# taz.de -- SS-Massaker in Italien: Der Schatten von Sant'Anna
       
       > In Sant'Anna di Stazzema beging die SS ein Kriegsverbrechen. Weil
       > deutsche Behörden nicht kooperierten, wurde niemand je zur Rechenschaft
       > gezogen.
       
 (IMG) Bild: Ein ausgebranntes Haus von Vaccarecia in St. Anna di Stazzema, aufgenommen im August 1944
       
       Während Adele Pardini von jenem Morgen vor 80 Jahren erzählt, deckt sie
       ihren Esstisch. Heute ist ihr 84. Geburtstag, sie erwartet später noch
       Besuch. Sie hantiert mit altem Silberbesteck und mit Blumen verzierten
       Tellern. Vielleicht erwähnt sie deshalb immer wieder die Tasse Milch, die
       sie damals zum Frühstück trank. Die Tasse, die für den letzten friedlichen
       Moment an jenem schicksalhaften Tag steht.
       
       Vor 80 Jahren verübte die SS in dem kleinen toskanischen Dorf Sant’Anna di
       Stazzema eines ihrer schlimmsten Kriegsverbrechen in Westeuropa während des
       Zweiten Weltkriegs. Schätzungsweise 500 Menschen wurden ermordet.
       
       Nur wenige Augenblicke, nachdem Adele Pardini damals von Männern in
       grauschwarzen Uniformen befohlen wurde, ihre Tasse Milch abzustellen und
       mitzukommen, stand sie gemeinsam mit ihren vier Schwestern, ihrer Mutter
       und etwa 30 anderen Menschen vor der steinernen Wand des Familienhauses.
       „Ich erinnere mich noch an den Maschinengewehrlauf, der direkt auf uns
       gerichtet war“, sagt Pardini.
       
       Pardinis Mutter – das gerade einmal 20 Tage alte Baby Anna auf dem Arm –
       flehte einen der Soldaten an. Wenigstens die Kinder solle er verschonen.
       Wortlos zückte der Mann eine Pistole und schoss ihrer Mutter eine Kugel in
       den Kopf, erinnert sich Adele Pardini.
       
       Der jungen Adele blieb keine Zeit zu verstehen, was passiert war, da
       feuerte das Maschinengewehr los. Die marodierenden Soldaten hatten an
       diesem Sommertag 1944 einen klaren Auftrag. Alle Menschen im Dorf sollten
       sterben. Egal wie alt, egal wie jung. Frauen, Kinder, alle. Adele Pardini
       überlebte.
       
       ## Die Menschen fühlten sich in Sant'Anna sicher
       
       Heute ist Sant’Anna di Stazzema weniger ein Dorf – es leben nur noch zwei
       Dutzend Menschen dort –, sondern eher eine Art Gedenkstätte. Es gibt eine
       Kirche, ein Museum und einen Pfad der Erinnerung, der zu einem monumentalen
       Denkmal führt.
       
       Der Platz, auf dem Besucher des „Historischen Museums des Widerstands“
       parken, ist nach Anna Pardini, der kleinen Schwester von Adele Pardini
       benannt, dem jüngsten Opfer des nationalsozialistischen Verbrechens. Auch
       ein Auto mit deutschem Kennzeichen steht an diesem Tag Anfang September auf
       dem Parkplatz. Man kann den Herbstanfang spüren, die Wolken hängen wie
       Nebel in den saftig grünen Berghängen. Als wäre der Ort nicht bedrückend
       genug, verleihen ihm die grauen Schleier noch mehr Schwere.
       
       Auf dem Weg zum Museum liegt die alte Kirche. Auch sie ist ein Tatort. Hier
       wurden 120 Frauen, alte Menschen und Kinder erschossen, anschließend mit
       Benzin übergossen und angezündet. Eine Gedenktafel erinnert an einen
       Priester, der vergebens versuchte, die SS-Männer zu überzeugen, nur ihn zu
       töten und die Gläubigen zu verschonen.
       
       Das Widerstandsmuseum ist in einem kleinen Gebäude untergebracht. Sofort
       fällt auf: Ein Motiv verbindet alle Teile des Museums. Das gleiche Paar
       Kinderaugen, den Blick auf den Betrachter gerichtet, schwebt in einer
       schier endlosen Leiste über den Ausstellungsmaterialien. Als wolle es
       Besucher:innen nicht vergessen lassen, wer genau hier dem Naziterror
       zum Opfer fiel.
       
       Die Kapitulation des faschistischen Italiens im September 1943 ist Thema,
       die folgende Besatzung des Landes durch deutsche Truppen, die vorrückende
       alliierte Arme, die im Juni 1944, zwei Monate vor dem Massaker, Rom befreit
       hatte und NS-Truppen weiter in Richtung Norden trieb. Und die
       Partisanenanschläge hinter der Front, die immer wieder deutsche
       Racheaktionen nach sich zogen.
       
       Auch in dem Gebiet um Sant’Anna gab es damals Partisanen. Trotz der Gefahr,
       zwischen die Fronten zu geraten, flohen viele Italiener:innen vor
       Gefechten aus der umliegenden Region in das kleine Bergdorf. Weil es schwer
       und nur über einen Wanderweg zu erreichen war, fühlten sich die Menschen
       dort sicherer. In den Tagen vor dem Angriff der SS wuchs das Dorf von rund
       450 auf knapp 1.000 Bewohner:innen an.
       
