# taz.de -- Tag gegen Gewalt an Frauen: Verwaltete Gewalt
       
       > Übergriffe auf Frauen nehmen zu, Frauenhäuser sind überlastet. Das
       > Gewalthilfegesetz soll helfen, doch was hat sich seit dem Beschluss im
       > Februar geändert?
       
 (IMG) Bild: Schutzräume wie dieser bieten Zuflucht: Doch längst nicht alle Frauen, die Hilfe benötigen, finden hier einen Platz (Archivfoto)
       
       Die alte Holztür öffnet sich direkt in ein Treppenhaus, der Mitte des
       Hauses. Von hier ist alles erreichbar: oben die Zimmer, unten die Küche,
       der Keller. Ständig Schritte, Stimmen, ein Baby, das weint. Es riecht nach
       Essen. Eine Frau steigt nach oben, eine andere kommt ihr entgegen, eine
       dritte wiegt ihr Kind, während sie weitergeht. Ruhe finden die
       Bewohnerinnen in diesem Haus selten. Ihre Zimmer teilen sie sich teils
       monatelang mit ihren Kindern, Bad und Küche mit Fremden. Der Schutz ist da,
       aber er ist eng und laut.
       
       Ins Frauenhaus Rathenow in Brandenburg kommen [1][Frauen, die vor
       gewaltvollen Beziehungen fliehen]. Sie wurden kontrolliert, beleidigt,
       geschlagen, überwacht oder vergewaltigt. Doch nicht alle, die Hilfe suchen,
       können bleiben. 2024 musste Frauenhaus-Leiterin Cathrin Seeger und ihr Team
       112 Frauen abweisen. Nur 21 Frauen und 23 Kinder konnten über das Jahr
       hinweg aufgenommen werden. Das Haus hat Platz für gerade einmal fünf Frauen
       und zehn Kinder. „Wir sind seit Wochen voll belegt“, sagt Seeger.
       
       Die Zahlen aus Rathenow stehen für ein überlastetes Hilfesystem. Alle drei
       Minuten erlebt statistisch gesehen eine Frau in Deutschland häusliche
       Gewalt. [2][2024 registrierte das Bundeskriminalamt 171.000 Fälle von
       Partnerschaftsgewalt, fast 80 Prozent der Opfer waren Frauen.] Laut dem
       Bundeslagebild sind in Deutschland im vergangenen Jahr 308 Frauen und
       Mädchen gewaltsam getötet worden, 191 davon durch Partner, Ex-Partner,
       Bekannte oder Familienmitglieder. Die Frauenhäuser sind bundesweit
       überfüllt. Um den Vorgaben der Istanbul-Konvention nachzukommen, fehlen in
       Deutschland rund 14.000 Schutzplätze. Die Istanbul-Konvention ist ein
       internationales Abkommen zum Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer
       und häuslicher Gewalt. Seit 2018 verpflichtet sie Bund und Länder, Gewalt
       zu verhindern, Betroffene zu schützen und ausreichend Hilfsangebote
       vorzuhalten. Damit Frauen besser geschützt werden, müsse man „endlich
       ausreichend Geld in die Hand nehmen“, sagt Seeger.
       
       Genau an dieser Überlastung soll [3][das neue Gewalthilfegesetz ansetzen].
       Anfang dieses Jahres verabschiedeten SPD, Union, Grüne und die Linke kurz
       vor der Neuwahl des Bundestags das Gesetz. Ab 2032 sollen gewaltbetroffene
       Frauen damit einen Rechtsanspruch auf Hilfsangebote haben. Für die
       Umsetzung sind die Bundesländer verantwortlich. Mit 2,6 Milliarden Euro
       beteiligt sich der Bund an der Finanzierung. Mehr Schutzräume, mehr
       Beratung, mehr Präventionsarbeit – so die Versprechen. Ein halbes Jahr
       später überwiegt bei Seeger eine Mischung aus vorsichtiger Hoffnung und
       Skepsis. „Wir hoffen, dass wirklich umgesetzt wird, was im
       Gewalthilfegesetz steht“, sagt sie.
       
       Doch ehe Handlungen folgen können, dauert es noch. Bis 2027 müssen alle
       Bundesländer erstmal ermitteln, wie viele Schutz- und Beratungsangebote
       sowie Präventionsarbeit sie brauchen und wie sie diese finanzieren wollen.
       Der Bund gibt nur grobe Ziele vor, die Ausgestaltung der Analyse übernehmen
       die Länder selbst. Alle Bundesländer gehen die Ausgangsanalyse anders an.
       So beauftragen einige Länder Forschungsinstitute, andere führen die
       Analysen in den Ministerien selbst durch. Umfang, Methoden und Zeitpläne
       unterscheiden sich teils deutlich. Manche erfassen Datenpakete, führen
       Interviews oder Workshops durch, andere arbeiten stärker mit vorhandenen
       Statistiken und eigenen Fragebögen. Einige Länder hatten im Herbst die
       Analyse bereits gestartet, während andere noch in der Ausschreibungs- oder
       Planungsphase waren.
       
