# taz.de -- Selbsttötungen in Iran: Keine Motivation, keine Hoffnung
> Immer mehr junge Menschen nehmen sich in der Islamischen Republik aus
> Protest das Leben. Ein Fall hat nun Konsequenzen bis in die Politik
> hinein.
(IMG) Bild: Teheran im Oktober: Ahmad Baledis Selbstverbrennung ist kein Einzelfall
Die wackelige Linse eines Mobiltelefons fängt den Moment ein, in dem sich
ein junger Mann selbst anzündet. Mit beunruhigender Deutlichkeit zeigt das
Video, wie städtische Sicherheitskräfte nach dem Löschen der Flammen auf
dem Körper von [1][Ahmad Baledi] versuchen, ihn in den Laderaum eines
Pick-ups zu zwingen.
Ahmad, schwer verbrannt, kämpft sich aus ihrem Griff. Er will seine Mutter
auf der anderen Seite des Fahrzeugs erreichen – denn die Beamten haben vor,
auch sie mitzunehmen. Verzweifelt versucht er, sie daran zu hindern.
Der Fall spielt sich in der Provinz [2][Khusistan] ab, in der Stadt Ahvaz,
im Zeytoon-Park, am Morgen des 2. November 2025. Damals stürmen städtische
Beamte einen kleinen Imbissstand. Er gehört Ahmad Baledis Eltern. Die
Beamten sind gekommen, um den Kiosk abzureißen – und sie sind bereit, dabei
Gewalt anzuwenden.
Ahmads Mutter versucht, sich zu wehren, setzt sich in den Stand hinein,
aber die Beamten zerrten sie heraus. Ahmad möchte sie aufhalten, indem er
droht, sich selbst in Brand zu setzen. Als er merkte, dass die Drohung
ihnen nichts bedeutet, eskaliert die Situation.
## Beamte müssen zurücktreten – das ist selten
Ahmads Vater, Mojahid Baledi, berichtet: Die Beamten hätten seinen Sohn
verspottet und gesagt: „Mach nur. Verbrenn dich. Mal sehen, wie du
brennst.“ In dem Moment, als Ahmad sich anzündet, versuchen Umstehende, die
Flammen zu löschen. Doch die Beamten der Stadtverwaltung hindern sie daran.
Neun Tage lang liegt Ahmad halb bewusstlos und unter sicherlich qualvollen
Schmerzen im Krankenhaus, bis er am 10. November 2025 verstirbt. Nach
seinem Tod hält sein Vater vor einer Menge arabischer und bakhtiarischer
Verwandter eine Rede, und warnt: Er werde sich weigern, den Leichnam seines
Sohnes in Empfang zu nehmen oder ihn zu beerdigen, bis der Bürgermeister
und sein Stellvertreter die Stadt verlassen.
Die Geschichte von Ahmad Baledi ist eine besondere. Denn nach der
leidenschaftlichen Rede von Mojahid Baledi [3][tritt der Bürgermeister von
Ahvaz, Reza Amini, tatsächlich zurück]. Kurz darauf wurde auch Ali Shams,
der amtierende Leiter der städtischen Dienste, entlassen.
Der Fall dringt sogar in die oberste Ebene: Präsident Masoud Peseschkian
ordnet eine Untersuchung an. Daraufhin werden der stellvertretende
Bürgermeister des Bezirks 3 und der Leiter der städtischen Vollzugsbehörde
in Ahvaz ihrer Ämter enthoben.
## Mindestens sechs Ärzte
Sogar der Provinzverwalter von Khusistan, Abdolazim Shamkhani, wird aus
seinem Amt entlassen. Er ist der Halbbruder von Ali Shamkhani, dem
umstrittenen Berater des Obersten Führers Irans und ehemaligen Sekretär des
Obersten Nationalen Sicherheitsrates. [4][Ali Shamkhani überlebte im Juni
2025 einen israelischen Luftangriff auf seine Residenz.]
