# taz.de -- Wissenschaftler über Marx und Demokratie: „Marx würde wählen“
       
       > Ein Hamburger Gericht hat kürzlich Karl Marx' Theorien als
       > antidemokratisch bezeichnet. Quatsch, sagt der
       > Gesellschaftswissenschaftler Alex Demirović.
       
 (IMG) Bild: Er ein Antidemokrat? Da wäre Karl Marx wohl die Hutschnur geplatzt, hier während des Chemnitzer Hutfestivals 2025
       
       taz: Alex Demirović, würde Karl Marx heute in Deutschland, zum Beispiel bei
       der Bundestagswahl, wählen? 
       
       Alex Demirović: Ja, ich denke schon. Allerdings hatte Marx keine
       Staatsangehörigkeit, die wurde ihm aberkannt, deswegen konnte er an Wahlen
       gar nicht teilnehmen.
       
       taz: Hätte er keine Skrupel, mit seiner Stimme Zustimmung zum
       kapitalistischen System zu signalisieren? 
       
       Demirović: Er würde sicherlich kritisch prüfen, welche Politik linke
       Parteien verfolgen, vielleicht hätte er Sorge, dass sie im politischen
       Alltag das Ziel einer sozialistischen Transformation aus den Augen
       verlieren. Aber er würde eine linke Partei durchaus wählen, da es ihm darum
       ging, die Bildung eines Veränderungswillens zu unterstützen, der auf die
       Freiheit der Individuen und die Veränderung der Eigentumsverhältnisse
       zielt.
       
       taz: Im August 2025 hat das Hamburger Verwaltungsgericht in einem
       [1][Urteil über die Marxistische Abendschule] geschrieben, Marx’ Theorie
       sei antidemokratisch und Marx-Lesen nicht mit der „freiheitlich
       demokratischen Grundordnung“ vereinbar. Was sagen Sie dazu?
       
       Demirović: Ich finde diesen Rückfall des Gerichts in die 1970er Jahre, die
       Jahre der „Berufsverbote“, befremdlich. Erstmal ist es ein ziemlicher
       [2][Holzhammer gegen einen Bildungsverein]. Dann berührt es die Frage: Wie
       demokratisch ist Marx und die Tradition, die an ihn anschließt?
       
       taz: Und zwar? 
       
       Demirović: Im Urteil wird vieles außer Acht gelassen, etwa dass es ganz
       unterschiedliche Bezugnahmen auf Marx gibt. Zum Beispiel untersuchte der
       [3][Verfassungsrechtler Wolfgang Abendroth] im Nachkriegsdeutschland die
       bundesdeutsche Verfassung in Anknüpfung an Marx, ohne sie zu verwerfen.
       Abendroth übt Kritik nicht aus undemokratischen Gründen, sondern weil er
       mehr Demokratie will.
       
       taz: Abendroth hat sich in den 1950ern mit der Frage beschäftigt, ob ihre
       Verfassung die Bundesrepublik zwingend auf die kapitalistische
       Wirtschaftsordnung festlegt.
       
       Demirović: Abendroth zufolge hat das deutsche Bürgertum mit dem
       Nationalsozialismus die Demokratie durch die Diktatur ersetzt. Deswegen
       verstand Abendroth die Verfassung der BRD als Klassenkompromiss, der nach
       dem Scheitern der Weimarer Republik eine erneute Aushöhlung verhindern
       kann. Demnach bildet die Verfassung nur die Grundlage für eine weitere
       Demokratieentwicklung.
       
       taz: Und was wurde draus? 
       
       Heute wird sie [4][von antidemokratischen Kräften bedroht]. Das sehen wir
       etwa in den USA. Und die kapitalistische Wirklichkeit untergräbt immer
       wieder die Demokratie. Da spielt auch eine Frage der Definition eine Rolle:
       Meint Demokratie demokratisch im Sinne von Verfahren des Parlaments? Oder
       kann man Demokratie auf andere gesellschaftliche Bereiche ausdehnen, etwa
       demokratische Mitentscheidung bei Investitionen, Konsum, Produktion? Man
       kann mit Marx durchaus die Frage stellen, wie Abendroth und andere es
       taten: Entspricht die bundesdeutsche Verfassung ihrem eigenen Anspruch,
       demokratisch zu sein?
       
       taz: Und? 
       
