# taz.de -- Ingo Müllers Buch „Furchtbare Juristen“: Norm und Recht
       
       > „Furchtbare Juristen“ – Ingo Müllers Standardwerk über die NS-Justiz und
       > deren Nachwirkungen – ist in wesentlich erweiterter Form neu erschienen.
       
 (IMG) Bild: Anhand von Recht und Rechtspflege einer Gesellschaft lässt sich zeigen, welcher Art der Staat ist.
       
       Adolf Hitler hasste und verachtete alles, was nur im Geringsten mit
       Gerechtigkeit und Recht zu tun hatte, nicht zuletzt den Berufsstand der
       Juristen. Was aber Richter und Staatsanwälte in der Weimarer Republik und
       der NS-Zeit nicht im Geringsten davon abhielt, ihm kräftig zuzuarbeiten –
       im Gegenteil!
       
       Nächstes Jahr wird das Ende jenes Weltkriegs, den das von den
       Nationalsozialisten gelenkte Deutschland entfachte, siebzig Jahre
       zurückliegen. Dieser barbarischste Abschnitt der jüngeren deutschen
       Geschichte wird dann – um Jan und Aleida Assmann zu zitieren – endgültig
       vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis überführt. Umso wichtiger ist
       es, sich des „Dritten Reiches“, seiner Untaten, aber auch seiner Strukturen
       noch einmal zu vergewissern. Das soeben in wesentlich erweiterter Form neu
       aufgelegte Buch von Ingo Müller, „Furchtbare Juristen. Die unbewältigte
       Vergangenheit der deutschen Justiz“, dient diesem Zweck in hervorragender
       Weise.
       
       Zu Recht denkt, wer sich mit der NS-Zeit beschäftigt, an Vernichtungs- und
       Konzentrationslager, an die Massenvernichtung von Juden, Sinti und Roma
       sowie Sowjetbürgern, an Terror, Verblendung und Gewalt. Demgegenüber gerät
       die „Normalität“ des „Dritten Reiches“, sein „Alltag“ meist ebenso in
       Vergessenheit wie die Frage, was für ein politisches System das „Dritte
       Reich“ war. Freilich hängen – ohne dass die genauen Abhängigkeiten hier
       genauer zu bestimmen wären – Staat und Recht auf das Engste miteinander
       zusammen, so dass sich an Recht und Rechtspflege einer Gesellschaft zeigen
       lässt, welcher Art der Staat ist, der die ihm untertanen Menschen
       beherrscht.
       
       Was war das also für ein Staat, dessen Großer Strafsenat am 9. Dezember
       1935 im Zusammenhang mit vier Fällen von „Rassenschande“ feststellte: „Der
       Begriff Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes umfasst nicht
       jede unzüchtige Handlung, ist aber auch nicht auf den Beischlaf beschränkt.
       Er umfasst den gesamten natürlichen und naturwidrigen Geschlechtsverkehr,
       also außer dem Beischlaf auch alle geschlechtlichen Betätigungen mit einem
       Angehörigen des anderen Geschlechts, die nach der Art ihrer Vornahme
       bestimmt sind, anstelle des Beischlafs der Befriedigung des
       Geschlechtstriebs zumindest des einen Teils zu dienen.“
       
       Was war das für ein Staat, der im Krieg, im Oktober 1944 durch eines seiner
       Gerichte einen Vater von sieben Kindern zum Tode verurteilen ließ, weil er
       gelegentlich beim Verladen von Paketen einzelne Gegenstände von geringem
       Wert entwendet hatte, und – „obwohl“, so das Urteil, kein „gefährlicher
       Gewohnheitsverbrecher“ – ein „Volksschädling“ gewesen sei?
       
       Freilich liegt die Bedeutung von Müllers so anschaulich zu lesender Studie
       keineswegs nur in der überaus klaren Darstellung aller Facetten jenes
       Normensystems, das sich als „nationalsozialistisches Recht“ gab, sondern
       darin, dass sie zwei entscheidende Fragen stellt und auch beantwortet: 1.
       Wie war es möglich, dass – mit Ausnahme der wenigen vertriebenen jüdischen
       und republikanischen Richter sowie der ebenfalls von vielen Juden
       getragenen Anwaltschaft – beinahe ein ganzer, als „konservativ“ geltender
       Berufsstand alles verriet, was zum Ethos seiner Profession gehörte, sowie
       2., wie es möglich war, dass der größte Teil jener Juristen, die dem Staat
       Hitlers und der SS willfährig dienten, in der neu entstandenen
       Bundesrepublik Deutschland die Rechtspflege wahrnahmen.
       
