# taz.de -- Irakische Politikerin über die Aufstände: „Fast alle machen mit“
       
       > 500 Menschen sind bei Protesten im Irak getötet worden. Und die Lage
       > könnte weiter eskalieren, sagt die Politikerin Haifa al-Amin.
       
 (IMG) Bild: „Friedlich“ steht auf ihren Helmen: Demonstrantinnen gedenken der Toten im Dezember in Basra
       
       taz: Frau Amin, die jungen Leute, die im Irak unter Lebensgefahr seit
       Anfang Oktober protestieren, haben die Saddam-Diktatur nie erlebt. Sie sind
       in einem parlamentarischen System aufgewachsen. Was treibt sie auf die
       Straße? 
       
       Haifa al-Amin: Die 16-, 17- und 18-Jährigen, die nach dem Umbruch von 2003
       aufgewachsen sind, haben die Öffnung des Landes erlebt. Sie haben Zugang
       zum Rest der Welt und vergleichen sich mit jungen Leuten anderswo. Das
       Problem im Irak ist nicht der Parlamentarismus, sondern der grundlegende
       Aufbau des politischen Systems seit 2003. Posten werden nach
       konfessioneller und ethischer Zugehörigkeit verteilt. Funktionierende
       staatliche Institutionen konnten nie aufgebaut werden.
       
       Wie wirkt sich das aus? 
       
       Wir haben eine enorm hohe Arbeitslosigkeit. Selbst Uni-Absolventen finden
       keine Jobs. Kranke müssen für eine vernünftige medizinische Versorgung ins
       Ausland fahren. Das staatliche Bildungssystem ist fast komplett
       zusammengebrochen, Privatschulen sind aber teuer. Kinderarbeit ist weit
       verbreitet, weil der Kampf gegen den IS zuhauf Witwen und Waisen
       hinterlassen hat, es aber kein funktionierendes Sozialversicherungssystem
       gibt. All das hat zu einer riesigen Schere zwischen Arm und Reich geführt.
       
       Sind es überwiegend die Armen, die aufbegehren? 
       
       Nein, fast alle Schichten machen beim Aufstand mit. Zuerst waren es
       Studierende, dann folgten Uni-Absolventen, Arbeitslose, Arbeiter, Stämme,
       Gewerkschaften und Verbände. Auch Intellektuelle haben sich hinter die
       Forderungen gestellt, die sich mit dem [1][Slogan „Wir wollen ein
       Vaterland“] zusammenfassen lassen.
       
       Ein „Vaterland“? 
       
       Gemeint ist ein wirklich demokratisches System, in dem Staatsbürgerschaft
       an erster Stelle steht und nicht der politische Proporz unter den Parteien.
       
       Sie sprechen von Parteien, als stünden sie einer demokratischen Entwicklung
       im Wege. 
       
       Politische Parteien sind natürlich ein geeigneter Weg, um eine Demokratie
       zu etablieren. Aber im Irak sind sie wie Pilze aus dem Boden geschossen. Es
       gibt 206 zugelassene Parteien. Meist geht es einzig und allein um Zugang zu
       öffentlichen Geldern. Außerdem haben viele einen bewaffneten Flügel, sind
       also Milizen.
       
       Was konkret fordern die Protestierenden in dieser Situation? 
       
       Die erste Forderung war: Sturz der Regierung und ein Kabinett von
       unparteiischen Ministern. Zweitens: Auflösung des Parlaments und Neuwahlen.
       Drittens: ein neues Wahlgesetz, damit die gesamte Bandbreite der
       Gesellschaft repräsentiert wird. Eine unabhängige Wahlkommission soll
       eingerichtet werden und die Neuwahl unter internationaler Beobachtung
       stattfinden.
       
       Ministerpräsident Ali Abdel Mahdi hat im November bereits [2][seinen
       Rücktritt verkündet]. Am Donnerstag läuft die Frist aus, um einen
       Nachfolger zu bestimmen. 
       
       Wie es jetzt weitergehen soll, ist extrem umstritten. Die Parteien wollen
       jemanden aus den eigenen Reihen installieren, was die Protestierenden
       kategorisch ablehnen. Sie bestehen darauf, den Regierungschef selbst zu
       bestimmen. Läuft die Frist ab, muss laut Verfassung zunächst Präsident
       Barham Salih die Amtsgeschäfte weiterführen …
       
       … was die Protestierenden wohl nicht zufriedenstellen wird. 
       
       Die Parteien werden der Straße nicht ihren Willen aufzwingen können.
       Entweder geben sie nach oder, das befürchte ich, die Lage wird weiter
       eskalieren.
       
       Die Proteste richten sich auch gegen die [3][Einmischung des Nachbarlandes
       Iran]. 
       
       Eine der Hauptforderungen ist, dass Entscheidungen unabhängig vom Ausland
       getroffen werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Irak zum Spielfeld
       anderer Konfliktparteien wird. Besonders der Konflikt zwischen dem Iran und
       den USA schadet dem Irak, denn viele Parteien erhalten bedeutende
       Unterstützung aus dem Iran.
       
       Obwohl konsequent zu friedlichem Protest aufgerufen wird, ist es zu
       massiver Gewalt gekommen. Wer ist dafür verantwortlich? 
       
       Die Zahl der Märtyrer, die in dieser Intifada gefallen sind, ist auf über
       500 gestiegen, 20.000 wurden verletzt, Tausende verschleppt. Es ist üblich,
       dass auf offener Straße gemordet wird. Die direkte Verantwortung dafür
       liegt bei den Kräften, die außerhalb der Kontrolle des Staates Waffen
       tragen. Die Milizen der Parteien sind es, die Demonstrierende töten, um die
       Revolution zu unterdrücken. Aber letztlich ist die Regierung
       verantwortlich, denn sie ist es, die die Sicherheit der Demonstrierenden zu
       gewährleisten hat.
       
       19 Dec 2019
       
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