# taz.de -- Literaturgeschichte von Steffen Martus: In postheroischer Gesellschaft
       
       > Steffen Martus hat eine umfangreiche Literaturgeschichte der Gegenwart
       > geschrieben. Was ist los zwischen Christa Wolf und New Adult?
       
 (IMG) Bild: Kim de l'Horizon bei der Auszeichnung mit dem Deutschen Buchpreis in Frankfurt/Main 2022
       
       Allein das Literaturverzeichnis umfasst siebzig Seiten, von A wie
       Achtermeier bis Z wie Zylka. Man könnte den gesamten Besprechungsplatz hier
       damit füllen, die in dieser „Literaturgeschichte der Gegenwart“, so der
       Untertitel, behandelten Namen, Buchtitel, Themen und Debatten aufzuzählen.
       Auf 700 Seiten, aufgeteilt in 52 thematischen Kapiteln, breitet Steffen
       Martus das ganze Panorama dessen aus, was in der literarischen
       Öffentlichkeit in den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten folgenreich
       diskutiert worden ist.
       
       Er muss nicht nur unendlich viele Romane gelesen haben, sondern auch über
       ein sorgfältig geführtes Archiv der einschlägigen Literaturkritiken und
       Debattentexte verfügen.
       
       Der Untertitel mag dabei zunächst irritieren. Ja, was denn nun? Geschichte
       oder Gegenwart? Doch Steffen Martus holt das in diesem Buch gut ein. Er
       scheint sich eh für beides zu interessieren. Hervorgetreten ist der
       Literaturprofessor an der Berliner Humboldt-Uni, Jahrgang 1968, mit einer
       [1][sorgfältigen Epochenschilderung] der historischen deutschen Aufklärung
       (auch bei Rowohlt Berlin) und, zusammen mit dem Literaturprofessor in
       Bielefeld Carlos Spoerhase, mit einer innovativen Darstellung der
       gegenwärtigen [2][Praxis der Geisteswissenschaften] („Geistesarbeit“ heißt
       die, ein ziegeldicker stw-Band).
       
       Seine nun erschienene Literaturgeschichte lässt er am 4. November 1989
       beginnen. An diesem Tag läutete am Berliner Alexanderplatz eine
       unübersehbare Menschenmenge endgültig den Zusammenbruch der DDR ein, dabei
       traten Schriftsteller wie selbstverständlich als Repräsentanten des Volkes
       auf („Geschichte“).
       
       Und enden lässt Martus das Buch beim Deutschen Buchpreis 2022 für Kim de
       l’Horizons „Blutbuch“ und schließlich in jenen riesigen Messehallen, die in
       den darauf folgenden Jahren die Buchmessen extra einrichten mussten, um der
       Massen Herr zu werden, die eine Signatur und ein Selfie von den
       Autorinnenstars des New Adult abholen wollten („Gegenwart“).
       
       ## Bocksgesang und Tschick
       
       Manches ist inzwischen ein Stück weit historisch geworden, die großen
       Literaturdebatten um Botho Strauß („Bocksgesang“), Peter Handke (Serbien)
       und Martin Walser (Friedenspreisrede) etwa genauso wie die großen Erfolge
       von Judith Hermann („Sommerhaus, später“), Daniel Kehlmann („Vermessung der
       Welt“) und Wolfgang Herrndorf („Tschick“). Manches hatte man auch zu
       Unrecht etwas vergessen, etwa Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ und die
       komplexe Art und Weise, wie [3][Kathrin Röggla] und Ulrich Peltzer
       literarisch auf den 11. September 2001 reagierten. Einiges hatte man auch
       erfolgreich verdrängt, etwa Charlotte Roches „Feuchtgebiete“.
       
       Bei Martus begegnet man, wenn man Zeitzeuge ist, dem allem wieder – das
       waren die Jahre und ihre Romane; es ist viel passiert – oder kann es als
       Nachgeborener nachlesen. In der zweiten Hälfte landet diese Reise bei den
       zuletzt omnipräsenten Themen Klassismus, Autofiktion und Diversität. Aber
       auch die historisch entfernteren Debatten gehören noch zur Gegenwart. In
       Selbstverständnisdebatten über die Rolle der Literatur blitzen auch sie
       immer mal wieder auf.
       