       Doch schon jetzt zeigt sich, dass die Lücken groß sind: Brandenburg spricht
       von einem „enormen“ bundesweiten Bedarf an Ausbau. Sachsen-Anhalt verweist
       auf gravierende Versorgungslücken im ländlichen Raum. Nordrhein-Westfalen
       und Rheinland-Pfalz betonen, dass es neben zusätzlichen Frauenhausplätzen
       vor allem mehr Beratung und sogenannte Second-Stage-Angebote braucht. Also
       Unterstützungsangebote für die Zeit nach dem Frauenhaus, in der Betroffene
       ein eigenständiges Leben aufbauen müssen.
       
       „In der Theorie möchte ich eigentlich keine neuen Schutzplätze“, so Seeger.
       „Wir wollen doch, dass die Gewalt aufhört und sie nicht nur immer weiter
       verwalten“. Was Seeger damit meint: In einer idealen Welt wären mehr
       Schutzplätze gar nicht nötig, weil Gewalt verhindert würde. Doch dafür
       bräuchte es mehr Prävention. Diese muss bereits frühzeitig bei Kindern
       ansetzen.
       
       Im Garten des Frauenhauses steht ein Boxsack, ein Geschenk eines
       Fitnessstudios. Er wirkt mitgenommen; im schwarzen Kunstleder ziehen sich
       weiße Schlitze über die Oberfläche, das Füllmaterial schimmert durch. „Hier
       haben Kinder mit Messern drauf eingestochen“, erinnert sich Seeger. Nicht
       nur die Frauen, auch ihre Kinder bringen schwere Erfahrungen mit. Viele von
       ihnen hatten nie ein stabiles Zuhause, viele haben selbst Gewalt erlebt.
       „Wir wollen den Kreislauf durchbrechen“, sagt Seeger. Doch im Haus fehlt
       derzeit eine pädagogische Fachkraft, welche die traumatisierten Kinder
       auffängt. Stattdessen setzt sich die Gewalt manchmal fort. Seeger, seit 33
       Jahren im Frauenhausbereich tätig, hat Frauen getroffen, die hier einst als
       Kinder Schutz suchten. Manche wissen noch genau, in welchem Zimmer sie
       damals schliefen. „Aber es gibt auch die Kinder, die später selbst Täter
       werden“, sagt sie.
       
       Neben der Präventionsarbeit sollen nach dem neuen Gesetz auch Schutzräume
       und Beratungsstellen ausgebaut werden. Wie teuer und aufwendig das sein
       kann, zeigt der Blick nach Rathenow. Seeger hat in den vergangenen Jahren
       selbst an einem solchen Ausbau gearbeitet. Es ist ihr letztes großes
       Projekt, bevor die 66-Jährige in den Ruhestand geht. Noch in diesem Jahr
       soll das Frauenhaus in Rathenow umziehen. Dafür wurde ein Altbau in der
       Stadt mithilfe von Bundes- und Landesmitteln saniert. Der neue Standort
       wird barrierefrei sein, ein Aufzug erschließt erstmals die oberen Etagen.
       Jede Ebene erhält eine eigene Küche und ein eigenes Badezimmer. Insgesamt
       entstehen zehn Apartments mit 14 Zimmern. Platz für 10 Frauen und maximal
       23 Kinder. Allein die Sanierung kostete eine Million Euro. Hinzu kommen
       Ausgaben für Möbel, Bettdecken, Geschirr und andere notwendige Utensilien.
       Für einen Spielplatz sammelt das Frauenhaus noch immer Spenden.
       
       Doch selbst der Neubau wird nicht ausreichen, um die Vorgaben der
       Istanbul-Konvention zu erfüllen. Pro 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner
       sollte es einen Frauenhausplatz geben. Das Havelland hat rund 170.000
       Menschen – eigentlich müssten also 17 Plätze vorhanden sein. „Ich schaffe
       aber nur zehn“, sagt Seeger. Das hat zwei Gründe: Die Zimmer im neuen
       Gebäude sind bereits kleiner als die bisherigen, mehr passten schlicht
       nicht hinein. Und das Budget reicht nicht aus, um das notwendige
       zusätzliche Personal einzustellen.
       
