# taz.de -- Stadtforscher über neue Mobilität: „Es ist unrealistisch, am Autosystem festzuhalten“
       
       > Fahrverbote und Tempolimits: Eine französische Organisation hat einen
       > Plan für weniger Autoverkehr enwickelt. Ein Forscher erklärt, wie es
       > gehen soll.
       
 (IMG) Bild: Autoverkehr in Frankreich: Auf Elektromobilität umzustellen reicht nicht
       
       taz: Herr Dubois, Sie haben einen Plan für ein alternatives
       Mobilitätssystem, das „Système alternatif de mobilité“ (SAM) entwickelt.
       Wie sieht das aus? 
       
       Tom Dubois: Das alternative Mobilitätssystem basiert auf drei Säulen.
       Erstens: einem umfassenden Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, die
       tagsüber im Halbstundentakt und nachts im Stundentakt verkehren. Zug, Bus
       und Reisebus sind miteinander verbunden. Zweitens: dem [1][Ausbau eines
       durchgängigen und sicheren Rad- und Fußwegenetzes]. Drittens: einer
       Bündelung des Angebots, der Informationen und des Ticketings in ganz
       Frankreich. 19 Prozent des lokalen Straßennetzes würden dem Autoverkehr
       entzogen und für Radfahrer und Fußgänger reserviert, 1 Prozent ist für
       Busse und Reisebusse, 23 Prozent blieben für Autos zugänglich, wobei jedoch
       dem öffentlichen Nahverkehr systematisch Vorrang eingeräumt wird. Und da
       das neue System nur durch die Ablösung des derzeitigen Systems realisiert
       werden kann, müssen Maßnahmen zur Einschränkung des Autoverkehrs ergriffen
       werden – zum Beispiel Fahrverbote, Sperrungen von Fahrspuren oder
       Geschwindigkeitsbegrenzungen.
       
       taz: „Fahrverbote“, „Geschwindigkeitsbegrenzungen“ – das sind häufig
       Reizworte in verkehrspolitischen Debatten. Wie rechtfertigen Sie Ihr
       Projekt in Frankreich? 
       
       Dubois: Wir sind von einer Feststellung ausgegangen: Der autofokussierte
       Verkehr ist nicht nur ökologisch und gesundheitlich problematisch, sondern
       auch sozial sehr ungerecht: Nur 12 Prozent der Franzosen geben an, dass sie
       völlig ungehindert autofahren können, wo und wann sie wollen. Für alle
       anderen ist das Autofahren entweder unmöglich oder wird regelmäßig
       verunmöglicht. Gleichzeitig ist die Abhängigkeit vom Auto im gesamten
       Staatsgebiet eine Realität. Wenn man Menschen ermöglichen will, darauf
       verzichten zu können, muss man zwangsläufig eine Alternative anbieten, die
       für die täglichen Wege wirklich effektiv ist. Ohne diese Alternative wird
       jede Politik, die darauf abzielt, die Nutzung des Autos zu reduzieren,
       [2][zu einer politischen Krise] führen, wie wir sie in Frankreich mit den
       Gelbwesten erlebt haben.
       
       taz: Wie sieht die Alternative aus? 
       
       Dubois: Genau um aus dieser Sackgasse herauszukommen, haben wir ein neues
       System entwickelt, das es jedem ermöglicht, in allen Gebieten auf das Auto
       zu verzichten. Die Idee besteht darin, die bestehende Infrastruktur,
       insbesondere das Straßennetz, so weit wie möglich umzuwidmen und dem Auto
       Platz zu nehmen.
       
       taz: Ein Einwand auf Ihren Vorschlag könnte lauten, dass sich viele
       Menschen den Abschied vom Auto nicht leisten können. Was würde ein solcher
       Umbau kosten?
       