       Dabei zielt dieses Buch auf mehr als auf einen Überblick.
       Gegenwartsliteratur gebe es „nicht im Singular, sondern nur als
       Zusammenhang von unterschiedlichen Schreibweisen und Haltungen“, heißt es
       an einer Stelle. Die Entwicklung dieser Schreibweisen und Haltungen
       beschreibt Martus nun nicht etwa als Abfolge von Autor*innen,
       Schreibansätzen und Buchtiteln auf einem darüber hinaus im Prinzip
       strukturell gleichbleibenden literarischen Feld. Sondern er reflektiert
       stets dabei mit, dass sich dieses Feld, oder, wenn einem das lieber ist,
       der Literaturbetrieb auch selbst gehörig verändert hat.
       
       Mit der recht übersichtlich geordneten Literaturwelt von vor 1989 mit ihren
       Gatekeepern und Konsensen, was zur Hochliteratur zählt und was nicht, hat
       die Gegenwart, so wie Martus sie fasst, kaum noch etwas zu tun. Die
       Gatekeeper wurden relativiert, die Konsense lösten sich auf. Was in der
       Perspektive dieses Buches keine Verfallsgeschichte darstellt, wie man
       dankbar registriert. Hier zahlt sich der Abstand zum engeren
       Literaturbetrieb, den Martus einhält, aus.
       
       ## Brussig und Grass
       
       Martus bietet auch sonst keineswegs die eine These, den einen Ansatz an,
       auf die sich das Wimmelbild seiner Gegenstände bringen ließe. Vielmehr
       schälen sich im Verlauf dieses erfreulich lesbaren Buch anhand von mal
       lockeren, mal eingehenderen Einzelanalysen allmählich wiederkehrende Motive
       heraus, die sich teilweise entfalten, teilweise auch untergründig
       mitlaufen.
       
       Folgenreich in seiner Darstellung ist etwa die Unterscheidung
       heroisch/postheroisch, die von Anfang an präsent ist. Der Anspruch von
       Christa Wolf, sich im November 1989 vor Hunderttausenden aufs Podium zu
       stellen und stellvertretend für sie zu sprechen, folgt in dieser
       Unterscheidung einem heroischen Autorenverständnis – genauso wie die
       aufgeregten Debatten der Literaturkritik, die sich nach 1989 gerade an
       Christa Wolf stark abgearbeitet hat, allen voran FAZ-Herausgeber [4][Frank
       Schirrmacher.]
       
       Auch für Martus ist in den 90er Jahren die Epoche der
       Schriftsteller*innen als politische Gegeninstanzen und Repräsentanten –
       unbemerkt von solchen Autoren wie Günter Grass, die sich unbeirrt weiter
       einmischen wollten – zu Ende gegangen. Bezeichnend für seinen literarischen
       Zugang ist allerdings, dass er zugleich ein Licht auf die postheroische
       Seite wirft.
       
       Noch bevor er Ingo Schulzes „Simple Storys“ ein Stück weit zum
       Kulminationspunkt der Wendeliteratur erklärt, hat er Thomas Brussigs
       Schelmenroman „Helden wie wir“ als das Buch interpretiert, das die
       offiziellen Deutungsmuster und heroischen Zeiten der Literatur endgültig
       verabschiedet. Mit Brussig gelten nun die Fragen einer postheroischen
       Gesellschaft. Martus: „Wie sollen wir von uns erzählen, wenn wir einmal als
       der Held der Geschichte auftreten und uns im nächsten Moment nur noch
       irgendwie durchwursteln?“
       
       ## Kracht und Aydemir
       
       Mit solchen vorsichtigen Parallelisierungen von Literatur- und
       Gesellschaftsgeschichte pointiert Steffen Martus immer mal wieder seine
       Analysen. Das Aufkommen der Popliteratur bringt er – luzide bei
       [5][Christian Kracht,] etwas handfester bei Benjamin von Stuckrad-Barre –
       mit einer Gesellschaft zusammen, die Jungsein altersmäßig entgrenzte:
       „Popliteratur empfahl Jugendlichkeit als Lebensprinzip und vermittelte
       deswegen den Eindruck einer auf Dauer gestellten Pubertät – mit all ihrer
       Rotzigkeit und Vitalität, die dazugehört.“
       
       Auch das Phänomen der New-Adult-Genres nimmt Martus
       gesellschaftstheoretisch ernst. Er liest es vor dem Hintergrund einer
       kompliziert gewordenen „postnormalen“ Gesellschaft, die ständig
       Entscheidungen von ihren Mitgliedern verlangt. „Die Erweiterung von
       Spielräumen bedeutet einen Zugewinn an Freiheit, steigert aber auch den
       Reflexions- und Entscheidungsdruck“, schreibt Martus. New Adult spiegelt
       das in seiner Sicht. Auf Gefühligkeit allein ist für ihn dieses Genre nicht
       zu bringen. Vielmehr handelt es in seiner Sicht von „Menschen, die die
       Entscheidung treffen müssen, ob sie ihren Gefühlen folgen wollen, sollen
       und können“.
       
