# taz.de -- 1.400 Tage Krieg in der Ukraine: Weihnachtsbaum steht für Widerstand
       
       > Familienfeste, Weihnachtsbeleuchtung – all das ist in der Ukraine heute
       > etwas Kostbares. Unsere Autorin reflektiert über die kommenden Feiertage.
       
 (IMG) Bild: Der zentrale Weihnachtsbaum in Kyjiw vor der Sophienkathedrale nach dem feierlichen Einschalten seiner Lichter, 5. Dezember
       
       In meiner Kyjiwer Wohnung gibt es schon seit fünf Stunden keinen Strom
       mehr. Licht spendet einzig ein kleiner, batteriebetriebener Weihnachtsbaum
       von Jysk. Normalerweise fange ich nicht so früh mit den
       Weihnachtsvorbereitungen an. [1][Bei uns in der Ukraine wurden solche Bäume
       gewöhnlich erst am 31. Dezember als Neujahrsbäume aufgestellt].
       
       Aber in diesem Jahr [2][haben die Russen schon Anfang November damit
       begonnen, unsere Energieinfrastruktur zu bombardieren]. Darum stehen jetzt
       in meiner Wohnung außerdem überall Kerzen. Würde man das nicht im Kontext
       des Krieges sehen, wirkte es gemütlich, ja sogar festlich. Aber das ist
       unmöglich, denn fast jede Nacht fliegen Raketen und Drohnen auf Kyjiw.
       
       ## Kindheitserinnerungen
       
       Die kleinen Lichter versetzen mich in meine Chersoner Kindheit zurück.
       Neujahr war immer der Feiertag, auf den ich mich am meisten gefreut habe.
       Nicht wegen der Geschenke, sondern wegen der Leute. Wir hatten Gäste, haben
       das Haus geschmückt, mein Vater kaufte einen Tannenbaum und meine Schwester
       und ich stritten darüber, wie wir ihn schmücken sollten. Für mich war das
       immer die schönste Zeit im Jahr: Meine Eltern mussten nicht zur Arbeit,
       nahmen sich Zeit für sich und vor allem auch für uns.
       
       Mama bereitete mit uns Heringssalat, Sülze, Kartoffeln und Fleisch vor.
       Papa ging mit uns zum Eisangeln. Als ich Kind war, gab es im Gebiet Cherson
       noch schneereiche, eisige Winter. Wir nahmen den Schlitten und unseren Hund
       Bob mit und verbrachten dann Stunden am zugefrorenen Fluss. Ich mochte es
       immer sehr, wie Bob auf dem Eis herumtollte – er rutschte, fiel und sprang
       wieder hoch. Und wir standen daneben und lachten.
       
       In diesem Jahr werde ich Neujahr wieder einmal mit meinen Eltern feiern.
       Jetzt bin ich es, die lange Urlaub hat und ihn zu Hause mit der Familie
       verbringen möchte.
       
       ## Temporär besetzt
       
       Das Gebiet Cherson im Süden der Ukraine hat nichts mehr mit dem meiner
       Kindheit zu tun. Teile des Gebietes sind russisch besetzt, [3][andere unter
       ständigem Beschuss]. Dort, wo meine Eltern leben, ist es relativ ruhig.
       Aber auch dorthin kommen manchmal Shahed-Drohnen. Von Kyjiw ins Dorf meiner
       Eltern brauche ich fast zehn Stunden mit Bahn und Bus. Das ist lange. Aber
       in Anbetracht der Tatsache, dass dieses Dorf ebenfalls temporär besetzt war
       und von der ukrainischen Landkarte hätte verschwinden können, bin ich
       bereit für solch einen Weg. Das Wichtigste ist doch, dass man überhaupt
       noch hinfahren kann.
       
       Ich frage mich oft, ob die Menschen in den Gebieten nahe der Front
       überhaupt noch feiern. Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe, dass Menschen
       manchmal zusammenkommen müssen. Um ein bisschen durchzuatmen.
       
       ## Neujahrstraditionen
       
       Dieses Jahr treffen wir uns also wieder zum gemeinsamen Neujahrsessen. Es
       gibt Kutja, das ist ein Brei aus Weizen mit Honig, Mohn, Nüssen und
       getrockneten Früchten, ich liebe das. Kutja ist eigentlich ein
       traditionelles Weihnachtsessen, aber ich bitte Mama immer, sie zu Neujahr
       zu machen. Und so sollte ein Neujahrsfest auch gefeiert werden, ruhig und
       gemütlich. Wenn auch vielleicht ohne Strom.
       
       Meine Erinnerungen an die sorglose Chersoner Kindheit und die harte
       Realität des Krieges sind schwer zu vereinbaren. Das ist ein bisschen wie
       zwei völlig verschiedene Filme: eine Familienkomödie und ein Kriegsdrama.
       Aber beide handeln vom Leben.
       
       Der ukrainische Philosoph aus dem 18. Jahrhundert, Hryhorii Skovoroda,
       schrieb: „Das Licht der Freiheit besiegt die Dunkelheit.“ Heute kann man
       diesen Satz wörtlich nehmen. Russland versucht bereits seit drei Jahren,
       [4][die Ukraine durch Angriffe auf die Energieinfrastruktur in Dunkelheit
       zu stürzen].
       
       Und jedes Mal leisten die ukrainischen Energieversorger Unmögliches – sie
       arbeiten unter Beschuss, reparieren die Stromnetze und bringen das Licht
       zurück. Licht in der Ukraine bedeutet heute nicht Komfort. Es ist eine
       innere Form des Widerstands. Und vielleicht beginnt Freiheit genau mit
       solchen einfachen Dingen.
       
       Aus dem Ukrainischen: [5][Gaby Coldewey]
       
       24 Dec 2025
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Yuliia Shchetyna
       
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