# taz.de -- Der Hausbesuch: Das Licht suchen
> Mit 13 Jahren nahm Rubina Becker allen Mut zusammen und floh in ein
> Kinderheim. Heute lebt sie in einer Wohnung – und kann endlich sie selbst
> sein.
(IMG) Bild: Rubina Becker mit Kater Evo. „Ich wollte ihm ein Zuhause bieten, weil er viel herumgereicht wurde“
Rubina Becker hat früh in ihrem Leben lernen müssen zu kämpfen. Ihr Zuhause
bedeutet für sie etwas, nach dem sie sich lange gesehnt hat: Sicherheit und
Stabilität.
Draußen: Ein grauer, wolkenverhangener Tag mit Nieselregen in Berlin.
Rubina Becker wohnt in Schöneberg, schräg gegenüber vom Gleisdreieckpark
und der Kurfürstenstraße, bekannt für den Straßenstrich. Der karge
angrenzende Spielplatz ist verlassen. Nur ein Lastenrad parkt davor. Eine
in einen dicken Schal gepackte Mutter schiebt langsam ihren Kinderwagen die
Straße entlang.
Drinnen: Die Wohnungstür führt direkt in die Küche. Alles ist vollgestellt.
Freie Flächen? Fehlanzeige! Auf dem Kühlschrank ein Buchstabensalat aus
Magneten, dazu Dutzende Apfel-Etiketten, die wie ein Kunstwerk auf die
Kacheln der Küche geklebt sind. Chaos sei ihre Veranlagung, so die
25-jährige, mit Piercings verzierte Berlinerin. In ihren schwarzen Haaren
hat sie ein paar symmetrische graue Strähnen. Die hatte sie schon als
Teenager.
Entfaltung: Die Berliner Altbauwohnung mit abgetretenem Holzboden hat zwei
Zimmer. Ein Schlafzimmer mit Hochbett und offenem Kleiderschrank, das an
den Kostümfundus eines Theaters erinnert. Ihr geräumiges Wohnzimmer, das
„Atelier“, ist der Ort, an dem sie das macht, was ihr als Kind verwehrt
war. Da ist ein Tisch, auf dem ein halbfertiges Puzzle liegt, an einem
weiteren Tisch bastelt und malt sie. Außerdem gibt es noch eine Liege, wo
sich Menschen drauflegen, die sich von Rubina Becker Tattoos stechen
lassen. An den Wänden hängen selbst gemalte Bilder, dazu Plakate und Poster
– von Taylor Swift etwa. Sie hole in ihrer Wohnung nach, was sie als Kind
nicht habe ausleben können, sagt Becker. Damals fehlte es ihr an vielem.
Mit 13 Jahren floh sie von zu Hause, wandte sich an den Kindernotdienst und
zog in ein Kinderheim.
Ordnung: Sehr hastig und mit fahrigen Bewegungen räumt sie noch schnell die
Tische auf. „Bei einer solchen Unordnung bin ich gedanklich in meine
Kinderzeit zurückversetzt. Besonders, wenn ich Besuch bekomme, bin ich
gestresst. Es fühlt sich einfach dreckig und unordentlich an.“ Nachdem es
strukturierter aussieht, wird Rubina Becker ruhiger, setzt sich auf das
Sofa, hinter dem eine riesige Regenbogenflagge hängt und beginnt ihre
prekäre Kindheit zu skizzieren, die von Mangel und Scham geprägt war. Ihr
Kater Evo drängt sich eng an sie, als spüre er ihren Stress. Sie fand ihn
auf Ebay: „Ich wollte ihm ein Zuhause bieten, weil er viel herumgereicht
wurde.“
Flucht: „Insgesamt bin ich schon im Frieden mit allem, was passiert ist,
aber gleichzeitig trauere ich immer noch dem nach, was gefehlt hat.“ Was
das gewesen sei? Regelmäßige Mahlzeiten, Hygiene, einfache Dinge wie eine
Zahnbürste, zählt sie auf. Dafür habe es jede Menge Verpflichtungen und
stundenlanges Fernsehschauen in der stark verwahrlosten Messie-Wohnung
ihrer Mutter gegeben. Nach einem Streit beschließt die damals 13-Jährige:
„Lieber alles andere als zurück zu der Frau.“ Ihr neun Jahre älterer
Halbbruder begleitet sie zum Kindernotdienst, wo Kindeswohlgefährdung
festgestellt wird. Ein Kinderheim in Berlin-Wilmersdorf mit fünf
Erzieher*innen und neun anderen Kindern wird für die nächsten vier
Jahre ihr neues Zuhause.
