# taz.de -- Protest im Irak: Revolte auf drei Rädern
       
       > Sie holen die Verletzten und die Toten von der Frontlinie der Proteste:
       > Die Fahrer von Motorrikschas, in Bagdad Tuk-Tuks genannt, leben
       > gefährlich.
       
 (IMG) Bild: Unter Beschuss: Tuk-Tuks im Einsatz für die Protestbewegung in Bagdad, Anfang November
       
       Bagdad taz | Doghram wartet in seiner eiergelben Motorrikscha auf dem
       Tahrir-Platz, dem Zentrum der Proteste in Bagdad, auf seinen nächsten
       Einsatz. Vorne auf der kleinen Windschutzscheibe des sogenannten Tuk-Tuk
       klebt ein Aufkleber des Roten Halbmonds, der sein kleines klappriges
       Gefährt als Krankentransport ausweisen soll. „Wir arbeiten als
       Kranken-Tuk-Tuk-Fahrer im Dienste des Volkes“, sagt der 20-Jährige Iraker
       stolz.
       
       Es sind diese Tuk-Tuks, die bei den Protesten im Irak überall zu sehen
       sind. Wenn Demonstranten vor den Schüssen der Sicherheitskräfte flüchten,
       brettern die dreirädrigen Motorrikschas in die Gegenrichtung an die Front
       der Auseinandersetzungen, um Verletzte und Tote zu bergen. 19.000 Verletzte
       und über 400 Tote haben sie in den letzten Wochen schon aus der Schusslinie
       gebracht, seitdem die [1][Protestbewegung] gegen staatliche Misswirtschaft
       und Korruption weite Teile des Landes erfasst hat.
       
       Er sei nun bereits seit 15 Tagen ununterbrochen hier, übernachte sogar auf
       dem Platz, erzählt der Tuk-Tuk-Fahrer Doghram. Seitdem habe er seine
       Familie nicht mehr gesehen. Eine medizinische Gesichtsmaske baumelt
       einsatzbereit an Doghrams Hals. Diese vermittelt nicht nur eine gewisse
       medizinische Autorität, sie erweist sich auch bei Tränengaseinsätzen als
       ausgesprochen praktisch.
       
       Erst gestern habe es wieder drei Tote in der Nähe gegeben. „Einer davon
       hatte einen Kopfschuss und ist unterwegs in einem anderen Tuk-Tuk
       verstorben. Wie lange soll das noch so weitergehen“, fragt Doghram. Angst
       habe er keine, versichert er. „Wenn um mich herum geschossen wird, das
       kümmert mich nicht. Ich denke dann immer nur an eines: Den Verletzten ins
       nächste Krankenhaus zu bringen, bevor er stirbt.“
       
       ## Tuk-Tuk-Fahrer: Vom Ärgernis zum Lebensretter
       
       Es ist eine Art Ehrenkodex, dass die Tuk-Tuk-Fahrer all ihre Hilfe
       unentgeltlich tun. Mitten auf dem Tahrir-Platz steht eine ausgebrannte
       Motorikscha, daran ist ein Zettel angbracht. „Spendet für die Tuk-Tuks, wir
       gehen auf die Straße und kämpfen für unsere Rechte“, steht dort
       geschrieben. Regelmäßig wirft einer der Demonstranten einen Schein in den
       offenen Karton, der an dem Rikscha-Skelett festgebunden ist. Mit den
       Spenden sollen die Tuk-Tuk-Fahrer ihr Benzin kaufen.
       
       Die Tuk-Tuk-Fahrer, jahrelang mit ihrer rücksichtslosen Fahrweise und
       ständigem Hupen ein Ärgernis aller anderen Verkehrsteilnehmer in Bagdad,
       sind seit Beginn des Aufstands am 1. Oktober, der vor allem von
       Jugendlichen getragen wird, Teil der irakischen Popkultur geworden. Sie
       werden in Liedern besungen und sind der Stoff von Heldengedichten. Sogar
       eine [2][kostenlose Zeitung], die gelegentlich auf dem Platz verteilt wird
       und die die Demonstranten mit den neuesten Nachrichten aus ihren eigenen
       Reihen versorgt, trägt den Namen Tuk-Tuk. Deren Fahrer haben ein neues
       Selbstbewusstsein. Einer von ihnen ruht sich auf dem Tahrir-Platz mittags
       gerade im Schatten seines Fahrzeugs aus, auf dem er ebenfalls einen Zettel
       angebracht hat. „Diejenige, die mich heiratet, deren Name wird fortan mein
       Tuk-Tuk schmücken“, lautet das Angebot.
       