       ## Schwerstbelastete Juristen unter Adenauer
       
       Müller beantwortet die erste Frage wohl begründet mit Hinweis auf die
       ohnehin seit Gründung des Kaiserreichs konservative, das heißt mehr der
       Staatsgewalt als dem Recht gegenüber loyale Richterschaft sowie durch einen
       professionspolitischen Sozialisationsprozess, der finanziell schlechter
       gestellten beziehungsweise links oder liberal gesonnenen jungen Männern
       kaum eine Chance ließ.
       
       Müllers Antwort auf die zweite Frage hingegen verweist auf die Rolle der
       westlichen Alliierten, vor allem der USA im beginnenden Kalten Krieg gegen
       die Sowjetunion. Deren Interesse an einem stabilen westdeutschen Staat
       bewog sie, es der konservativen Regierung Konrad Adenauers zu ermöglichen,
       sogar schwerstbelastete Juristen wieder einzustellen; Juristen, die genau
       dadurch in ihrem falschen Selbstverständnis bestärkt wurden, ohnehin stets
       das Richtige getan zu haben. Das hatte nicht zuletzt zur Folge, dass es nur
       sehr wenige und wenn überhaupt viel zu spät in Gang gekommene Prozesse
       gegen rechtsbeugende NS-Richter gegeben hat.
       
       Die ebenfalls von nicht wenigen NS-Mitläufern gestellte damalige
       Rechtswissenschaft unterstützte diese Politik mit einer
       „Haltet-den-Dieb“-Rhetorik. Nun sollte es der etwa von Hans Kelsen
       artikulierte „Rechtspositivismus“ gewesen sein, der die Verbrechen der
       deutschen Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus zu verantworten hatte.
       Dieser „Rechtspositivismus“ stand politisch in der Regel links und ging
       davon aus, dass demokratisch gesetzte Grundnormen vom System des Rechts in
       möglichst enger Auslegung zu befolgen seien. Demgegenüber zeichnete sich
       die nationalsozialistische Rechtspflege – überhaupt nicht positivistisch
       gesonnen – nicht nur dadurch aus, dass sie die Gewaltenteilung zwischen
       Gesetzgeber, Exekutive und Judikative kassierte, sondern vor allem auch
       dadurch, dass die meisten ihrer Richter, dem politischen Willen Hitlers und
       seines Regimes verpflichtet, jenes Recht, das noch nicht auf diktatorischem
       Wege nationalsozialistisch revidiert worden war, in der Anwendung massiv
       beugten. Der Rechtshistoriker Bernd Rüthers hat dieses Vorgehen als den
       „Primat der unbegrenzten Auslegung“ bezeichnet.
       
       En passant widerlegt Ingo Müller in diesem Zusammenhang aber auch das
       liebgewordene Missverständnis einer antifaschistischen Linken mit ihrer
       Berufung auf Ernst Fraenkels berühmtes Buch über den „Doppelstaat“, das
       bekanntlich zwischen „Normenstaat“ und „Maßnahmestaat“ unterscheidet. Die
       „antifaschistische“ Lektüre von Fraenkels Buch wollte suggerieren, dass der
       Kern bürgerlicher Rechtspflege etwa im zivilrechtlichen Bereich
       unangetastet blieb und dass Willkür und Brutalität „lediglich“ dem Bereich
       des öffentlichen Rechts galt. „Eine derartige Simplifizierung der
       Doppelstaatsthese“, so Müller, „übernimmt ungewollt die – bei den
       Belasteten ja verständliche – Verharmlosung der Rolle der Justiz im
       NS-Herrschaftssystem.“
       
       Viele der dem NS willfährigen Juristen setzten nach 1948 an die Stelle
       ihrer Loyalität gegenüber Hitler einen christlich-naturrechtlichen
       Normenkanon, der mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus immerhin so
       viel gemeinsam hatte, als er überpositive, nicht demokratisch gesetzte
       Werte postulierte. Zu einem demokratischen Rechtsverständnis konnte und
       wollte sich diese Jurisprudenz lange Jahre nicht durchringen.
       
       Recht und Rechtsgeschichte erscheinen dem zeithistorisch interessierten
       Laien immer wieder als nur schwer verständlich. Mit seinem ebenso profund
       recherchierten wie flüssig geschriebenen Buch „Furchtbare Juristen“ hat
       Ingo Müller dieses Vorurteil schlagend widerlegt. Wer sich auch nach 2015
       noch über die nachwirkende NS-Vergangenheit Deutschlands klar werden will,
       kommt um dieses Buch nicht herum.
       
       6 Sep 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
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