Selbstoffenbarung: Zunächst traut sie sich aus Überforderung kaum aus ihrem
Zimmer heraus, mit der Zeit fasst sie jedoch Vertrauen, schließt
Freundschaften. „Bis dahin hieß normal eben, entweder keine Probleme zu
haben oder so zu tun, als hätte man keine.“ In der Schule weiß keiner, dass
sie in einer Einrichtung lebt. Erst mit 15 Jahren kann sie darüber reden,
was früher los war. Heute ist ihr Offenheit sehr wichtig. Auf Social Media,
ihrem „digitalen Tagebuch“, zeigt sie sich ungefiltert, spricht über ihr
Dasein als Careleaverin. Damit sind junge Menschen gemeint, die einen Teil
ihres Lebens in der stationären Kinder- und Jugendhilfe verbracht haben.
Sie spricht auch über [1][ADHS] und ihre [2][Depressionen].
Freunde: Die Frage bleibt, wieso niemand aus dem privaten Umfeld oder der
Schule früher eingriff. Denn: Sie sei damals optisch sehr auffällig
gewesen, eine „unhygienische Außenseiterin“. Heute dagegen hat sie einen
Haufen Freunde, viele davon ebenfalls [3][Careleaver], da sie mit Menschen,
die das selbst erlebt haben, „grundsätzlich besser reden kann“. Sie sei
anderen gegenüber unvoreingenommen, lasse sich von nichts schocken. Ihre
Freunde lädt sie gerne ein, auch wenn das manchmal Stress auslöse.
Gastgeberin sein? Früher wäre das undenkbar gewesen.
Leben lernen: Nach den knapp vier Jahren im Heim wechselt sie auf eigenen
Wunsch den Träger, zieht in eine sogenannte Verselbständigungsgruppe, eine
2er-WG im Rahmen eines betreuten Mädchenwohnens. Die lockere
Betreuungssituation soll sie auf das „echte“ Leben vorbereiten. Der Wechsel
tut der damals fast 17-Jährigen gut: „Ich hatte das Gefühl, endlich
aufatmen zu können, weil ich mich nicht mehr so unterordnen musste.“ Auf
der anderen Seite habe es aber auch viel Stress und Belastung bedeutet,
weil sie sich noch stärker alleine habe organisieren müssen. Zu ihrer
Mutter besteht damals unregelmäßiger Kontakt, dieses Jahr hat Rubina Becker
ihn aber vollständig abgebrochen, „weil es einfach nicht funktioniert“.
Ankommen: Die schöne Wohnung, die sie heute ihr Zuhause nennt, liegt im
Seitenflügel. Ihre Nachbarn waren mal Hausbesetzer. Auch eine 10er-WG gibt
es. „Fast wie bei uns im Heim.“ Ihren Glücksgriff mit der bezahlbaren
Wohnung erklärt sie sich durch positives Karma: „Glück ist noch
bedeutender, wenn man Unglück kennt.“
Sicherheit: Zu Hause, das sei früher „Geheimhaltung, Belastung, Vertuschung
und alles, was mit negativen Gefühlen behaftet ist“ gewesen. Heute bedeute
es hingegen Selbstverwirklichung, Stabilität und besonders: Sicherheit.
Jede noch so winzige Kleinigkeit um sie herum schenke ihr Kontinuität. Was
sie besonders gut könne? Schwere und Leichtigkeit verbinden. „Mit mir kann
man gut ernste, belastende Themen besprechen und gleichzeitig kann man mit
mir viel herumalbern. Ich kann viel aushalten und ich kann weird sein.“
Symbole: Auch die zahlreichen Tattoos, die ihren Körper bedecken,
dokumentieren Passagen aus ihrem Leben: Der Löffel repräsentiert die
Löffel-Theorie. Diese steht in der Community der chronisch Kranken für die
begrenzte Energie, die wohlüberlegt in Löffel-Portionen abgewogen werden
muss, um jeden Tag zu meistern. Die Motte wiederum steht für Resilienz und
zeigt, dass Rubina Becker immer an helle Zeiten geglaubt hat. Der
Fliegenpilz symbolisiert für sie, ganz klassisch, Glück.
Frei sein: Noch stehe Sicherheit an erster Stelle. Doch eines Tages würde
sie gerne reisen, vielleicht woanders leben und noch weiter über sich
hinauswachsen. Das brauche Zeit. Bis dahin feilt Rubina Becker an ihrer
Selbstwirksamkeit. Aktuell arbeitet sie in einem Berliner Theater. Und sie
möchte weiter aufklären und Careleaver-Stigmata im öffentlichen Diskurs
abbauen. Denn: „Wir sind keine bösen Heimkinder“, sagt sie. Dieser
Aktivismus sei für sie wie Therapie.
21 Dec 2025
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## AUTOREN
(DIR) Nathalia Böckmann
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