       An der Gumhuriya-Brücke über den Tigris verläuft einer der Fronten in
       Bagdad. Diese ist mit großen Betonbarrikaden blockiert, damit nicht
       Sicherheitskräfte oder Milizen überraschend auf den Platz gestürmt kommen.
       Außerdem gibt die Blockade Deckung vor den Scharfschützen, die in einem
       roten Hochhaus auf der anderen Seite der Ufers ihrer Einsatzbefehle harren.
       
       Gleich hinter der Barrikade wartet ein feuerrotes Tuk-Tuk auf alle
       Eventualitäten. Es ist wie viele der Rikschas mit einem Zweierteam
       bestückt. Einer fährt, der andere nimmt den Verletzten auf der engen
       Rückbank in den Arm. Platz, um Verwundete hinzulegen, gibt es nicht. Rahimi
       ist bei diesem Tuk-Tuk der Mann auf der Rückbank und so etwas wie der
       Sanitäter. Er deutet auf die Plastikflaschen mit Salzlösung, die überall an
       dem Gefährt herumbaumeln. „Die sind da, falls die andere Seite Tränengas
       einsetzt“, erklärt er. Damit würde er dann den Demonstranten die Augen
       auswaschen und sie ihren Mund ausspülen lassen, bis die Wirkung des Gases
       nachlässt. „Die benutzen nicht das Gas, dass normalerweise weltweit von der
       Polizei eingesetzt wird, sondern stärkeres Tränengas, wie es normalerweise
       beim Militär im Einsatz ist“, betont er. Anders als die Wagen der anderen
       Seite sind ihre Fahrzeuge nicht gepanzert. „Zwischen uns und den Kugeln,
       die ins unsre Richtung gefeuert werden, ist nur ein bisschen Blech,
       Polsterung aus Kunstleder“, beschreibt Rahimi die ungleiche Ausgangslage.
       
       Der junge Mann ist aber nicht nur hier, um Verletze wegzubringen. Er sieht
       sich auch als ein Teil der Protestbewegung. „Wir sind hier auf der Straße,
       um den Irak von diesen Dieben zu befreien, die uns all unser Geld und
       unsere Rechte genommen haben. Wir jungen Iraker wollen eigentlich nur ein
       menschenwürdiges Leben“, erläutert er. „Nimm mich als Beispiel“, führt er
       weiter aus. „Ich habe eigentlich Ölingenieur studiert und spreche vier
       Sprachen. Aber hier im Irak fragt niemand nach mir.“ Er ist beileibe nicht
       der Einzige, der in dem ölreichen Land für sich keinerlei Perspektive
       sieht. Zahlen der Weltbank belegen, dass 22 Prozent der Iraker unter der
       Armutsgrenze leben und ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung
       arbeitslos ist.
       
       Auf die Frage, was für ihn im Tuk-Tuk-Einsatz sein schwerste Erlebnis in
       den letzten Wochen war, denkt Rahimi ein ganze Weile nach: „Das war, als
       ich hinten mit einem verletzten Jungen saß“, beginnt er. Der sei vielleicht
       15 oder 16 Jahre alt gewesen und hatte einen Kopfschuss. „Ich hielt ihn im
       Arm, als er starb. Dann klingelte sein Handy und seine Mama war dran“,
       erinnert er sich. Sie fragte, warum nicht ihr Sohn Abbas antwortete. „Sie
       fragte immer wieder, wo ist mein Sohn, wo ist mein Sohn? Ich antwortete
       ihr, dass ihr Sohn sein Handy bei mir vergessen hatte. Ich konnte ihr
       einfach nicht die Wahrheit sagen.“ Rahimi hält inne. Seine Augen füllen
       sich mit Tränen.
       
