# taz.de -- Keine Anfeindungen, keine blöden Fragen: Ein Safe Place
       
       > Im neuen „Lebensort Vielfalt“ in Berlin-Schöneberg sollen sich LGBTI* zu
       > Hause fühlen, auch wenn sie älter werden. Die Nachfrage ist riesig.
       
 (IMG) Bild: Die Schaukel gehört auch dazu, schließlich ist ja sogar eine Kita im Haus
       
       Berlin taz | Ein Pronomen verwendet Annet nicht. „Weil es für mich immer
       wieder ein Coming-out bedeutet. Ich sag, ich heiße Annet, und fertig.“ Auch
       der Nachname soll keine Rolle spielen. „Weil das hier mein Safe Place ist
       und das auch möglichst so bleiben soll.“ Denn Annet ist viel unterwegs und
       präsent bei Demos und in verschiedenen Belangen wie der Flüchtlingshilfe
       engagiert. Dafür gab es einige Auszeichnungen, zum Beispiel 2019 den
       Stonewall Award in der Kategorie Lokal und zuletzt den Ehrenpreis des 13.
       Community Star 2023. Damit mag sich Annet „nicht rühmen, aber die
       Auszeichnungen motivieren mich“.
       
       Wichtig sei es, „sichtbar zu sein und Gesicht zu zeigen“ – auch wenn das
       mitunter Anfeindungen, meist verbaler Art, einbringt. Erst neulich habe ein
       Passant „Eh, du scheiß Schwuchtel“ gerufen. „Deshalb ist mir mein Safe
       Place, meine kleine Wohnung so wichtig.“ Die befindet sich im „Lebensort
       Vielfalt“ in Berlin-Schöneberg, in der Nähe des S-Bahnhofs Südkreuz.
       
       Unter dem Lebensort Vielfalt – der [1][im Oktober letzten Jahres eröffnet
       wurde] – muss man sich einen modernsten Gebäudekomplex vorstellen, 5
       Stockwerke hoch, der an einer Straßenecke über Eck erbaut wurde. Der
       riesige Kasten beherbergt vor allem Wohnungen, es sind 69 an der Zahl, die
       vermietet werden – an queere Menschen. Dabei ist das mit der Vielfalt
       wörtlich zu nehmen.
       
       „Bei uns leben Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, schwule Männer
       und lesbische Frauen, bisexuelle, trans* und inter Menschen
       unterschiedlicher Generationen“, erklärt Marcel de Groot, Geschäftsführer
       der Schwulenberatung Berlin gGmbH, [2][dem Träger des Lebensort Vielfalt],
       das Konzept der Wohnanlage. Es gibt 44 Wohnungen mit einem Zimmer, 12 mit
       zwei Zimmern und 9 Wohnungen mit drei oder vier Zimmern. Und wie setzt sich
       Mieterschaft zusammen? 54 Prozent sind schwul, 31 Prozent lesbisch und 15
       Prozent trans*, wobei die Grenzen mitunter fließend sind. 32 Wohnungen
       waren für Besitzer:innen eines Wohnberechtigungsscheins vorgesehen.
       
       ## Eine Kommission entscheidet
       
       „Die Auswahl der Bewohner:innen hat eine Kommission getroffen“, erklärt
       Marcel de Groot das Prozedere, „die nach LGBTI*, Herkunft und Alter
       entschieden hat, um eine bunte Mischung zu erreichen.“
       
       Der Lebensort Vielfalt lässt sich wie eine Art Dorf vorstellen, in dem sich
       die Bewohner:innen gegenseitig stützen und helfen können, wenn sie
       wollen. „Man kann sich Kaffee borgen, mal ein Paket annehmen oder einfach
       auch nur einen Tee oder Wein zusammen trinken.“ Das ist ein Ort, wo man
       Gleichgesinnte findet, wo man sich nicht immer wieder neu erklären oder
       definieren muss, wer oder was man denn nun ist – ganz im Sinne eines Safe
       Places.
       
       Zur Eröffnung im Oktober waren manche Teile des Gebäudekomplexes noch nicht
       bezugsfertig. Das Restaurant „Le Quartier“ hat erst seit einem Monat
       geöffnet. Heute steht Seelachsfilet mit Petersilien-Speckbutter und
       Kartoffelpüree auf der Mittagskarte – und es schmeckt gut.
       
       Am Montag dieser Woche hat im 3. Stock die Pflege-Wohngemeinschaft ihren
       Betrieb aufgenommen. Es handelt sich um eine gemischte WG; 5 der 8 Plätze
       sind schon vergeben. Außerdem gibt es zwei therapeutische
       Wohngemeinschaften sowie eine Beschäftigungsstätte für LGBTI* mit
       psychischen Beeinträchtigungen, und auch die [3][Kita „Rosarote Tiger“] ist
       längst eröffnet.
       