       ## „Frauen und Kindern tun sie nichts“
       
       Doch sicher war Sant’Anna nicht. Nachdem sie mutmaßlich von italienischen
       Faschisten aus der Gegend über die Wanderwege zum Dorf geführt wurden,
       umzingelten Einheiten der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“
       in den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 das Dorf. Kurz vor dem
       Massaker hatte der Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Italien,
       Albert Kesselring, seinen Männern Anweisung gegeben, den Kampf gegen die
       Partisanen „mit allen Mitteln und mit größter Schärfe“ zu führen. Dazu
       gehörten regelmäßige Vergeltungsschläge gegen unschuldige Zivilist:innen.
       
       Heute wohnt Adele Pardini in einem kleinen Haus, etwa 30 Minuten Autofahrt
       von Sant’Anna di Stazzema entfernt. Sie hat nicht viel Zeit, sie muss
       schließlich noch das Geburtstagsessen vorbereiten. Später wollen ihre Söhne
       und Enkelkinder kommen. Pardini schlurft mit gebeugtem Rücken umher, ihre
       Erinnerung aber ist so klar, als wäre das alles vor wenigen Tagen passiert.
       
       Sie erinnert sich, dass ihr Vater damals von einem Nachbarn gewarnt worden
       war, der die Deutschen anrücken sah. Er nahm seine beiden Söhne mit zu
       einer Hütte einige Kilometer von der Familie entfernt. So entkamen sie den
       Nazis. Die Mutter blieb mit den Töchtern zurück. „Der Glaube war: Frauen
       und Kindern tun sie nichts“, sagt Pardini.
       
       Sie erinnert sich, dass sie ihr Leben ihrer älteren Schwester Cesira
       verdankt, wie sie sagt. Als die Mutter tot zusammenbricht, fällt Adele
       gegen eine Holztür in der Steinwand, die sich öffnet. Cesira beobachtet
       dies und zieht ihre Schwester, die von der Maschinengewehrsalve nur leicht
       getroffen wurde, in den Raum hinter der Tür. Das Versteck rettet Adele,
       Cesira und der mittleren Schwester Lilia das Leben. Die beiden Schwestern
       Anna und Maria überleben den Kugelhagel nicht. In den folgenden Stunden
       ermordet die SS Hunderte weitere Menschen, zündet Häuser an, verlässt dann
       das Dorf.
       
       ## Auslieferung der Verurteilten wird abgelehnt
       
       Danach geriet das Massaker in Vergessenheit. Erst die unermüdliche Arbeit
       einiger Überlebenden führte zu mehr Aufarbeitung und [1][zu einem
       Gerichtsprozess]. Gerechtigkeit aber brachte der Einsatz von Adele Pardini
       und den anderen Überlebenden nicht. Auch, weil deutsche Behörden kein
       großes Interesse an der Aufarbeitung des von Deutschen begangenen Massakers
       zeigten.
       
       Kesselring wurde später von einem britischen Militärgericht zum Tode
       verurteilt, dann aber begnadigt. Verantwortliche SS-Männer wurden
       freigesprochen oder es kam gar nicht erst zu einem Prozess. Es waren die
       ersten Jahre des Kalten Krieges, der neue Gegner hieß Kommunismus, der
       Faschismus trat in den Hintergrund. Um die Beziehungen zur BRD, die 1955
       der Nato beitrat, nicht zu belasten, wurden die Unterlagen zu den
       Untersuchungen des Massakers in einen Aktenschrank – später der „Schrank
       der Schande“ genannt – eingelagert und dort vergessen. Die Täter lebten
       unbehelligt weiter.
       
       Erst im Jahr 1991 eröffnete der Überlebende Enio Mancini in Sant’Anna di
       Stazzema das Widerstandsmuseum. Und stieß damit einen Prozess der
       Aufarbeitung an. Mitte der 1990er Jahre tauchten schließlich die Akten
       wieder auf, 2004 begann der Militärgerichtshof in La Spezia einen Prozess
       gegen zehn noch in Deutschland lebende Beteiligte. Am Ende wurden
       lebenslange Haftstrafen für alle zehn Angeklagten verhängt.
       
       Aber jenseits der Alpen wurden die Geschehnisse anders bewertet.
       Deutschland, das sich seit den Auschwitz-Prozessen der 1960er Jahre gerne
       als Vorbild in Sachen juristischer Aufarbeitung sieht, [2][lehnte eine
       Auslieferung der Verurteilten nach Italien oder eine Vollstreckung der
       Urteile in Deutschland ab].
       
       Die Staatsanwaltschaft Stuttgart stellte eigene Ermittlungen im Jahr 2012
       ein – mit der Begründung, man könne den Angeklagten weder Mord noch
       Beihilfe zum Mord nachweisen. Es sei nicht erwiesen, dass das Massaker
       „eine von vornherein geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen die
       Zivilbevölkerung“ gewesen sei. Michele Morabito, Leiter des
       Widerstandsmuseums, hält diese Auslegung der Ereignisse für falsch. „Der
       Terror gegen die Zivilbevölkerung war militärische Strategie“, sagt er.
       
       Adele Pardini muss seufzen, wenn sie sich an den Gerichtsprozess in La
       Spezia und die [3][Weigerung Deutschlands zu kooperieren] erinnert. Es sei
       alles „sehr schmerzhaft“ gewesen. „Ich hätte mir Gerechtigkeit gewünscht“,
       sagt sie. Mittlerweile sind alle Verurteilten tot, die Chance auf
       Wiedergutmachung ist vertan.
       
       „Ich würde die Deutschen so gerne fragen: Was habe ich euch denn getan mit
       meiner Milch?“, sagt Pardini und muss über ihren Witz bitter lachen.
       
       24 Nov 2024
       
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