Es ist ein großes Gelände, direkt am Wald:
       ruhig, grün, ein Wohlfühlort. Noch immer gibt es hier eine
       Behinderteneinrichtung. Es sind dieselben roten Backsteinhäuser, in denen
       sie damals untergebracht war, große Eichen säumen die Straße, hier gab es
       nie einen historischen Bruch. Erst ein veröffentlichter Bericht von Ursula
       Lehmann über ihre Kindheit im Heim bringt das Johannesstift 2011 dazu, die
       eigene Geschichte aufzuarbeiten.
       
       „Es geht mir nicht um Entschädigung, sondern um Anerkennung“, sagt Ursula
       Lehmann über die Gründe ihres Engagements und fragt wütend: „Wie kann dit
       sein, dass die Täterinnen in aller Ruhe ihren Lebensabend verbringen
       können?“ Wenn sich die energische Frau ärgert, wird ihr Berliner Dialekt
       stärker, sie redet dann schneller und ihre Stimme wird heiser.
       
       Sie erzählt, dass sie viele Jahre nachts schreiend aufgewacht ist. Warum,
       das weiß sie nicht – psychologische Hilfe hat sie nie bekommen. Also
       flüchtet sich Lehmann nach vorn, ihr Engagement verdrängt das Gefühl, Opfer
       zu sein. An der Badezimmertür steht auf einem Kalenderblatt: „Eine spitze
       Zunge ist in manchen Ländern schon unerlaubter Waffenbesitz.“
       
       Es sind bürokratische Hürden, die die Schaffung eines Hilfsfonds behindern.
       Alle teilnehmenden Parteien, die Kirchen, Länder und der Bund, haben
       bereits ihre Zustimmung erklärt. Einzig: Es hadert noch immer an der
       Finanzierung, die Finanzminister einzelner Länder stellen sich quer. Im
       Juni 2016 wolle man die Arbeit für den Fonds beendet haben, erklären
       VertreterInnen des Arbeitskreises „Anerkennung und Hilfe“. Die Aufarbeitung
       der Geschichte der Behindertenheime kommt Jahre zu spät. Viele der
       Betroffenen sind längst gestorben.
       
       ## Die Aufarbeitung kommt zu spät
       
       Vor sechs Jahren gingen ehemalige Heimkinder erstmals auf die Straße, um
       Entschädigung zu fordern. Warum so spät? „Damals dachte ich, es wäre
       normal, wie wir behandelt wurden“, beschreibt Lehmann ihre persönliche
       Aufarbeitung, „erst als ich mit anderen Betroffenen in Kontakt gekommen
       bin, ist mir klar geworden, was dort passiert ist.“ Bis in die 1990er
       hinein haben Bund und Kirchen die Misshandlungen bestritten, erst jetzt
       beginnt die langsame Aufarbeitung.
       
       Wie Ursula Lehmann haben viele Betroffene ganz andere Sorgen: Lehmann lebt
       von einer 500-Euro Rente, im Moment streitet sie wieder einmal mit der
       Krankenkasse.
       
       Nur einmal noch trifft sie auf ihre Vergangenheit. Es ist eine
       Jubiläumsveranstaltung Ende der 1960er, eine Freundin aus dem Heim hat sie
       eingeladen. Lehmann ist Anfang 20, gerade hat sie ihren ersten Job
       angetreten. Als sie den Raum betritt, sieht sie ihre ehemalige Pflegerin,
       Schwester Mathilde, auf einem Sofa sitzen und plaudern. „In dem Moment
       hatte ich wieder Angst“, sagt Lehmann. „Ich konnte sie nicht mit meiner
       Vergangenheit konfrontieren.“ Erst Jahre später kommt sie das nächste Mal
       in ihr altes Heim. Das Personal ist da längst ausgetauscht, der Historiker
       beschäftigt sich jetzt mit ihrer Vergangenheit.
       
       5 Apr 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Paul Hildebrandt
       
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