Steht das Geschehen für ein Umdenken in der Islamischen Republik Iran?
Vielleicht sogar für die Einsicht, dass die Bevölkerung nicht unendlich
gegängelt werden kann? Denn Ahmad Baledis Selbstverbrennung ist kein
Einzelfall. Eine ganze Welle der Selbsttötungen rollt derzeit durch Iran.
Nur einen Tag nach Baledi zündet sich in der Stadt Sanandaj Shaho Safari
aus Protest gegen monatelange Lohnrückstände an. Obwohl er schwer verletzt
ist, ein Drittel seines Körpers verbrennt, überlebte er. Zwei Tage später
stirbt ein Journalist durch Selbstmord. Drei Fälle in nur drei Tagen.
Und es sind noch mehr: In den letzten Monaten haben sich mindestens sechs
Ärzte und chirurgische Assistenzärzte in Iran das Leben genommen.
[5][Die jüngste war Yasaman Shirani,] eine Assistenzärztin für Gynäkologie
und Geburtshilfe an einer der führenden medizinischen Universitäten Irans,
deren Tod eine ganze Welle der Trauer in den iranischen sozialen Medien
auslöste. Im Juni 2024 berichtete das Medizinjournal [6][The Lancet,] dass
Selbsttötungen unter iranischen Assistenzärzten zu einer systemischen Krise
herangewachsen seien.
In den letzten Jahren hat sich das Profil derjenigen, die in Iran
Selbstmordgedanken hegen, verändert: Immer häufiger sind jüngere und besser
ausgebildete Menschen betroffen. Obwohl die Islamische Republik niemals
offizielle Statistiken zu diesem Thema veröffentlicht, beobachten
Analysten: Die Selbstmordrate in Iran ist in den letzten zehn Jahren stetig
gestiegen.
Zwischen 2011 und 2023 hat sich die Zahl der Todesfälle durch Suizid laut
lokalen Medien verdoppelt. Nach den neuesten Zahlen, die von iranischen
Medien für 2023 bis 2024 gemeldet wurden, gab es etwa 150.000
Selbsttötungsversuche, von denen 7.603 tödlich endeten. [7][Die Daten
deuten darauf hin, dass jedes Jahr die Zahl der Selbstmordtoten im Land um
mindestens 10 Prozent zunimmt.]
32 Prozent dieser Todesfälle ereignen sich unter Arbeitnehmern, 19 Prozent
unter Studenten. 54 Prozent der Opfer sind unter 30 Jahre alt, und 80
Prozent aller Versuche werden von Menschen unter 50 Jahren unternommen.
Frauen versuchen dreimal häufiger Suizid als Männer, doch sterben Männer
dreimal häufiger daran.
Eine Recherche der taz in den persischsprachigen sozialen Medien zeigt:
Täglich schreiben Nutzer offen über ihre Suizidgedanken.
Die Ausbreitung der durch die Inflation verursachten Armut, [8][die
öffentliche Misswirtschaft,] der starke Rückgang der Lebensqualität und die
Erosion jeglichen Gefühls der sozialen Zugehörigkeit [9][gehören wohl zu
den wichtigsten Gründen für solche Entscheidungen]. Junge Menschen
schreiben in den sozialen Medien, dass sie keine Motivation und keine
Hoffnung mehr verspüren – weder für die Zukunft Irans noch für ihr eigenes
Leben.
In einer Gesellschaft, in der ziviler Protest, gewerkschaftliche
Organisation und die freie Äußerung von Meinungen und Forderungen stark
eingeschränkt sind, findet die angestaute Wut keinen anderen Ausweg mehr.
Unter solchen Bedingungen wird die Selbstverbrennung zu einem
„individuellen Akt des Protests“, einem Schrei gegen ein System, das die
Möglichkeit des Dialogs ausgeschaltet hat.
