# taz.de -- Versorgung von obdachlosen Menschen: Gesundheit gibt es nur mit Meldeadresse
> Das Leben auf der Straße ist extrem ungesund. Und eine
> Gesundheitsbefragung unter Obdachlosen in Hamburg zeigt, wie wenig die
> Hilfsangebote helfen.
(IMG) Bild: Gesundheitszustand wohnungsloser Menschen: im Vergleich zur letzten Erhebung vor zwei Jahren verschlechtert
Der Kiez in St. Pauli ist im November besonders grau, die Nächte werden
schon kalt. Sarah und ihr Freund schlafen seit einigen Jahren auf einer der
Nebenstraßen der Hamburger Reeperbahn. „Die Bedingungen hier sind nicht so
super. Es ist ja auch nicht gerade sauber“, erzählt die 38-Jährige. „Wird
man krank, hält man es so lange aus, bis es wieder weggeht.“ Manchmal geht
es aber nicht wieder weg, wie die kleine Wunde an ihrem Finger. Erst als
sie sich entzündete und sich eine Blutvergiftung anbahnte, suchte Sarah
Hilfe beim Krankenmobil, das montags und donnerstags auf der Reeperbahn
steht und Bedürftige versorgt.
Sarahs Fall ist ganz typisch. Ein Großteil der [1][obdachlosen Menschen]
leidet an gesundheitlichen Beeinträchtigungen, vermeidet aber, medizinische
Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das geht aus dem [2][Wohnungslosenbericht der
Bundesregierung] hervor, einer deutschlandweiten Erhebung zu Ausmaß und
Struktur der Wohnungslosigkeit, der Anfang November veröffentlicht worden
ist. Im Februar 2024 hatte die Gesellschaft für innovative Sozialforschung
und Sozialplanung (Giss) in 200 Städten insgesamt 2.250 Menschen ohne
festen Wohnsitz befragt.
[3][Für Hamburg kam noch ein eigener Fragebogen dazu]. Die Hamburger
Sozialbehörde hatte die Giss beauftragt, genauer hinzuschauen, wie es um
die gesundheitliche Versorgung auf den Straßen der Stadt steht. Zum
Zeitpunkt der Erhebung lebten in Hamburg hochgerechnet 3.787 Menschen auf
der Straße. Weitere 1.685 Menschen hatten keine eigene Wohnung und waren
provisorisch bei Freund:innen oder Angehörigen untergekommen.
Mehr als jede:r zweite befragte Obdachlose in Hamburg gibt an, dass es ihm
oder ihr schlecht geht. „Die Ergebnisse der Gesundheitsbefragung
überraschen uns nicht. Aus dem engen Austausch mit den Einrichtungen wissen
wir, dass viele obdachlose Menschen in Hamburg gesundheitlich stark
belastet sind“, teilt Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) mit.
## Leben auf der Straße „extrem ungesund“
Im Vergleich zur vorherigen Umfrage im Jahr 2022 ist die Zahl derer
gestiegen, die sagen, es gehe es ihnen gesundheitlich schlecht. Die Hälfte
gab an, gar keine Gesundheitsangebote zu nutzen. Nach den Gründen gefragt,
antworten sie: „Ich will gar nicht wissen, was ich habe“. Oder: „Ich habe
Angst, dann aus dem Substitutionsprogramm zu fallen“. Oder: „Generelle
Angst vor dem Arzt“. Das sind nur einige der [4][Antworten aus dem von der
Giss veröffentlichten Bericht].
Das Leben auf der Straße sei „extrem ungesund“, schreibt Jutta Henke,
Geschäftsführerin der Giss, auf Anfrage der taz. Viele Betroffene leiden
unter chronischen Erkrankungen, Infektionen, psychischen Belastungen. Die
Hilfen, die es gibt, erreichen manche gut – andere gar nicht. Selbst wer
eine Krankenversicherung hat, nutzt oft lieber niedrigschwellige Angebote.
Vor allem Menschen, bei denen Obdachlosigkeit und Sucht zusammenkommen,
fühlen sich in Arztpraxen nicht willkommen. Manche berichten, sie werden
dort „nicht gut behandelt“.
Ulf war 13 Jahre obdachlos im Hamburger Stadtteil Altona. Mittlerweile hat
er eine Wohnung und arbeitet als Verkäufer des Straßenmagazins Hinz und
Kunzt. „Die Hemmschwelle, zum Arzt zu gehen, ist riesig“, sagt der
60-Jährige. Manche fürchten, dass die Polizei eingeschaltet wird, wenn sie
sich an Hilfsangebote wenden. Einige hätten schon schlechte Erfahrungen mit
Beamt:innen gemacht, manche seien in kriminelle Strukturen verwickelt,
wieder andere wurden Opfer von Gewalt und möchten aber kein Aufsehen
erregen.
## Hilfe gibt es, erreicht aber nicht alle
„Die Situation hat sich nicht nur in den letzten Monaten, sondern Jahren
verändert“, sagt Lutz Gröchtemeier vom Krankenmobil der Caritas. „Neben der
Zunahme der Behandlungen nehmen wir auch eine Verschlechterung des
Gesundheitszustandes bei den Menschen wahr.“ Sein Team fährt täglich
verschiedene Stadtteile an, behandelt Wunden wie die von Sarah, verteilt
Medikamente, hört zu.
„Der Winter ist natürlich eine weitere enorme Herausforderung für die
Menschen auf der Straße. Wir sehen, dass zum Beispiel die
Erkältungserkrankungen wieder stark zunehmen, die auf der Straße auch
schnell zu einer Lungenentzündung werden können“, sagt Gröchtemeier. Es
fehle an sicheren, warmen Aufenthaltsorten.