       Im Lebensort Vielfalt hat die Schwulenberatung eine halbe Etage für sich
       eingeplant, hier sind 60 Mitarbeitende etwa für Beratungen für Suchtthemen
       und andere Aufgaben beschäftigt. Die letzten Teams sind in dieser Woche
       eingezogen. „Das ist nun unser Hauptsitz“, sagt Marcel de Groot.
       
       Insgesamt hat die Schwulenberatung über die Stadt verteilt 230
       Mitarbeitende. So gibt es zum Beispiel bereits seit 2012 den Lebensort
       Vielfalt [4][in der Niebuhrstraße in Berlin-Charlottenburg]. Auch dort
       leben mehrere Generationen miteinander, wobei etwa 60 Prozent der
       Bewohner:innen schwule Männer über 55 sind. Und im Lebensort Vielfalt
       [5][am Ostkreuz in Berlin-Friedrichshain] – dem dritten Standort dieser Art
       – gibt es seit 2018 vier Wohngemeinschaften für schwule, trans* oder inter*
       Menschen mit und ohne Fluchterfahrung.
       
       Am neuen Standort Schöneberg ist die Wohnung von Annet rund 22 Quadratmeter
       groß, eher spartanisch und zweckmäßig eingerichtet. Das wäre schon immer so
       gewesen, sagt Annet. Nur ein paar Erinnerungsstücke sind aus der alten
       Wohnung mit umgezogen, zum Beispiel einige Medaillen, die über der Spüle
       hängen. „Die hab ich für die Teilnahme an verschiedenen Marathons bekommen,
       als ich das noch konnte.“ Annet braucht nicht viel. „Ich bin ja oft draußen
       unterwegs. Doch das hier ist mein Rückzugsort. Ich bin happy, dass ich hier
       wohnen kann.“
       
       Im Lebensort Vielfalt müsse sich niemand verstellen. „Hier sprechen wir die
       Sprache der Herzen“, sagt Annett. „Ich bin den Mitarbeiter:innen der
       Schwulenberatung sehr dankbar, wie sie mich unterstützt haben, damit ich
       hier einziehen durfte.“
       
       Annet ist in Berlin geboren, „und auch meine Eltern schon – ich bin also
       sozusagen waschecht!“ Annet wollte sich verkleinern, dazu kam, dass die 42
       Quadratmeter große Wohnung in Mariendorf nur über 62 Stufen zu erreichen
       war. „Und nach insgesamt elf Operationen über die Jahre hinweg und einem
       angerissenen Innenmenikus fällt es mir immer schwerer, Treppen zu steigen,
       vor allem nach unten, ich werde eben auch nicht jünger.“ Hier gebe es einen
       Lift, „der ist echt Gold wert, und kaum Barrieren – und einen Balkon, den
       hatte ich die letzten 22 Jahre nicht. Ich war immer eigenständig und hier
       kann ich weiter eigenständig leben.“
       
       Eine Altersangabe möchte Annet nicht machen: „Ich habe schon zu oft
       Altersdiskriminierung erlebt, das tut in der Seele weh.“
       
       Annet erzählt bei einem Kräutertee und belgischen Waffeln von der Kindheit.
       „Ich bin mit Jungs auf der Straße und Fußball groß geworden. Damals hatte
       ich mit Mädchen noch nichts am Hut.“ Das Coming-out – „ich bin lesbisch“ –
       kam „erst spät, so mit 30“. Annet hat in verschiedenen Berufen gearbeitet,
       unter anderem auch im „Traumberuf als Rettungsschwimmerin“; zuletzt viele
       Jahre lang in der ambulanten Hauspflege in Schöneberg. „Ein knüppelharter
       Job.“
       
       Annet ist bewusst Mitte September in den Lebensort Vielfalt gezogen. „Es
       ist schön hier. Ich habe tolle Nachbarn. Du kannst Kontakt haben, wenn du
       magst, aber auch einfach die Tür zumachen, wenn du deine Ruhe haben
       willst.“
       
       Marcel de Groot kennt Annet natürlich und freut sich, dass dieser „sehr
       engagierte Mensch“ bei ihnen eingezogen ist. Man könnte auch sagen: Annet
       hat Glück gehabt. Denn die Wohnungen sind begehrt. „800 Leute stehen auf
       der Warteliste. Ich finde diese Zahl erschreckend, sie zeigt, wie groß die
       Wohnungsnot in Berlin geworden ist“, sagt Marcel de Groot.
       
