# taz.de -- 10 Jahre „Wir schaffen das“: Was ist Zuhause?
> Ist es ihre Heimat in Afghanistan, Kurdistan, Syrien, Uganda? Ist es
> Deutschland, in dem sie leben? Oder ein Gefühl? Vier Lyriker:innen
> finden Antworten.
(IMG) Bild: Blumen auf die Fensterbank, Bücher ins Regal: Bedeutet das, zu Hause sein?
Zuhause muss kein Ort sein. Es kann ein Gefühl sein. Kann man es mitnehmen?
Neu entwickeln, nachdem es zerstört wurde? Kann man es in anderen Menschen
finden? Wir haben vier Lyriker:innen gefragt, was Zuhause für sie
bedeutet. Sie mussten ihre Heimat in Afghanistan, Kurdistan, Syrien und
Uganda verlassen und leben jetzt in Deutschland. Ihre Gedichte sind mit
denen von 15 weiteren geflüchteten Dichter:innen in den
[1][taz-Sonderausgaben zu Flucht und Migration] erschienen.
Sie haben uns auch erzählt, worum sie Deutschland bitten würden, hätten sie
zu Weihnachten einen Wunsch frei, jeweils in einem Wort: Zugehörigkeit,
Anerkennung, Respekt, Gleichberechtigung, Aufgeschlossenheit, Sicherheit,
Gewissen, Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und ein Gedicht. Das waren ihre
Antworten. Wenn wir es schaffen, ihnen diese Wünsche zu erfüllen, wird ihre
neue Heimat vielleicht ein bisschen mehr zu einem Zuhause.
## Was in meinem Herzen liegt
Man denkt über eine Sache oft erst dann richtig nach, wenn man von außen
dazu gedrängt wird. Wenn ein Wort plötzlich schwerer wird, weil andere ihm
Gewicht geben. So auch das Wort Zuhause. Während die einen freundlich, fast
neugierig fragen, wo denn mein Zuhause sei, wo ich mich heimisch fühle,
sagen andere mit erstaunlicher Sicherheit, ich solle doch „zurück nach
Hause gehen“.
Zurück. Nach Hause. „Dorthin, wo du wirklich herkommst.“ Dieses „wirklich“
sticht. Es klingt wie ein Urteil, das längst gefällt wurde, bevor ich
überhaupt sprechen konnte.
Für einen Moment fühle ich mich ertappt. Ich frage mich, warum ich nicht
weiß, von welchem Zuhause sie sprechen. Warum sie so überzeugt davon sind,
während ich mich selbst immer wieder suchend im Kreis drehe. Ich zerbreche
mir den Kopf darüber, was mein Zuhause eigentlich sein soll, wo es liegt.
Wenn doch andere es anscheinend besser wissen als ich.
Und doch bleibt eine Frage offen, beharrlich: Warum muss ich mich überhaupt
für ein Zuhause entscheiden?
Ob mein Zuhause Kurdistan ist, wo ich „wirklich“ herkomme.
Oder Deutschland, wo ich nicht so recht ins Stadtbild zu passen scheine.
Oder Berlin, wo ich lebe, studiere und arbeite und für andere exotisch
wirke.
Oder vielleicht doch das Haus meiner Eltern in Niedersachsen, wo ich meine
Kindheit verbracht habe.
Oder das Café nebenan, in dem mein Name beim dritten Besuch endlich richtig
ausgesprochen wird.
Muss mein Zuhause überhaupt ein Ort, ein Haus, ein Apartment, ein Zimmer
sein?
Kann ich nicht mehrere Zuhause haben – gleichzeitig, nebeneinander,
übereinander, mal mit großer Sehnsucht, mal mit weniger? Mal allein, mal
mit vielen Menschen um mich herum? Mal in meiner Sprache, mal still?
Warum sollte mein Zuhause nicht all das sein, was in meinem Herzen liegt,
was mich hält und glücklich macht – in verschiedenen Sprachen, an
verschiedenen Orten, in verschiedenen Momenten und mit verschiedenen
Menschen? Grenzenlos und frei. Denn genau dort komme ich „wirklich“ her.
Sozdar Jafarzadeh, 35, kommt aus der kurdischen Stadt Êlih in der
Südosttürkei. Die Sozialpädagogin arbeitet als Koordinatorin für ambulante
Hilfen zur Erziehung beim Träger Yekmal e. V. Außerdem schreibt sie gerade
an einer Kinderbuchreihe, in der die Biografien kurdischer Frauen
vorgestellt werden.
## Der Frieden, den ich spüre
Zuhause ist ein Ort, an dem ich keine Minderheit bin und an dem Sicherheit
nicht an meiner Wohnungstür endet. Es ist eine Gesellschaft, in der ich
abends ohne Angst hinausgehen kann und in der der Aufstieg rechter
Ideologen nicht meine Existenz bedroht.
Zuhause ist dort, wo niemand fragt, warum ich hier bin, ob ich „wirklich“
eine Geflüchtete bin und wo ich mich nicht immer wieder für mein
Bleiberecht erklären muss.