       Wie angespannt die Lage ist, zeigt sich auch in Berlin. „Die Mitarbeitenden
       sind dauerhaft unter Belastung“, sagt Lenou Müssig, Leiterin des Berliner
       Frauenhauses Coucon. Fachkräfte zu halten werde immer schwieriger: lange
       Arbeitstage, wenig Geld und die Geschichten der Frauen, die man mit nach
       Hause nimmt. „Bisher merken wir vom Gewalthilfegesetz keine Erleichterung“,
       sagt sie. Im Gegenteil: Die Analyse habe zunächst mehr Bürokratie
       geschaffen, auch wenn sie grundsätzlich wichtig sei.
       
       Diese Kritik findet sich auch in der Erklärung der Zentralen
       Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser (ZIF) zum Internationalen Tag
       gegen Gewalt gegen Frauen. Das Gesetz verschaffe Betroffenen bislang
       keinerlei Entlastung. Viele Häuser kämpften sogar mit Kürzungen, während
       die Länder Zeit in langwierige Analysen stecken. „Während Mitarbeitende an
       Bedarfsanalysen teilnehmen und über Kürzungen beraten, müssen sie Frauen
       und Kinder abweisen“, sagt ZIF-Vertreterin Esther Bierbaum. Diese Zeit
       fehle in der Beratung. Die ZIF fordert Bund und Länder auf, sich nicht in
       Verfahren zu verlieren, sondern sofort Schutzplätze und Beratungsangebote
       abzusichern und auszubauen.
       
       Auch bei Müssig gibt es Zweifel, wie die Gelder des Gewalthilfegesetzes
       eingesetzt werden. Ein hoher Zaun schirmt das große Berliner Frauenhaus von
       der Straße ab, dahinter ein Garten mit einem Obstbaum. 730 Frauen suchten
       im vergangenen Jahr hier Schutz, nur 92 konnten aufgenommen werden. In
       ihrem Büro liegen die zugesagten Bundesmittel ab 2027 neben den Sparplänen
       des Berliner Senats für 2026. Der Vergleich macht sie wütend.
       
       Der Berliner Haushalt sieht für 2026 Einsparungen von 2,5 Millionen Euro
       vor, auch im Bereich der Frauenprojekte. „Der Bereich ist ohnehin
       unterfinanziert“, sagt Müssig. „Selbst zwei Prozent weniger bedeuten für
       viele Einrichtungen, dass sie Personalstellen streichen müssen.“ Sie
       fürchtet, dass die Bundesmittel am Ende genutzt werden, um neue Lücken zu
       stopfen, statt das Hilfesystem auszubauen.
       
       Der Senat widerspricht: Für 2027 seien 4,9 Millionen Euro vom Bund
       zugesagt, das übersteige die Kürzungen und ermögliche den Ausbau von
       Schutz- und Beratungsangeboten. Auch die SPD will die Einsparungen im
       Antigewaltbereich zurücknehmen. Für Lenou Müssig ist das ein Schritt in die
       richtige Richtung, aber nicht ausreichend. Ohne verlässliche Finanzierung
       der begleitenden Projekte funktioniere auch der Ausbau von Schutzplätzen
       nicht.
       
       Dass Gelder aus dem einen Topf fließen und der andere Topf dafür sinkt,
       kennen viele Einrichtungen bereits. „Wir haben letztens mehr finanzielle
       Mittel des Landes bekommen, aber das führte dazu, dass die kommunale
       Förderung eingekürzt wurde – so dass es sich ungefähr ausgleicht. Und die
       Kosten steigen.“, so eine:e Frauenhaus-Mitarbeiter:in in einer internen
       Umfrage der Frauenhauskoordinierung. „Das Gewalthilfegesetz darf nicht als
       Sparmodell für Länder und Kommunen gesehen werden. Selbst eine
       gleichbleibende Finanzierung bedeutet aufgrund von steigenden Kosten für
       Miete, Gehälter und Sachkosten eine faktische Kürzung“, sagt deren
       Geschäftsführerin Sibylle Schreiber.
       
       Die Mitfinanzierung des Bundes endet 2036. Bis dahin soll ein Hilfesystem
       entstehen, in dem alle gewaltbetroffenen Frauen Schutz finden. Die
       Frauenhauskoordinierung bezweifelt, dass das mit den bisherigen Mitteln
       möglich ist: Weder die 2,6 Milliarden Euro aus dem Gewalthilfegesetz noch
       die 150 Millionen Euro aus dem Sondervermögen würden reichen, um das System
       bedarfsgerecht auszustatten. Berechnungen des Vereins zeigen, dass jährlich
       über 1,6 Milliarden nötig wären, um allein die laufenden Kosten eines
       ausgebauten Systems zu decken. Ob der Bund nach 2036 weiterzahlt, ist
       offen. Das Familienministerium verweist darauf, bereits über seine
       verfassungsrechtliche Pflicht hinauszugehen und will die tatsächlichen
       Kosten vier Jahre nach Inkrafttreten prüfen.
       
       25 Nov 2025
       
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