       Demirović: Wir leben unter den Bedingungen, unter denen die
       Gewinninteressen der Unternehmen und Investoren maßgeblich sind für die
       Entscheidungen unserer Gesellschaft. Das weiß jede*r – es wird ja von den
       Regierenden jeden Tag gesagt: Erst muss die Wirtschaft laufen, dann darf
       auch an die Rentner*innen, die Kranken, an die Armen, die Ökologie gedacht
       werden. Im Sinne von Marx kann man sagen: Was wir hier haben, ist eine
       Diktatur der Minderheit, die unsere Gegenwart und Zukunft festlegt.
       
       taz: Das Hamburger Gericht begründet sein Urteil vor allem mit Zitaten aus
       dem Kommunistischen Manifest (1848) von Marx und Engels und dem Begriff
       „Diktatur des Proletariats“. Das klingt nicht gerade demokratisch, oder?
       
       Demirović: Wörtlich sagen Marx und Engels das so nicht. Das Konzept wird
       erst Jahre später nach der Pariser Kommune entwickelt. Sie sprechen im
       Kommunistischen Manifest davon, dass das Proletariat herrschende Klasse
       würde. Das ist eigentlich die Aktualisierung einer Forderung der
       bürgerlichen Revolution in Frankreich von 1789. Da fragte Abbé Sieyès in
       „Was ist der Dritte Stand?“ (1789): Wie kann eine Gesellschaft überleben?
       Nicht durch die wenigen Reichen, sondern nur durch die vielen, die jeden
       Tag die gesellschaftliche Arbeit leisten.
       
       Marx geht es darum, dass alle Menschen über Belange entscheiden sollten,
       die sie betreffen: die Organisation der Arbeit, die Verfügung über das
       Produktionsergebnis, die Gestalt des Produkts, und so weiter. Natürlich
       kann man sagen, dass, wenn viele entscheiden, es nicht unbedingt
       vernünftiger zugeht. Aber wenn viele entscheiden, kommen viele
       Gesichtspunkte rein und alle tragen Verantwortung. Auf heute bezogen hieße
       das zum Beispiel, dass nicht nur Manager entscheiden, was in welchem
       Umfang, in welcher Qualität produziert wird.
       
       taz: Im [5][Kommunistischen Manifest] ist auch von „despotischen Eingriffen
       in das Eigentumsrecht“ die Rede. 
       
       Demirović: Historisch ist das Bürgertum reich geworden durch despotische
       Enteignung von Bauern, durch Kolonialisierung, durch Aneignung fremden
       Arbeitsvermögens. Wir haben heute despotische Eingriffe im Namen des
       Allgemeinwohls. In Lützerath zum Beispiel. Da werden ganze Dörfer
       verlagert, um Braunkohle freizumachen. Das sind keine bloß rechtlichen,
       sondern auch politische Vorgänge – darüber kann demokratisch verhandelt
       werden.
       
       taz: Wer Marx’ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft zustimmt, will
       diese aber doch wirklich verändern. Könnte man auch sagen, dass das
       Hamburger Urteil, wonach Marx gegen die Verfassung verstößt, insofern
       ehrlich ist?
       
       Demirović: Durchaus. Das Gericht sagt offen, dass es die Klassen nicht
       abschaffen will, es bestätigt, dass die liberale Verfassung der
       Bundesrepublik die einer Klassengesellschaft ist. Insofern ist es eine
       ehrliche, liberal-konservative Urteilsbegründung. Indirekt stellt es damit
       das Demokratiegebot und den Bildungsauftrag des Grundgesetzes infrage.
       
       taz: Sie leiten Ihr Buch [6][„Marx als Demokrat“] auch mit Überlegungen zu
       einem Dilemma ein, in dem sich Linke in Zeiten des Rechtsrucks befinden:
       Während wir eine neue, andere Gesellschaft wollen, verteidigen wir den
       Status Quo, also diese Demokratie im Kapitalismus. Was können wir von Marx’
       Überlegungen zu Demokratie für den Umgang mit dieser Ambivalenz lernen? 
       
       Demirović: Wir befinden uns in einer Situation, in der wir etwas, was gut
       ist, bewahren wollen. Menschen haben viele Jahrzehnte für Grundrechte und
       demokratische Verfassungen gekämpft. Wenn neue Generationen sehen, dass
       durch die überlieferten demokratischen Verfahren einige Menschen
       systematisch derart begünstigt werden, dass sie auf Kosten anderer reich
       und reicher werden, dann haben sie das Recht, nach Prinzipien der
       Demokratie die Verfahren zu ändern. Das gehört zur Demokratie, sie verlangt
       danach, weiter entwickelt und demokratisiert zu werden.
       
       17 Oct 2025
       
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