Zuhause ist dort, wo es keine irritierten Blicke gibt, wenn ich mit meiner
Mutter Dari spreche, und niemand sagt: „Hier ist Deutschland, du musst
Deutsch sprechen.“ Es ist ein Ort, an dem meine Erfolge gesehen werden und
an dem mein Hidschab nicht als Symbol der Unterdrückung verstanden wird,
sondern als Ausdruck meiner Freiheit, meines Rechts, meinen Körper so zu
zeigen, wie ich es möchte.
Für mich war Zuhause vieles: vor vier Jahren ein Zelt, vor drei Jahren ein
Container und heute eine alte Wohnung, deren Wände wir selbst gestrichen
haben. Zuhause ist nicht der physische Ort, an dem ich wohne, sondern der
Frieden, den ich dort spüre.
Zuhause ist dort, wo ich keine Angst um meine Zukunft haben muss, wo ich
nicht jeden Tag fürchten muss, abgeschoben zu werden. Es ist der Ort, an
dem ich die gleichen Chancen habe wie alle anderen – wo Wissen mehr zählt
als Herkunft. Wo meine afghanische Nachbarin nicht den Namen ihrer Tochter
ändern muss, nur damit sie im Berufsleben nicht benachteiligt werden
könnte.
Zuhause ist ein Ort, an dem Menschen mehr bedeuten als nur ihre Geschichte
und an dem sie nicht für ein gerechtes System auf die Straße gehen müssen.
Zuhause ist dort, wo Minderheiten selbst sprechen, statt ständig nur zum
Gesprächsthema gemacht zu werden. Wo ich nur Parwana bin.
Parwana Amiri stammt aus der afghanischen Provinz Herat, wo sie 2004
geboren wurde. 2018 musste sie mit ihren Eltern und Geschwistern vor den
Taliban fliehen. Die Familie strandete auf Lesbos im berüchtigten
Flüchtlingslager Moria. Dort begann Amiri via Social Media auf die
Situation im Lager aufmerksam zu machen. Und sie begann zu schreiben. 2022
kam sie nach Deutschland, wo sie heute als Dichterin und Aktivistin lebt.
## Das einzige Zuhause, das nicht verfällt
Was ist ein Zuhause?
Ist es ein Ort auf der Landkarte, ein Dach über dem Kopf – oder ein leiser
Funke im Inneren, der uns daran erinnert, wer wir sind? In einer Welt, die
schneller rennt als unser Atem, in der Konkurrenz zur zweiten Natur wird
und soziale Schichten wie unsichtbare Mauern zwischen den Menschen wachsen,
verliert das Zuhause seine Form.
Es ist nicht mehr Sicherheit, nicht Stabilität, nicht einmal Heimat. Denn
Heimat ist ein wanderndes Wort; sie war gestern anders, sie wird morgen
anders sein.
Wenn ich sage: Meine Kindheit war mein Zuhause, berühre ich nur den
Schatten einer vergangenen Unschuld. Und wenn ich sage: Meine Jugend war
mein Zuhause, öffne ich die Tür zu Jahren voller Fragen, voller verborgener
Narben.
Die Orte wechseln ihre Gesichter, die Zeit zieht uns fort wie ein starker
Fluss, doch der Mensch trägt seine Prüfungen immer mit sich – das Leiden,
das ihn formt, egal wo er steht. Aber über all diesem Wandel liegt etwas,
das nicht vergeht: die Liebe.
Die Liebe ist das einzige Zuhause, das nicht zerfällt. Ein Zuhause ohne
Mauern, aber mit Tiefe; ohne Grenzen, aber mit Richtung; ohne Besitz, aber
voller Zugehörigkeit.
Sie ist der Ort, an den wir zurückkehren, wenn die Welt uns müde macht. Der
Ort, an dem wir uns selbst begegnen, als würden wir zum ersten Mal atmen.
Die Liebe ist Erinnerung und Zukunft zugleich – die leise Wahrheit, die uns
menschlich macht und die Freiheit, die uns weit über uns selbst
hinausführt.
Ali Alzaeem, 26, ist im syrischen Idlib aufgewachsen. Mit 10 Jahren hat er
sein erstes Gedicht geschrieben. Im Sommer 2015 kam er mit seiner Familie
nach Deutschland. Er hat in Berlin Logistik studiert und arbeitet
mittlerweile als Referent für Digitalisierung in der Energiebranche.
Nebenbei leitet er Workshops für kreatives Schreiben.
## Schlappen im Bad, Pflanzen auf der Fensterbank
Zuhause war einmal das Haus, in dem ich lebte, eine Zahnbürste hatte,
Handtücher im Bad, Pyjamas und Schlappen im Schlafzimmer, einen Stuhl am
Esstisch mit der Familie, einen Platz auf dem Sofa im Wohnzimmer und einen
Haushalt, um den ich mich kümmerte. Aber Zuhause hat sich vielmals
verschoben, gleichmäßig aufgelöst und ist für mich im Ungreifbaren wieder
aufgetaucht.