       Berührungsängste mit U-Literatur gibt es, wie solche Punkte zeigen, keine.
       Das Buch enthält aber auch viele einleuchtende und teilweise schillernde
       Analysen heroischer Literatur. So erinnert Steffen Martus an Reinhard Jirgl
       und Georg Klein. Er zerlegt ganz unaufgeregt Botho Strauß und Uwe Tellkamp.
       Bei Rainald Goetz analysiert er, wie in den nuller Jahren die Unsicherheit
       in sein Schreibprogramm eingezogen ist; die Welt, so Martus, sei für Goetz
       in der Zeit auf eine so fundamentale Weise kaputt, dass es die
       Oppositionsfähigkeit der Literatur in Frage stelle. Wieder eher auf
       postheroischer Seite stehen die Analysen von Wolfgang Herrndorf, Katrin
       Passig, Juli Zeh und Leif Randt. Die neurechte Literaturpolitik wird
       dargestellt. In Kapiteln wie „Migrationsvordergrund“ und „Ästhetische
       Grenzöffnung“ fließen Analysen der Romane von Fatma Aydemir und Ronya
       Othmann ein.
       
       ## Prinzip der kreativen Zerstörung
       
       Um das Jahr 2010 herum registriert Steffen Martus einen fundamentalen
       Bruch. Das Prinzip der kreativen Zerstörung, neben der Unterscheidung von
       heroisch und postheroisch einer der Leitansätze dieser Darstellung, hatte
       sich bis dahin innerhalb des literarischen Feldes abgespielt, als
       Verdrängungswettbewerb zwischen literarischen Ansätzen. Ab 2010 aber
       betrifft die kreative Zerstörung das literarische Feld selbst. Amazon tritt
       auf und führt den Verkaufsrang ins Herz des literarischen Feldes ein. Im
       Ikea-Katalog fehlen mit einem Mal die Bücher in den abgebildeten
       Billy-Regalen.
       
       Interessant ist das Tastende, mit dem Martus die Auswirkungen der
       Digitalisierung und der Zunahme von Sprecher*innenpositionen
       beschreibt. Er registriert eine schleichende Umschichtung der literarischen
       Autoritätsverhältnisse, nimmt aber auch wahr, dass in den sozialen Medien
       die Aura des Buches mit neuer Energie aufgeladen wird; es sind schließlich
       gedruckte Exemplare, die die Buchtokerinnen vor die Handykamera halten.
       Ebenso differenziert sind seine Darstellungen von [6][identitätspolitischen
       Ansätzen.] Statt Triggerpunkten gibt es hier gelassene Analysen von
       Literatur in einer nicht mehr homogenen Gesellschaft.
       
       Ohne es zu verbrämen, ist für Martus die Unsicherheit auf dem literarischen
       Feld die Rückseite von – allerdings stets gefährdeten – Emanzipations- und
       Gleichheitsgewinnen. „Literarischer Wandel ist Gesellschaftswandel“,
       schreibt er, und weiter: „Die Einbuße literarischer Autorität mag in
       vielerlei Hinsicht bedauerlich sein, aber sie hängt mit anderen
       Entwicklungen zusammen, auf die ‚wir‘ nicht verzichten mögen.“
       
       Vielleicht kommt diese Literaturgeschichte der Gegenwart gerade jetzt zur
       richtigen Zeit. Schließlich kann man derzeit den Eindruck haben, dass es
       hilfreich sein kann, einmal ein Stück weit zurückzutreten und sich mit
       etwas Abstand in der Gegenwart der Literatur umzusehen. Auf jeden Fall
       funktioniert diese Literaturgeschichte als Erinnerung daran, was für
       Reflexionsleistungen in der Literatur, aber auch in der Literaturkritik
       vorhanden waren. Und sie vermittelt zudem den Ansporn, diese Traditionen
       fortzusetzen.
       
       22 Nov 2025
       
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