       Aber oft sind es auch die Tuk-Tuk-Fahrer selbst, die ihren Einsatz nicht
       überleben. Eine halbe Autostunde vom Tahrir-Platz im Zentrum Bagdads
       entfernt: Eine Gruppe von Kindern spielt bei einer ausgebrannten
       Motorrikscha, die am Rand einer Hauptverkehrsstraße steht, die durch das
       Bagdader Armenviertel Sadr City führt. Die Kinder klettern durch das
       ausgebrannte Wrack und spielen den Einsatz ihrer Helden und Vorbilder nach.
       „Wir trauern um den Fahrer Ahmad al-Lami“, heißt es auf einem schwarzen
       Banner, das in der leichten Brise flattert. Ein anderer Tuk-Tuk-Fahrer, der
       ein paar Fahrgäste durch das Viertel kutschiert, hält kurz an und blickt
       still den Kindern beim Spielen zu, wohl in Gedenken an seinen Kollegen, der
       in der Nachbarschaft als der „Tuk-Tuk-Märtyrer“ bekannt ist.
       
       Gleich neben dem ausgebrannten Wrack geht es in eine Gasse, in der der
       Verstorbene gelebt hat. In seinem einfachen Haus findet gerade die
       Trauerfeier statt. Verwandte und Freunde sind zusammengekommen und sitzen
       entlang der Wände eines Raums auf dem Boden, an dessen Ende ein Porträt des
       Verstorbenen aufgebaut ist. Wie es sich für diese konservativ schiitische
       Nachbarschaft gehört, befinden sich die Männer in einem, die Frauen in
       einem anderen Raum.
       
       ## Trauerfeier für Tuk-Tuk-Märtyrer Ahmad al-Lami
       
       Der Onkel des Verstorbenen, Abu Seif al-Lami, erzählt Ahmads Geschichte.
       Der 21-Jährige war einer der Tuk-Tuk-Krankentransporter. Vor zwei Tagen
       wurde er dabei selbst erschossen, als er auf der „Brücke der Freien“ über
       den Tigris im Einsatz war, einem der derzeit gefährlichsten Orte in Bagdad.
       Sein Tuk-Tuk wurde anschließend angezündet. Die Familie konnte Ahmad am
       nächsten Tag im Leichenschauhaus abholen. Der Onkel holt ein rosafarbenes
       Papier hervor: die Sterbeurkunde. „Tödlicher Schuss in den Rücken“, heißt
       es dort. Abu Seif hat keinerlei Zweifel, wer die Verantwortung trägt.
       „Natürlich hat ihn der Staat getötet, die Regierung, sonst war niemand mit
       Waffen auf dieser Demonstration“, ist er sich sicher. Ahmad habe einfach
       nur seinen Brüdern helfen und für seine Rechte kämpfen wollen. „Er wollte
       Veränderung, er war unbewaffnet“, sagt er.
       
       Sadr City ist ein Armenviertel, in dem sich die schiitische Landbevölkerung
       aus dem Süden niedergelassen hat. Über eine Million Menschen sollen dort
       leben, wie viele genau, weiß niemand. Sadr City ist eine Hochburg
       schiitischer religiöser Parteien. Auch die schiitischen paramilitärischen
       Milizen rekrutieren hier ihre Kämpfer. Aber in dem Heim des erschossenen
       Tuk-Tuk-Chauffeurs hat sich neben tiefer Trauer auch viel Wut und Ärger
       gegen die Regierung, das Parlament und gegen die staatlichen Institutionen
       angestaut, die genau von diesen schiitischen Parteien dominiert werden.
       „Nach dem Sturz Saddams dachten wir, die religiösen Parteien werden unsere
       Zukunft aufbauen. Stattdessen haben sie unser Land zerstört und jetzt
       bringen sie uns um, anstatt Arbeit für die jungen Menschen zu schaffen“,
       sagt Ahmads Großvater Abdel Ali al-Lami mit lauter und ärgerlicher Stimme.
       
       Im Trauerraum findet, wie an vielen Orten im Irak, ein Paradigmenwechsel
       statt. Früher stand die eigene religiöse Identität im Vordergrund und die
       politische Bruchlinie verlief zwischen Schiiten und Sunniten, bis hin zu
       einem Bürgerkrieg. Heute wenden sich die Menschen eher gegen die Führung
       der eigenen Religionsgruppe, die in ihre eigenen Taschen wirtschaftet. „Sie
       haben die Religion als Waffe benutzt. Sie waren einst so arm wie wir und
       plötzlich fuhren sie große Autos und hatten eine ganze Armee von
       Leibwächtern“, beschreibt der Großvater die Entwicklung der vergangenen
       Jahre. Immer wieder ziehen die Trauernden auch über das Regime im
       benachbarten, ebenfalls schiitischen Iran her, das zu viele politischen
       Angelegenheiten des Irak kontrolliere und die Regierung gegen die
       Demonstranten aufhetze. „Unsere Politiker sind nichts anderes als iranische
       Agenten“, ist ein im Raum häufig zu hörender Satz.
       