Zuhause ist das Lachen meiner drei Kinder im Hintergrund, während ich
versuche, einen weiteren Absatz zu schreiben. Manchmal sind es ihre
Streitereien, während Musik um uns herum schallt.
Zuhause ist schwarzer Tee mit reichlich Kuhmilch und zwei gehäuften
Esslöffeln Zucker, ohne dass jemand zusammenzuckt oder abfällige
Bemerkungen über Erwachsene macht, die Milch konsumieren. Das Gefühl, nicht
verurteilt zu werden, wird besiegelt vom lauten Geräusch des Löffels, der
auf dem Grund der Tasse Zucker rührt.
Zuhause ist das kleine weiße Mädchen in Hiddensee, das sich von seiner
Mutter abwandte, nachdem es mich auf einer Bank angestarrt hatte, direkt
auf mich zuging und schüchtern ansah, seine weichen, pummeligen Finger
ausstrecke, um mein schwarzes Knie zu streicheln, und dann sein eigenes.
Verwirrt fragte es: „Es färbt gar nicht auf mich ab, oder?“
Zuhause ist ein improvisiertes Call-and-Response-Gedicht, bei dem das
Publikum spontan und ohne meine Aufforderung einsteigt. Es rhythmisch zum
Beat einer Liveband tanzt. Das Publikum in Deutschland kann so steif und
formelhaft sein wie Pi r hoch zwei.
Zuhause ist ein Radler im Sommer im Biergarten. Es ist die Ehrlichkeit
eines deutschen Radfahrers, der mich mit „Scheiße!“ beschimpft, wenn ich
auf dem Radweg über die rote Ampel fahre. Es ist der DB-Ticketkontrolleur,
der feststellt, dass meine Bahncard 50 abgelaufen ist, und hilft, mein Abo
zu verlängern, anstatt mir eine saftige Strafe zu geben.
Zuhause ist, wenn ich meine Bücher auspacke und ins Regal stelle. Mit
meinen Büchern markiere ich mein Revier – egal wie oft ich umziehe. Selbst
im Hochsicherheitsgefängnis hatte ich eine Ecke mit meinen wenigen Büchern.
Zuhause ist, wenn ich die Topfpflanzen meiner Tochter auf der Fensterbank
gieße. Manchmal gibt es viele Töpfe mit verschiedenen gesunden Pflanzen.
Manchmal fängt der Garten gerade erst wieder an zu wachsen, weil wir über
Grenzen flohen, um ein neues, sicheres Zuhause zu finden.
Stella Nyanzi wurde 1974 im ugandischen Masaka geboren und ist
Gender-Forscherin und Dichterin. Im Streit über Hygieneprodukte an Schulen
nannte sie 2017 Ugandas Präsidenten „Arschbacke“ – und wurde inhaftiert.
Sie floh 2022 nach Deutschland.
25 Dec 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Fluechtlingssommer/!t6102491
## AUTOREN
(DIR) Alice von Lenthe
(DIR) Amiri Parwana
(DIR) Sozdar Jafarzadeh
(DIR) Ali Alzaeem
(DIR) Stella Nyanzi
## TAGS
(DIR) wochentaz
(DIR) Longread
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Zuhause
(DIR) GNS
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Flüchtlingssommer
(DIR) Flüchtlingssommer
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Weihnachten im Kapitalismus: Was liegt unterm Tannenbaum?
Unsere Autorin wuchs in Syrien ohne Weihnachtsmann und Geschenke auf. In
Deutschland lernte sie das Fest des Konsums kennen – und war trotzdem
verzaubert.
(DIR) Schutz vor rechter Gewalt: Niemand soll alleine sein
Wo rechte Gewalt zunimmt, braucht es Zufluchtsorte. Die wollen zwei Cafés
in Mecklenburg-Vorpommern queeren, linken und geflüchteten Menschen bieten.
(DIR) Deutsche Migrationspolitik: Die Shitshow ist in jeder Hinsicht sinnlos
Seit dem Fluchtsommer verschärft sich die Migrationspolitik in Deutschland.
Dabei hätte es durchaus anders laufen können – und sollen.
(DIR) Flucht und Arbeit: Lost in Translation
Amjad Alabathas hat in Syrien Zahnmedizin studiert. Hier arbeiten darf er
noch lange nicht. Warum der Arbeitsmarkt es Geflüchteten so schwer macht.
(DIR) Ankommen in Deutschland als Geflüchtete: Liebe auf den dritten Blick
Geflüchtet sind sie vor rund zehn Jahren, aus Syrien, aus Afghanistan, aus
dem Nordirak. Gelandet sind sie in Deutschland. Wie geht es ihnen heute?
(DIR) Migration neu denken: So könnte eine humane Fluchtpolitik aussehen
Seit Jahren dominieren Rechte und Konservative das Thema Einwanderung.
Dabei ginge es auch anders.