# taz.de -- Tagebuch aus Armenien: Der Traum vom besseren Leben und der Drohnenangriff
       
       > Der Ukraine-Krieg der russischen Armee erreicht auch die Universität von
       > Jerewan. Unsere Autorin hat es bemerkt, als sie einfach ein Gespräch
       > begann.
       
 (IMG) Bild: Auch dahinter verbergen sich Schicksale: Eingang zur Bibliothek der Staatlichen Universität Jerewan
       
       Wie immer beginnt Anahit um 8 Uhr morgens mit der Arbeit. Sie muss die
       gesamte Universität reinigen, bevor die Studierenden eintreffen. Seit 25
       Jahren macht sie denselben Job an einer Hochschule in Armeniens Hauptstadt
       Jerewan, wo ich Journalistik unterrichtete. Sie ist ordentlich, freundlich
       und hat immer ein Lächeln im Gesicht, egal, wie belastend die Putzarbeit
       ist.
       
       „Wie geht es Ihnen, Frau Anahit?“, frage ich wie immer. „Mir geht es nicht
       gut“, sagt sie, vielleicht zum ersten Mal.
       
       Ich verstehe sofort, dass etwas Unwiderrufliches passiert ist. Das Lächeln,
       mit dem sie mich jeden Tag bei der Arbeit begrüßt hat, ist verschwunden.
       „Mein Enkel ist gestorben“, sagt sie.
       
       Es herrscht für einige Sekunden unangenehme Stille. Ich war auf dieses
       Gespräch nicht vorbereitet. Ich reiße mich zusammen.
       
       „Was ist passiert?“
       
       „Er wurde getötet, im Krieg. In der Ukraine.“
       
       Ihr 24-jähriger Enkel war vor zwei Jahren mit drei Freunden aus Armenien
       nach Russland gezogen, um ein besseres Leben zu finden. Sie wollten ein
       Unternehmen gründen und haben sich von einem lokalen Geschäftsmann Geld
       gegen Zinsen geliehen. Sie zahlten jeden Monat, so viel sie konnten, aber
       die Schulden wuchsen von Tag zu Tag, während die Erfolgschancen der Jungen
       schrumpften. Der russische Geschäftsmann zwang die jungen Männer mit allen
       möglichen und unmöglichen Mitteln – von Einschüchterung bis zu Schlägen –
       dazu, die Schulden zu begleichen.
       
       Schließlich bot der Mann selbst eine Lösung an. Er schlug vor, dass die
       jungen Männer einen Vertrag mit dem russischen Verteidigungsministerium
       unterzeichnen und in die Ukraine gehen, um dort zu kämpfen. Das Geld, das
       ihm laut Vertrag zustand, behielt er für sich. Die Jungen taten, wie ihnen
       geheißen – in der Hoffnung, dass sie nicht an die Front geschickt würden.
       Das zumindest erzählten sie ihren Angehörigen in Armenien bei ihrem letzten
       Telefonat.
       
       ## Die letzte Reise von drei jungen Männern
       
       Die Jungen erreichten die Frontlinie nie. Das Fahrzeug, in dem die Jungen
       saßen, wurde durch einen Drohnenangriff auf der Straße in die Luft
       gesprengt. Alle vier kamen ums Leben. Die Leichen der Jungen konnten erst
       zwei Monate nach ihrem Verschwinden mittels DNA-Analysen identifiziert
       werden. Derzeit befinden sich die Väter der Jungen in Russland, um die
       Asche ihrer Söhne nach Hause zu holen.
       
       Frau Anahit sagt, dass der Geschäftsmann, der die Jungen in den Krieg
       geschickt hat, sich mit ihnen getroffen hat: Die Schulden der Jungen wurden
       vollständig beglichen, und ihre Familien erhalten ebenfalls eine
       Entschädigung.
       
       Der Fall von Frau Anahits Familie ist kein Einzelfall. In sozialen Medien,
       in denen sich Russen armenischer Herkunft versammeln, gibt es zahlreiche
       solcher Fälle. Ich könnte weitere Geschichten erzählen. Doch wer zieht
       daraus Konsequenzen? Niemand.
       
       [1][Sona Martirosyan] ist Journalistin und lebt in Jerewan (Armenien). Sie
       war Teilnehmerin eines [2][Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung].
       
       Aus dem Armenischen von [3][Tigran Petrosyan.] 
       
       Durch Spenden an die [4][taz Panter Stiftung] werden unabhängige und
       kritische Journalist:innen vor Ort und im Exil im Rahmen des Projekts
       „Tagebuch Krieg und Frieden“ finanziell unterstützt.
       
       19 Dec 2025
       
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