       Der jüngere Alaa al-Lami lenkt das Gespräch wieder auf seinen verstorbenen
       Bruder Ahmad. Der hätte sich das Tuk-Tuk erst vor wenigen Wochen für
       umgerechnet 3.400 Dollar und mithilfe eines Kredits gekauft. Doch anstatt
       damit Geld zu verdienen, um seine Schulden zurückzuzahlen, habe er es als
       seine Pflicht empfunden, damit zu den Demonstrationen zu fahren, um sich um
       die Verletzten zu kümmern, blickt Alaa zurück. „Jetzt ist mein Bruder tot
       und sein neues Tuk-Tuk ist nur noch ein verbranntes Wrack.“ Eigentlich,
       meint Alaa, sollten offizielle staatliche Krankenwagen die verletzten
       Demonstranten abholen. Aber das sei nicht zu erwarten. „Der Staat lässt
       doch nicht auf dich schießen und schickt dir dann einen Krankenwagen. Nein,
       die würden dich auf der Straße liegen lassen, bis du verblutest“,
       schlussfolgert er.
       
       Draußen vor dem Haus hat sich inzwischen eine Gruppe von Freunden des
       erschossenen Fahrers versammelt. Sie haben ein etwas altmodisch wirkendes
       dunkelblaues Jackett mit hellblauen Streifen und die dazugehörige Krawatte
       mitgebracht. Die Kleidungsstücke habe der Tote erst vor wenigen Wochen
       gekauft. Er habe demnächst darin heiraten wollen, erzählen sie.
       
       ## Die letzten Videos eines Toten
       
       Es sind gut zwei Dutzend Freunde, die gekommen sind, um über Ahmad zu
       sprechen. Offensichtlich war der junge Mann in seiner Nachbarschaft sehr
       beliebt. Den ganzen Tag hätten sie sein Lachen gehört. Alle hier haben ihn
       gemocht, erzählen sie, besonders weil er so hilfsbereit gewesen sei. „Als
       einer seiner Freunde verhaftet wurde, ist Ahmad zur Polizeiwache gefahren
       und hat angeboten, an dessen Stelle ins Gefängnis zu gehen, denn sein
       Freund ist verheiratet und hat Kinder“, erzählt Abbas, Ahmads bester
       Freund. Sie hätten ihn verprügelt und nach Hause geschickt.
       
       Dann zücken die Freunde ihre Handys, um ihre Worte zu untermauern. Sie
       präsentieren Videos von Ahmad. Die zeigen einen lebenslustigen jungen Mann,
       er in seinem Tuk-Tuk sitzt und scherzt. Es folgt ein Video von der
       Trauerfeier am Tag, nachdem Ahmads Leiche im Haus ankam. Ein schiitischer
       Scheich zitiert aus dem Koran. Einer der jungen Freunde ist zu sehen, wie
       er sich mit der Faust ununterbrochen auf den Kopf schlägt und dabei laute
       Schreie loslässt. Ein anderer steht auf und reißt sich das Hemd auf,
       schluchzt unkontrolliert und schlägt um sich, bis ein älterer Mann zu ihm
       kommt, seine Arme herunterdrückt und ihn an sich drückt. Es sind
       ungebremste Gefühle der jungen Iraker für einen der ihren, der im Kampf für
       Veränderung und ihre Zukunft sein Leben ließ.
       
       Das letzte Video zeigt die Beerdigung. Familie und Freunde feuern aus
       Respekt für den Toten mit ihren Kalaschnikows in die Luft, wie es
       traditionell üblich ist. Eine Salve folgt der anderen. Es ist ein Beweis
       dafür, dass sie alle Waffen zu Hause haben. Es grenzt eigentlich an ein
       Mirakel, dass die Demonstranten trotzdem bisher unbewaffnet auf die Straße
       gehen und friedlich demonstrieren. Aber es ist ein Wunder, dessen
       Ablaufdatum immer näher rückt.
       
       6 Dec 2019
       
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       ## AUTOREN
       
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