# taz.de -- Weihnachten im Kapitalismus: Was liegt unterm Tannenbaum?
> Unsere Autorin wuchs in Syrien ohne Weihnachtsmann und Geschenke auf. In
> Deutschland lernte sie das Fest des Konsums kennen – und war trotzdem
> verzaubert.
(IMG) Bild: Die Autorin Hanadi Zarka auf dem Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz in Berlin
Wie viele Syrer, die in den 1970er Jahren geboren wurden, wuchs ich ohne
Wissen [1][um Weihnachten] auf. In unserem abgelegenen Dorf, das
überwiegend von armen Muslimen bewohnt war, wurde dieser Feiertag ähnlich
wie andere islamische Festtage begangen. Die Familien bereiteten
vegetarische Gerichte zu und backten Brot mit Öl und Sesam, das sie
„Weihnachtsbrot“ nannten. Einen geschmückten Baum, den Weihnachtsmann oder
Geschenke, all das kannten wir nicht.
Zum ersten Mal sah ich einen Weihnachtsbaum 1993, als ich mein Studium an
der Universität von Latakia begann. In der Stadt leben viele Christen, und
vor der Kirche stand ein großer Baum, geschmückt mit funkelnden Lichtern
und Ornamenten. Dort hörte ich auch die Geschichte vom Weihnachtsmann,
dieser geheimnisvollen Gestalt, die Kinder besucht und ihnen Geschenke
bringt.
Bald verbreiteten sich die Weihnachtsbräuche in Städten und Dörfern – nicht
als heilige Riten, sondern als Anlass für Freude und kommerziellen Trubel.
Selbst die entlegensten Dörfer blieben davon nicht verschont.
Am 9. Dezember 2022 kam ich in Deutschland an. Sofort war ich beeindruckt
davon, wie festlich Häuser und Plätze dekoriert waren. In jedem Haus stand
eine Tanne. Ich sah beleuchtete Rentiere und Krippen, die die Geschichte
Jesu darstellten. [2][Die Straßen glänzten in einer fast unwirklichen
Schönheit], Plätze wurden zu Märkten mit Imbissständen und
Spielzeugverkäufern. Ich muss zugeben, dass mich diese Schönheit verzaubert
hat.
Gleichzeitig war offensichtlich, dass auch dies keine sozial-religiösen
Orte mehr waren, sondern Plattformen für den Konsum. Weihnachtsmärkte
gehören heute zu den wichtigsten Einkaufssaisons des Jahres, die Freude am
Fest wird exzessiv vermarktet. Indem wir auf Weihnachtsmärkten essen und
trinken, Geschenke und Souvenirs kaufen, beteiligen wir uns, wie so oft, an
der Kommerzialisierung von Feiertagen im Kapitalismus.
Einmal lud mich ein Freund ein, den Weihnachtsmarkt am Potsdamer Platz zu
besuchen. Ich hatte über dessen Zerstörung nach dem Zweiten Weltkrieg
gelesen und darüber, wie die ostdeutschen Medien Bilder der Ruinen nutzten,
um zu behaupten, dass Kapitalismus zu Krieg und Zerstörung führe. Aber was
ich sah, war genau das Gegenteil: Die Wolkenkratzer von Sony und Daimler
ragten über einem Platz empor, der nach dem Fall der Berliner Mauer nun vom
globalen Kapital dominiert wurde. [3][Ich probierte zum ersten Mal
Glühwein] und kostete Wurst mit Kartoffelsalat, Lebkuchen und Spekulatius –
Speisen, die ich noch nie zuvor gegessen hatte. Es gab auch griechische und
türkische Stände. Die Menschenmenge war eine bunte Mischung aus vielen
Nationalitäten, die alle die Freude an Weihnachten teilten.
Im folgenden Jahr besuchte ich verschiedene Weihnachtsmärkte und bemerkte,
wie sie sich, auch je nach Wohlstand der Gegend, unterschieden. Einige
waren bescheiden, andere – wie der Markt am Kurfürstendamm – reichhaltig
und extravagant. Genauso unterschiedlich sind die Perspektiven syrischer
Geflüchteter auf Weihnachten, wie ich bei meiner Recherche gelernt habe.