       Dubois: Wir haben die Kosten für dieses System auf nationaler Ebene
       berechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es etwa 60 Milliarden
       Euro pro Jahr kosten würde. Das mag [3][angesichts der aktuellen
       Haushaltslage] viel erscheinen. Aber diese Kosten kommen nicht zu den
       derzeitigen Ausgaben hinzu, sondern ersetzen insbesondere die Ausgaben im
       Zusammenhang mit dem gängigen Autosystem. Wir haben daher die Gesamtkosten
       des Autosystems in Frankreich berechnet: Sie belaufen sich insgesamt auf
       305 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist fünfmal mehr als das, was SAM kosten
       würde. Somit ist das neue Mobilitätssystem nicht nur integrativer und
       umweltfreundlicher, sondern auch insgesamt viel kostengünstiger.
       
       taz: Ihre Denkfabrik, das Forum Vies Mobiles, wird von der französischen
       Bahngesellschaft SNCF, also von einem öffentlichen Träger finanziert. In
       Deutschland war selbst in militanten Kreisen bei Protesten gegen die
       Automesse IAA eine so radikale Forderung wie ein autofreier Verkehr selten
       zu hören. Was sind die Reaktionen auf Ihren Vorschlag in Frankreich? 
       
       Dubois: Unser System ist radikal, aber es ist konkret, finanzierbar und
       schnell umsetzbar. Denn wir müssen einfach feststellen: Es ist
       unrealistisch, am Autosystem festzuhalten. Es ist ökologisch,
       [4][gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial untragbar]. Dank unserer
       akademischen Forschungen, unserer Arbeit zu den Erwartungen der Bürger und
       der sorgfältigen Arbeit, die zur Konzeption und Quantifizierung des SAM
       geleistet wurde, sind unsere Argumente stichhaltig und finden Gehör.
       
       taz: Wo zum Beispiel? 
       
       Dubois: Wir wurden diesen Sommer im Senat und in der Nationalversammlung
       Frankreichs angehört. Darüber hinaus sind sich die gewählten Vertreter
       ländlicher oder dünn besiedelter Gemeinden bewusst, dass die Abhängigkeit
       vom Auto vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung einer Sackgasse
       gleichkommt. Wir können nicht beim Autosystem bleiben, und das Elektroauto
       wird das Problem nicht lösen. Es reicht nicht aus, den Motor zu wechseln,
       wir müssen das System ändern. Hierfür müssen grundlegende politische
       Entscheidungen getroffen werden, um von einem System zum anderen übergehen
       zu können. Mehrere Politiker sind aktuell in Frankreich daran interessiert,
       in ihren Gebieten Versuche zu starten.
       
       taz: Wie geht es jetzt weiter? 
       
       Dubois: Unser erster Schritt war die Durchführung eines Testlaufs durch den
       wir gezeigt haben: Ja, dieses System ist möglich und finanzierbar. Nun ist
       die Umsetzung in mehreren Pilotgebieten der nächste wichtige Schritt. Diese
       auf drei Jahre angelegten Versuche werden es ermöglichen, die Modalitäten
       zu verfeinern, die Vorteile für die Einwohner und die Umwelt zu belegen und
       eine kohärente nationale Strategie zu entwickeln. Wir nutzen das in
       Frankreich bestehende [5][„Recht auf lokales Experimentieren”]. Das
       ermöglicht, die klassischen institutionellen Rahmenbedingungen für die
       Finanzierung und Steuerung zu überschreiten.
       
       taz: Welche Städte oder Regionen machen mit? 
       
       Dubois: Von Finistère über Gironde und Saône-et-Loire bis hin zu
       Meurthe-et-Moselle haben mehrere Gebiete ihren Wunsch bekundet, an solchen
       Versuchen teilzunehmen. Die Herausforderung besteht nun darin, Gebiete zu
       bestimmen, die groß genug sind, um als „System“ definiert werden zu können.
       Aber auch nicht zu groß, um die Kosten des Experiments im Rahmen zu halten.
       Wir vertreten die Auffassung, dass sich der Staat finanziell beteiligen
       muss. Dafür setzen wir uns derzeit beim Entwurf des Haushaltsplans 2026
       ein.
       
       26 Nov 2025
       
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