# taz.de -- Das NS-Erbe im Strafrecht: „Der Mord-Paragraf ärgert mich“
       
       > Heinrich Hannover, seit 1954 Strafverteidiger in Bremen und unter anderem
       > durch die RAF-Prozesse bundesweit bekannt, erklärt die Tücke des aus der
       > NS-Zeit übernommenen Mord-Paragrafen.
       
 (IMG) Bild: Nach Nazi-Recht nicht Schauplatz eines Mord: Das KZ Buchenwald, in dem Ernst Thälmann umgebracht wurde
       
       taz: Herr Hannover, hatten Sie als Strafverteidiger mit Gesetzen aus der
       NS-Zeit zu tun? 
       
       Heinrich Hannover: Was mich bis heute ärgert, ist der Mord-Paragraf. Die
       Nazis haben die „niedrigen Beweggründe“, das Merkmal der „Arglist“ und die
       „Heimtücke“ in die Definition von Mord aufgenommen, was ihnen eine
       Interpretation des Gesetzes ermöglichte, die ihre eigenen Verbrechen
       ausklammerte. Zuvor wurde als Mord die „mit Überlegung“ ausgeführte Tötung
       verstanden. Diese Formulierung hätte selbstverständlich auf die sehr
       gründlich „überlegten“ Massenmorde der Nazis zugetroffen. „Niedrige
       Beweggründe“ und Tatbestandsmerkmale wie „heimtückisch“, „arglistig“ oder
       „grausam“ ließen sich, wenn man die Naziideologie zu Grunde legte,
       weginterpretieren.
       
       Haben die Nazis auch nach 1945 von der Bedingung der „niedrigen
       Beweggründe“ profitiert? 
       
       Viele Prozesse von Naziverbrechern wären anders gelaufen, wenn man deren
       eigene Mord-Definition nicht so unglückselig in die Bundesrepublik
       hineintradiert hätte. Ein besonders drastisches Beispiel ist das
       Ermittlungsverfahren gegen SS-Funktionäre, die an der Ermordung von Ernst
       Thälmann im KZ Buchenwald beteiligt waren. Die für die Verfolgung von
       Naziverbrechen zuständige Staatsanwaltschaft weigerte sich 40 Jahre lang,
       die damals noch lebenden Täter anzuklagen: Die Tötung Thälmanns sei weder
       heimtückisch noch grausam erfolgt – denn es müsse davon ausgegangen werden,
       dass Thälmann „nicht arglos“ gewesen sei, als er nachts in das Krematorium
       des KZ Buchenwald gebracht wurde.
       
       Wie sind heute die Chancen auf eine Neufassung des Mord-Paragrafen im
       Strafgesetzbuch? 
       
       Nachdem nun jahrzehntelang nach dem NS-Mord-Paragrafen verhandelt und
       geurteilt wurde, würde eine Änderung großen Widerstand hervorrufen. Da sehe
       ich wenig Aussichten. Es sind ja nicht nur die Gesetze, es ist der ganze
       Geist der Justiz, der geändert werden müsste!
       
       Die verbohrten Juristen ärgern Sie mehr als die Gesetze? Leute
       verschwinden, Gesetze bleiben! 
       
       Aber der Geist dieser Leute setzt sich doch fort. Mir ging es ja auch so!
       Ich wurde von Nazis erzogen und habe erst in der Praxis kapiert, was
       eigentlich los war – indem ich, zuerst als zugewiesener Pflichtverteidiger,
       in der BRD Kommunisten verteidigte, die als Widerstandskämpfer schon in KZs
       gesessen hatten. Da wurden mir die Kontinuitäten der NS-Justiz bewusst.
       
       Haben Sie die auch in Ihrer Ausbildung erlebt? 
       
       Während meiner Ausbildung war das ganze Thema völlig tabu. Als ich direkt
       nach dem Krieg, 1946, in Göttingen mit dem Jura-Studium begann, hatte ich
       fast ausschließlich Nazis als Professoren. Zum Teil hatten sie als
       ehemalige Kriegsrichter weiß Gott wie viele Todesurteile zu verantworten.
       Die einzige Ausnahme war der spätere Verfassungsrichter Gerhard Leibholz.
       Er war als Jude ins Ausland geflohen wurde dann als Vorzeige-Professor
       wieder hergeholt – als Einzelgänger unter lauter Nazis. Aber das alles ist
       mir erst sehr viel später klar geworden.
       
       INTERVIEW: HENNING BLEYL
       
       21 Apr 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Henning Bleyl
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Anwalt
 (DIR) Schwerpunkt Femizide
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Zum Tod von Heinrich Hannover: Ein Mann für die Gerechtigkeit
       
       Heinrich Hannover ist am vergangenen Samstag gestorben. Als linker Anwalt
       war er an Aufsehen erregenden Prozessen beteiligt.
       
 (DIR) Hamburger Prozess wegen Frauenmordes: Affekttat oder Femizid?
       
       Juliet H. wurde von ihrem Ex-Mann mit 50 Messerstichen getötet. Anfangs war
       er nur wegen Totschlags angeklagt – sie hätte mit Gewalt rechnen müssen.
       
 (DIR) Ingo Müllers Buch „Furchtbare Juristen“: Norm und Recht
       
       „Furchtbare Juristen“ – Ingo Müllers Standardwerk über die NS-Justiz und
       deren Nachwirkungen – ist in wesentlich erweiterter Form neu erschienen.
       
 (DIR) Ehemaliger Ehrenbürger: Führer im Keller
       
       Im Hamburger Rathaus verstaubt seit 68 Jahren eine Büste von Adolf Hitler,
       dem die Stadt ihre Größe verdankt.
       
 (DIR) Von Braunau nach Braunschweig: Die zweite Heimat des Führers
       
       Hitlers Einbürgerung in Braunschweig war eine Panne des liberalen
       Staatsbürgerrechts. Für den Freistaat Braunschweig hat sie sich gelohnt –
       bei der Aufrüstung spielte er eine wichtige Rolle.
       
 (DIR) Wie Nazi-Gesetze im Norden fortwirken: Jagen à la Göring
       
       In Norddeutschland haben sich Dutzende NS-Gesetze ins geltende Landesrecht
       „gerettet“, Reichsgesetze wirken fort – mit unangenehmen Folgen.
       
 (DIR) Gesetze aus der NS-Zeit, die bis heute gelten: Wo Adolf noch regiert
       
       Vom Ehegatten-Splitting über die Stellplatzpflicht bis zur Mord-Definition
       stammen viele noch heute gültige Gesetze aus der NS-Zeit. Das hat nicht nur
       symbolische Bedeutung sondern auch konkrete Konsequenzen