# taz.de -- Boykottaufrufe vor Parlamentswahlen: Wahl und Nichtwahl in Irak
       
       > Mit Massenprotesten hat Iraks Protestbewegung erfolgreich eine Neuwahl
       > erzwungen. Doch nun rufen viele progressive Kräfte zum Wahlboykott auf.
       
 (IMG) Bild: Irakisches Sicherheitspersonal darf früher an die Wahlurne: Am Sonntag wählt der Rest des Landes
       
       Berlin taz | Irak wählt ein neues Parlament. Positiv gewertet ist allein
       der Wahltermin am Sonntag schon ein kleiner Erfolg der Protestbewegung, die
       seit 2019 einen demokratischen Wandel im Land fordert.
       Massendemonstrationen [1][hatten die Regierung in Bagdad zu Fall gebracht],
       und der neue Regierungschef Mustafa Kadhimi versprach gleich nach seiner
       Vereidigung im vergangenen Jahr eine Neuwahl.
       
       Der vorgezogene Urnengang ist der fünfte seit dem Sturz Saddam Husseins
       durch die USA, doch von Demokratie ist das Land fast zwanzig Jahre nach
       Ende der Diktatur weit entfernt. Ganz oben auf der Mängelliste der
       Protestbewegung stehen neben Arbeitslosigkeit und Korruption die Gefahr für
       Leib und Leben von Aktivist*innen und Medienschaffenden sowie der
       Konfessionalismus im Land. Denn das Saddam-Regime wurde ersetzt durch ein
       korruptes und intransparentes etho-konfessionelles Mehrparteiensystem.
       
       „Große Teile der irakischen Gesellschaft sind vom System desillusioniert
       und werden die Wahl boykottieren“, [2][prognostiziert] die Analystin
       Nussaibah Younis. „Auf die Wahl werden wahrscheinlich lange Verhandlungen
       über die Regierungsbildung folgen, nach denen zu erwarten ist, dass sich
       die etablierten politischen Parteien auf eine Machtaufteilung einigen
       werden, ähnlich der, die Irak derzeit hat.“ Möglich auch, dass Kadhimi
       Regierungschef bleibt.
       
       Dabei wollten die Demokratieaktivist*innen genau dieses Weiter-So
       verhindern. Zwar sind aus der Bewegung, in deren Reihen [3][mehr als 600]
       Tote zu verzeichnen sind, einige kleine Parteien und unabhängige
       Kandidat*innen hervorgegangen. Doch die Sicherheitslage – besonders für
       politisch Aktive – ist weiter katastrophal, weshalb viele progressive
       Kräfte den Wahlboykott unterstützen. [4][Zahlreiche Aktivist*innen
       wurden von Sicherheitskräften oder Milizionären getötet]; vor allem der
       Mord an Dschawad al-Wasni, einem der Organisatoren der Proteste,
       schockierte viele.
       
       ## Umstrittene Boykottaufrufe
       
       „Vorgezogene Wahlen waren zwar eine Forderung der Demonstrierenden, die am
       Oktoberaufstand teilgenommen haben“, schreibt Jassim Al-Helfi, Mitglied der
       Kommunistischen Partei, die sich ebenfalls dem Boykott angeschlossen hat
       „aber sie haben die Forderung an eine Reihe von Bedingungen geknüpft.“
       
       Aktuell herrsche weder Chancengleichhheit noch Meinungsfreiheit. Ein
       Boykott sei die richtige Antwort auf die Versuche der Herrschenden, „ein
       unfaires Wahlumfeld aufrechtzuerhalten, das Betrug in all seinen Formen
       zulässt, den Willen des Volkes missachtet und den Wählern ihr Recht
       verweigert, ihre Vertreter frei zu wählen.“
       
       „Die gesamte Politik scheint vorrangig auf die politische Repräsentation
       der Parteien ausgerichtet zu sein und weniger auf das Wohl der
       Bevölkerung“, kritisiert auch der Cellist und [5][Dirigent Karim Wasfi, der
       die Massenproteste mit öffentlichen Konzerten unterstützte]. Heute herrsche
       eine „entmutigte Stimmung“ unter den Aktivist*innen, da Teile der Bewegung
       mit den etablierten Parteien gemeinsame Sache machten, auch wenn andere
       weiter Druck ausübten.
       
       ## Streitpunkt Teheran
       
       Am Ende werden wohl die großen, an den ethno-konfessionellen Gemeinschaften
       der Schiiten, Sunniten und Kurden ausgerichteten Parteien erneut das Rennen
       machen. Stärkste Kraft dürfte die vom einflussreichen schiitischen Kleriker
       geführte Saeroon-Allianz werden. Konkurrenz bekommt sie von der
       Fatah-Koalition, unter deren Schirm sich schiitische Milizen
       zusammengeschlossen haben, die dem Regime im Nachbarstaat Iran nahestehen.
       
       Der massive Einfluss Teherans ist eine der Hauptkonfliktlinien im Irak. Das
       iranische Regime hat seine Macht nach 2003 mithilfe von
       Stellvertretermilizen gezielt ausgebaut. Gruppierungen wie Asaib Ahl al-Haq
       und Kataib Hisbollah, die unter der Ägide Teherans agieren, konnten ihren
       Einfluss ausweiten, nachdem sie den „Islamischen Staat“ (IS) militärisch
       besiegten, der zwischen 2014 und 2017 weite Teile Iraks kontrollierte.
       
       Ein wirklicher Wandel dürfte nach der Wahl vom Sonntag unter einer von den
       großen Parteien gestellten Regierung kaum ausgehen. „Die nächste Regierung
       wird wahrscheinlich unfähig oder unwillig sein, die Korruption und die
       sozioökonomischen Misstände anzugehen“, schreibt die Analystin Younis. Sie
       rechnet sogar mit weiteren Massenprotesten wie schon 2019.
       
       Musiker Wasfi, der einen Boykott nicht für das richtige Mittel hält, mahnt
       derweil, die Bewegung dürfe ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren:
       „Protest sollte den Weg gestalten und den Wandel unterstützen statt selbst
       zum Weg zu werden“, sagt er gegenüber der taz. „Wir sollten uns darum
       kümmern, was durch Protest verändert werden kann, anstatt nur zu
       protestieren.“
       
       8 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Zehn-Jahre-Arabischer-Fruehling/!5734139
 (DIR) [2] https://ecfr.eu/article/iraqs-parliamentary-election-will-produce-more-of-the-same/
 (DIR) [3] https://www.alarabiya.net/arab-and-world/iraq/2020/01/13/%D9%85%D8%B1%D9%83%D8%B2-%D8%AA%D9%88%D8%AB%D9%8A%D9%82-%D8%AC%D8%B1%D8%A7%D8%A6%D9%85-%D8%A7%D9%84%D8%AD%D8%B1%D8%A8-%D8%A8%D8%A7%D9%84%D8%B9%D8%B1%D8%A7%D9%82-669-%D9%82%D8%AA%D9%8A%D9%84%D8%A7-%D8%A8%D8%A7%D9%84%D9%85%D8%B8%D8%A7%D9%87%D8%B1%D8%A7%D8%AA
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jannis Hagmann
       
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