Einige Stimmen will ich hier teilen.
„In Syrien haben wir Weihnachten nicht gefeiert, aber wir haben unsere
christlichen Nachbarn besucht, um ihnen zu gratulieren. Hier beobachte ich,
wie Menschen kleine Geschenke austauschen und so freundlich feiern. Trotz
des Trubels dieser Jahreszeit verspüre ich eine tiefe innere Ruhe. Wenn die
Kirchenglocken läuten, ist es, als würden sie zu den Müden sagen: ‚Steht
auf und haltet durch‘, und zu den Grausamen: ‚Lasst es gut sein‘. Ich
erinnere mich an meine besetzte Heimatstadt und ihre christlichen Straßen,
die zu Weihnachten erstrahlten. Für mich ist dieser Feiertag ein Aufruf zu
Liebe und Vergebung“, erzählt die kurdische Anwältin Dilsha Aiyo aus
Serêkaniyê.
Darya Farman aus Qamischli sagt: „Meine Mutter, meine Tochter und ich sind
orthodoxe Christen, aber wir haben hier keine Verwandten, mit denen wir
feiern können. In Syrien haben wir Feste veranstaltet und alle eingeladen;
Weihnachten war ein nationaler Feiertag, unabhängig von der Religion. Hier
ist es kommerziell geworden. Traditionelle Märkte verschwinden. Wie können
Weihnachtsmärkte jetzt Kebab und Schawarma anbieten? Sogar die Geschenke
haben sich verändert – überall überteuerte chinesische Produkte, oft von
schlechter Qualität.“
Dalal al-Hayek beschreibt: „Als wir ankamen und meine Tochter einen
deutschen Mann heiratete, wurden meine Enkelkinder Deutsche. Sie stellt
einen Weihnachtsbaum auf, und wir tauschen Geschenke aus. Ich habe selbst
keinen Baum, aber ich schmücke das Haus und die Pflanzen mit Lichtern. Ich
lebe in Deutschland, daher halte ich es für wichtig, die Traditionen dieses
Landes zu verstehen. [4][Ich habe kein Problem damit, sowohl muslimische
als auch christliche Feiertage zu feiern].“
„In Syrien haben wir Weihnachten nicht gefeiert, und in Berlin feiern wir
es auch nicht“, erzählen die Anwältin Mona Asaad und ihr Mann, der
Journalist Anwar Badr. „Wir feiern nur Silvester.“
## „Wie eine Geisterstadt“
Die Neurowissenschaftlerin Lujain Salitin sagt: „Meine Mutter stellte einen
kleinen Weihnachtsbaum auf und spielte die traurigen Weihnachtslieder von
Fairuz. Einmal sah ich den Weihnachtsmann auf der Straße und bat ihn, uns
zu Hause zu besuchen. Als ich nach Deutschland kam, wohnte ich in einem
Studentenwohnheim in Göttingen. Zu Weihnachten leerte sich die Stadt und
wirkte wie eine Geisterstadt. Ich war furchtbar einsam. Nach meinem
Abschluss änderte sich alles – ich begann, mit Freunden zu feiern, und
jetzt spielen wir Wichteln.“
Und der syrisch-kurdische Dichter Ali Jazo erinnert sich: „Als Kinder in
Amuda kannten wir Weihnachten nur aus Liedern und Zeichentrickfilmen. Wir
blieben als Familie lange auf und ahmten nach, was wir uns vorstellten,
dass andere taten. Später, in Damaskus, feierten wir mit Freunden in
Restaurants und auf Partys; die Zusammenkünfte fühlten sich intimer an. In
Berlin dreht sich Weihnachten um Familie, Kinder, Geschenke und die Märkte
in jedem Stadtteil. Wir entdeckten neue Speisen, Traditionen und Musik.
Manchmal feiern wir mit Freunden und verbinden dabei syrische und deutsche
Bräuche. Aber in den letzten Jahren ist die Freude gedämpft, überschattet
von den düsteren Nachrichten aus Syrien. So finden wir uns zu Weihnachten
gespalten, gefangen zwischen zwei Welten, ohne ganz zu einer davon zu
gehören.“
23 Dec 2025
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