Inmitten dieser Welle von Selbstverbrennungen und Selbsttötungen wurden
jüngst Teile einer geheimen nationalen Umfrage zu den Werten und
Einstellungen der Iranerinnen und Iraner [10][an lokale Medien
weitergegeben]: Sie zeigt, dass 92 Prozent der Iraner mit der aktuellen
Situation und der Leistung der Islamischen Republik unzufrieden sind.
Aus dem Englischen von Lisa Schneider
26 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] https://www.iranintl.com/en/202511110519
(DIR) [2] /Menschenrechte-im-Iran/!5791117
(DIR) [3] https://www.tabnak.ir/fa/news/1339750/%D8%AC%D8%B2%D8%A6%DB%8C%D8%A7%D8%AA%DB%8C-%D8%AC%D8%AF%DB%8C%D8%AF-%D8%A7%D8%B2-%D9%85%D8%A7%D8%AC%D8%B1%D8%A7%DB%8C-%D8%AE%D9%88%D8%AF%D8%B3%D9%88%D8%B2%DB%8C-%D8%AC%D9%88%D8%A7%D9%86-%D8%A7%D9%87%D9%88%D8%A7%D8%B2%DB%8C
(DIR) [4] https://www.nytimes.com/2025/07/01/world/middleeast/iran-shamkhani-israel-attack.html
(DIR) [5] https://www.tabnak.ir/fa/news/1337552/%25D8%25B1%25D9%2588%25D8%25A7%25DB%258C%25D8%25AA%25DB%258C-%25D8%25AA%25D8%25A7%25D8%25B2%25D9%2587-%25D8%25A7%25D8%25B2-%25D8%25A7%25D8%25A8%25D8%25B9%25D8%25A7%25D8%25AF-%25D8%25AE%25D9%2588%25D8%25AF%25DA%25A9%25D8%25B4%25DB%258C-%25DB%258C%25D8%25A7%25D8%25B3%25D9%2585%25D9%2586-%25D8%25B4%25DB%258C%25D8%25B1%25D8%25A7%25D9%2586%25DB%258C
(DIR) [6] https://www.thelancet.com/journals/lancet/home
(DIR) [7] https://www.iranintl.com/202502199269
(DIR) [8] /Trockenheit-in-Iran/!6130644
(DIR) [9] https://rooziato.com/1404724471/alarming-statistics-on-suicide-rates-in-iran/
(DIR) [10] https://www.rouydad24.ir/fa/amp/news/435559
## AUTOREN
(DIR) Mahtab Qolizadeh
## TAGS
(DIR) Schwerpunkt Iran
(DIR) Suizid
(DIR) Protest
(DIR) GNS
(DIR) Social-Auswahl
(DIR) Proteste in Iran
(DIR) Spielfilm
(DIR) Schwerpunkt Iran
(DIR) Schwerpunkt Iran
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Kurden im Iran: Die Vergessenen
Die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in Iran erhält kaum Beachtung.
Obwohl gerade von ihr Hoffnung auf politischen Wandel ausgeht.
(DIR) Spielfilm „Lolita lesen in Teheran“: Nafisis Erzählung und Riklis’ Film
Eran Riklis’ Film „Lolita lesen in Teheran“ ist eine Hommage an Literatur
und weiblichen Widerstand. Überragend: Golshifteh Farahani in der
Hauptrolle.
(DIR) Trockenheit in Iran: Nicht vom Himmel gefallen
Iran erlebt eine Dürrekrise. In Teheran fiel im Herbst dieses Jahr nur ein
Millimeter Regen. Das Land leidet unter schlechtem Wassermanagement.
(DIR) Immer mehr Hinrichtungen in Iran: Vielleicht sogar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit
In der Islamischen Republik Iran folgt auf den Krieg mit Israel im Juni
eine regelrechte Hinrichtungswelle. Ein neuer UN-Bericht erhebt schwere
Vorwürfe.