## Winternotprogramm gestartet
Einen solchen warmen und sicheren Aufenthaltsort soll eigentlich das
Hamburger Winternotprogramm bieten. Auch in diesem Jahr ist es am 1.
November gestartet. Bis Ende März 2026 stehen an zwei Orten Schlafplätze
für insgesamt bis zu 700 Menschen zur Verfügung.
Die Mehrbettzimmer sollen Schutz in der Nacht bieten, Alkohol und Drogen
sind verboten, es gibt einen Sicherheitsdienst, zweimal täglich eine Wund-
und Medikamentensprechstunde und laut Sozialbehörde begleite ein
Pflegedienst die Mitarbeitenden bei der Morgenrunde durch alle Zimmer.
Morgens um 9.30 Uhr müssen alle die Unterkunft räumen. [5][Nur bei
besonders schlechtem Wetter werden die Öffnungszeiten verlängert].
Hört man aber denen zu, die hier schon mal übernachtet haben, bieten die
Unterkünfte zwar ein Dach über dem Kopf, [6][Schutz findet in den
Mehrbettzimmern kaum jemand]. „Es ist die Hölle. Ich war einmal dort und
werde nie wieder einen Fuß in die Einrichtung setzen“, sagt auch Sarah. Auf
der Straße an der Reeperbahn fühle sie sich sicherer als dort. „Man muss
sich schon die Klamotten anschnallen. Die klauen dir alles im Schlaf. Von
dem Dreck und Gestank ganz zu schweigen.“
Ulf habe in seiner Zeit ohne Obdach die Winternotunterkünfte ebenfalls
gemieden. „Man kann sich nicht vorstellen, was da los ist, wenn so viele
Menschen auf engsten Raum zusammen sind. Eigentlich gibt es Kontrollen am
Eingang, aber du wirst da trotzdem mit dem Messer bedroht oder heimlich
unter Drogen gesetzt von den anderen.“
„Mit Blick auf das Winternotprogramm hatten wir im vergangenen Jahr nur
eine handvoll sogenannter besonderer Vorkommnisse in den beiden Standorten
– dabei ging es aber eher um Beschimpfungen und lautstarke Streitigkeiten
und weniger um körperliche Gewalt (nur in einem Fall)“, schreibt der
Sprecher der Sozialbehörde, Wolfgang Arnhold, dazu auf Anfrage der taz.
## Sozialbehörde setzt auf Sozialarbeit
Welche Kosequenzen folgen aus der Befragung und der schlechter gewordenen
gesundheitlichen Lage der Obdachlosen? „Die Ergebnisse der Befragung
verdeutlichen, wie wichtig eine konsequente, verbindliche und aktivierende
Ansprache obdachloser Menschen ist“, so steht es in einer Pressemitteilung
der Sozialbehörde. „Frühzeitige Hilfe kann gesundheitliche Probleme
verhindern und Verschlimmerungen vermeiden.“ Es ist die Rede davon, das
Gesundheitssystem und insbesondere die Notfallversorgung entlasten zu
können.
Im Juni 2025 hat die Stadt ein neues Konzept für die Straßensozialarbeit
vorgestellt. Dazu gehören [7][Angebote wie der Social Hub] in den Räumen
der Bahnhofsmission am Hauptbahnhof. Dort sollen Mitarbeitende die
Unterstützung komplexer Fälle übernehmen, indem sie Hilfsorganisationen
miteinander vernetzen. Zusätzlich suchen Sozialarbeiter:innen mit
einem Streetworkmobil obdachlose Menschen direkt an ihrem Schlafplatz auf,
bieten Beratung an, bringen Kleidung oder hören einfach nur zu.
Aufsuchende Sozialarbeit ist eine Sache, eine andere ist, die Menschen
langfristig von der Straße in eine Wohnung zu holen. „Ich wünsche mir zum
einen mehr bezahlbaren Wohnraum und mehr Unterkünfte, in denen Menschen
dauerhaft unterkommen können“, sagt Lutz Gröchtemeier vom Krankenmobil. Er
ist für eine Ausweitung des [8][Housing-First-Prinzips]. Hier müssen
Menschen nicht erst bestimmte Auflagen erfüllen, ehe sie eine Wohnung
bekommen, sondern erhalten direkt eine Wohnung, der Rest folgt dann. Oder
wie Gröchtemeier es formuliert: „Gesundheit darf kein Privileg sein, das an
eine Meldeadresse gebunden ist.“
23 Nov 2025
## LINKS
(DIR) [1] /Neue-Elends-Bekaempfung-in-Hamburg/!6111756
(DIR) [2] https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/wohnen/wohnungslosenbericht-2024.pdf?__blob=publicationFile&v=1
(DIR) [3] https://www.hamburg.de/resource/blob/1112392/c8d66fc076271c4e21f873d0744498be/gesundheitsfragebogen-giss-data.pdf
(DIR) [4] https://www.hamburg.de/politik-und-verwaltung/behoerden/sozialbehoerde/themen/soziales/obdachlosigkeit/gesundheitsbefragung-1112386
(DIR) [5] /Hamburgs-Obdachlose-im-Winter/!6067146
(DIR) [6] /Sozialarbeiter-ueber-Obdachlosigkeit/!5999464
(DIR) [7] /Hamburger-Hauptbahnhof/!5990597
(DIR) [8] /Obdachlos-in-der-Kleinstadt/!6082118
## AUTOREN
(DIR) Nele Beste
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