       Der Bedarf nach geschützten Wohnungen sei enorm in der Hauptstadt, wie
       überall im Land. „Man sollte nicht unterschätzen, wie wertvoll es für
       queere Menschen sein kann, in einem Safe Place wie diesen hier ganz ohne
       Probleme zu leben“, sagt de Groot. Die Schwulenberatung mache deshalb immer
       wieder Gesprächsangebote an den Senat, zum Beispiel auch über den Berliner
       [6][Queerbeauftragten Alfonso Pantisano], um auf die spezifischen Probleme
       der LGBTI*-Community hinzuweisen.
       
       Der Lebensort Vielfalt habe eine Vorbildfunktion, meint Marcel de Groot.
       Das zeige auch das große Interesse am neuen Standort in Schöneberg –
       weltweit. „Ein finnisches Fernsehteam war gerade da und eine Gruppe aus
       Amerika, die sich für unser Projekt interessiert und vor allem die Frage,
       wie wir das hinbekommen haben.“
       
       Ja, wie denn?
       
       ## Es handelt sich um Eigentum
       
       „Wir haben einen Ort geschaffen, der uns gehört, der Community, und den man
       uns nicht mehr wegnehmen kann.“ Die Schwulenberatung hat den Lebensort
       Vielfalt gebaut – es handelt sich um Eigentum. Das ist heutzutage viel
       wert. „Alle Projekte klagen ja über die steigenden Mietkosten, das bleibt
       uns erspart. Auch wenn wir die nächsten 30 oder 40 Jahre Kredite abzahlen
       müssen.“
       
       Die Gesamtkosten belaufen sich nach Angaben der Schwulenberatung auf rund
       26 Millionen Euro. Die Realisierung nahm mehr als sechs Jahre in Anspruch,
       gebaut wurde rund zweieinhalb Jahre lang. Verschiedene Stiftungen förderten
       das Projekt mit großen Summen, hinzu kamen private und öffentliche Kredite,
       Spenden und Erbschaften.
       
       „Ein Zeichen der Sichtbarkeit im Kiez“ solle der Lebensort Vielfalt sein,
       sagt Marcel de Groot. „Zugleich verstehen wir uns als Teil des Kiezes – das
       ist unser bester Schutz, falls es jemals zu Problemen kommen sollte.“
       
       Der Platz vor dem Lebensort Vielfalt wird in naher Zukunft neu gepflastert
       und den Namen Charlotte Wolff tragen, erzählt de Groot. Die Namensgeberin
       des Platzes war Ärztin und Sexualwissenschaftlern, studierte in Berlin und
       lebte hier bis 1933. Als Jüdin verfolgt, floh sie nach Frankreich, später
       nach England. In London veröffentlichte sie grundlegende Werke zur
       weiblichen Homosexualität. Der Charlotte-Wolff-Platz wäre dann eines Tages,
       so de Groot, der ideale Ort etwa für „Kiezfeste mit Kaffee und Kuchen und
       Handtaschenweitwuf“ – nur mal so als Beispiel.
       
       Der Lebensort Vielfalt sucht europaweit seinesgleichen. Wichtig ist die
       soziale Komponente: „Ungefähr die Hälfte der Wohnungen werden an Inhaber
       eines Wohnberechtigungsscheines vergeben“, sagt de Groot – so wie zum
       Beispiel an Annet. Die Miete beträgt 6,50 pro Quadratmeter. Diese Wohnungen
       sind querfinanziert durch jene, die weit teurer vermietet werden können,
       für je nach Größe zwischen 14 und 18 Euro pro Quadratmeter.
       
       Das mit der Querfinanzierung findet Lutz-Peter Dreißig eine „richtig gute
       Idee“. Er wohnt im 5. Stock und ist hier als einer der ersten bereits
       Anfang August letzten Jahres, also noch vor der Eröffnung im Oktober,
       eingezogen. Alte Möbelstücke aus Kieferholz sind mit umgezogen, viele
       Kunstdrucke und auch eine frühe Fotografie von Marlene Dietrich mit
       handschriftlichen Anweisungen auf der Rückseite, wie ihr Bild zu
       retuschieren wäre. „Das war ein Zufallsfund in einem Antiquariat“, erzählt
       Dreißig bei einem Kaffee.
       
       ## Die letzte Wohnung
       
       „Ich habe die Wohnung leer übernommen, es gab weiße Wände, die Technik,
       viel mehr aber nicht.“ Vom Schnitt her sei das „eine der schönsten
       Wohnungen“ hier im Lebensort Vielfalt – zwei Zimmer mit Bad auf 66,5
       Quadratmeter samt Balkon. „Ich konnte alles so einrichten, wie ich es
       wollte.“ Die schicke weiße Küche hat er einbauen lassen und dabei „jeden
       Zentimeter ausgenutzt“, einen grauen Wandschrank im Schlafzimmer anfertigen
       lassen, und sich aufwändige Beleuchtung für seine grafische Kunst an den
       Wänden geleistet. Das hat er sich was kosten lassen. „Aber das ist meine
       letzte Wohnung“, sagt er.
       
       Lutz-Peter Dreißig wird im Mai 79 Jahre alt, aber man merkt ihm sein Alter
       nicht an. „Ich lebe nicht rückwärtsgewandt“, sagt er, „ich schaue lieber
       nach vorn.“ Seit vergangenem Jahr ist er Mitglied der SPD und nimmt am
       Parteileben „als stilles Mitglied“ in Berlin-Schöneberg teil, vor allem
       dann, „wenn Kevin Kühnert kommt“, denn den findet er toll, vor allem in
       seinen politischen Argumentationen.
       
       Dreißig geht gerne ins Theater, Kino und Konzert, liest historische Romane,
       kocht für Freunde, verreist immer wieder (demnächst stehen Warnemünde und
       Nizza auf dem Reiseplan) und macht mit im Kreis von sieben anderen
       Mitbewohner:innen, die sich um den Gemeinschaftsraum kümmern – so wie auch
       Annet.
       
       „Wir sind noch in der Findungsphase“, erzählt Dreißig, „und überlegen, was
       dort alles stattfinden kann.“ Kochkurse zum Beispiel? Oder soll da eine
       Bibliothek rein? Das ist allein Sache der Bewohner:innen. Übrigens auch die
       Finanzierung. Dreißig kümmert sich mit anderen um die Ausgestaltung des
       Raumes.
       
       Denkt er auch an später, wenn er mal nicht mehr so gut kann? Klar, meint
       er, das habe er „im Hinterkopf“. Im Falle eines Falles würde er eben
       Pflegedienste von außen in Anspruch nehmen. Und er hat vorgesorgt, hat
       Patientenverfügung und Vollmachten und Testament längst hinterlegt. „Und
       ich habe meine Beerdigung geplant und schon bezahlt.“ Das findet er gut so:
       „Ich habe das alles erledigt, es liegt mir nicht mehr auf der Schulter.“
       Seine letzte Ruhe wird er in einer Urnennische im Kolumbarium finden, neben
       seinem Mann.
       
       Warum ist er in den Lebensort Vielfalt gezogen? „Die Wohnung war für mich
       allein zu groß, also hab ich sie verkauft.“ Und überhaupt: „Neu Anfangen
       geht auch im Alter.“
       
       Dreißig wurde 1945 drei Tage vor Kriegsende in einer Gartenlaube in
       Köpenick geboren. Als er ein Jahr alt war, flüchtete seine Mutter mit ihm
       in die Pfalz. Lebensstationen sind Mannheim und Frankfurt am Main; lange
       Jahre arbeitete er in Hamburg: „Ich habe Modekataloge für einen
       internationalen Versandhandel gemacht, dass gefiel mir gut.“ Später
       gründete er eine eigene Grafikagentur.
       
       In Hamburg hat Dreißig auch seinen Mann kennengelernt. „Wir waren 36 Jahre
       ein Paar und haben geheiratet, als es möglich wurde.“ Ein gerahmtes
       schwarz-weißes Foto an der Wand zeigt die beiden in jungen Jahren.
       
       „Ich habe immer gut verdient und kann von meinem Vermögen gut leben“,
       erzählt Dreißig. Mit 59 Jahren hat er aufgehört zu arbeiten. Es hat ihn
       damals nach Teneriffa verschlagen. „Wir haben dort eine Wohnung gekauft, es
       war schön, aber nach vier Jahren hatte ich genug … Ich komme ja aus der
       Großstadt und die habe ich vermisst; Kultur, Theater, Geschäfte,
       Restaurants.“
       
       Zurück nach Hamburg kam nicht in Frage. Die Pfalz schon gar nicht, ebenso
       wenig München. Blieb Berlin. Dort kaufte sich das Paar eine Wohnung in
       Charlottenburg. „Als mein Mann vor vier Jahren ging, war das ein schwerer
       Verlust“, sagt Dreißig. Die größte Trauer sei vorbei, aber die Erinnerungen
       seien geblieben.
       
       „Hier zu wohnen ist ein Glücksfall“, sagt Dreißig, „du bist hier
       unabhängig, aber eingebunden, weil du in einer Gemeinschaft lebst.“ Der
       generationsübergreifende Ansatz sei ein großes Plus, „das ist besser, als
       wenn hier nur alte Knacker leben würden.“ Dass hier auch Frauen und Trans*
       leben, findet er gut, auch die Regenbogen-Kita. „Das bringt Leben in die
       Bude.“ Anfangs sei alles neu gewesen, auch die Nachbarn, aber nach und nach
       lerne man sich kennen, habe mit dem einen mehr, mit dem anderen weniger
       Kontakt – „wie in einem normalen Mietshaus“.
       
       22 Jan 2024
       
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